Nachhilfe
Gute Noten sind wichtig. Doch die Ansprüche in den Schulen überfordern viele Schüler - und ihre Eltern. Deshalb holen sie sich immer öfter professionelle Unterstützung.
Als ihr Sohn Lukas mit der zweiten 5 in Mathematik nach Hause kam, machte Karin Wortmann pädagogisch betrachtet alles richtig. Sie schimpfte nicht, sie drohte nicht mit Sanktionen, sie machte aber auch deutlich, dass es so nicht weitergehen könnte. Sie besprach sich mit Lukas' Vater, eine Woche später ging der Junge erstmals in ein Nachhilfe-Institut. Vor allem Studenten, aber auch Akademiker ohne feste Anstellung unterrichten dort am Nachmittag und bis in den Abend hinein - um zu erklären, was Schüler am Vormittag nicht verstanden haben und Lehrer nicht vermitteln konnten.
Nachhilfe ist ein Saisongeschäft. Spätestens mit den Halbjahreszeugnissen kommt es richtig in Schwung. Schlechte Noten in Klassenarbeiten oder gar eine gefährdete Versetzung lassen den Haussegen in vielen Familien schief hängen. Stehen Lernstandserhebungen, eine zentrale Abschlussprüfung oder sogar die Abiturklausuren vor der Tür, sind die Erziehungsberechtigten besonders alarmiert. Was tun?
Die wenigsten Eltern finden jeden Fehler im Übungsaufsatz für die Französischarbeit, den Stoff höherer Gymnasialklassen haben auch Akademiker längst vergessen. Die Erinnerungen an Logarithmus und Winkelberechnung, an Interpretationen verschlüsselter Kafka-Prosa und komplizierte Fremdsprachengrammatik sind verblasst, die Zeit ist knapp und abgesehen davon sind Eltern nicht automatisch gute Pädagogen. Es trägt wenig zum Familienfrieden bei, wenn Mama dauernd mahnt und meckert oder ausgerechnet Papa in Mathe alles besser weiß. Also muss professionelle Hilfe her.
Spezialisierte Firmen und Einzelpersonen bieten Privatstunden an. Mindestens jedes dritte Kind, so schätzt das Deutsche Jugendinstitut in München, macht irgendwann in seiner Schullaufbahn Erfahrungen mit Nachhilfeunterricht. Das Geschäft mit der Zusatzbildung floriert: Bis zu 4.000 Einrichtungen offerieren bundesweit ihre Dienste, die Branche setzt Jahr für Jahr mindestens eine Milliarde Euro um, Tendenz stiegend.
Allein die beiden wichtigsten Unternehmen, Studienkreis und Schülerhilfe, unterrichten 140.000 "Kunden". Der Studienkreis, eine Tochterfirma des Schulbuchverlags Cornelsen, unterhält in Deutschland rund 1.000 Nachhilfeschulen bei etwa 80 Millionen Euro Jahresumsatz. Der wichtigste Konkurrent Schülerhilfe, Teil des US-amerikanischen Weiterbildungskonzerns Educate, macht mit 950 regionalen Standorten rund 65 Millionen Euro Umsatz. Beide Firmen betreiben eigene Filialen, vergeben aber auch Lizenzen im Franchise-System an selbstständige Subunternehmer. Trotz ihrer Größe decken sie zusammen erst 15 Prozent des gesamten Nachhilfemarktes ab.
Denn dieser ist überwiegend "grau" strukturiert: Neben lokalen Instituten dominieren individuelle Angebote von Schülern, Studenten, Rentnern oder Freiberuflern. Ein Teil dieser pädagogischen Dienstleistungen wird jenseits von Steuer und Sozialversicherung erbracht. Entsprechend stark schwanken die Preise: Eine Nachhilfestunde kann je nach Region, Ausbildung des Lehrers und Form des Unterrichts zwischen 8 und 30 Euro kosten. Die etwas größeren und meist teureren Anbieter werben mit gezielter Vermittlung der richtigen Pädagogen und einer genauen Kontrolle des Lernerfolgs. Bei der Cornelsen-Tochter Studienkreis bleiben die Kinder und Jugendlichen im Schnitt zehn bis 14 Monate. Der Unterricht findet sowohl in Kleingruppen als auch in den besonders kostspieligen Einzelsitzungen statt. Daneben gibt es Intensivkurse während der Schulferien und zusätzliche Wiederholungsstunden direkt vor wichtigen Klausuren oder Prüfungen. Erziehungswissenschaftler betonen, dass Nachhilfe nur vorübergehend sein und nicht zum Dauerzustand werden sollte.
Die Stiftung Warentest veröffentlichte im vergangenen Jahr eine Studie zum Thema Nachhilfe. Die Autoren kritisierten, dass manche Anbieter bis zu neun Kinder in eine Lerngruppe stecken. Sie monierten auch hohe Aufnahmegebühren und lange Vertragszeiten ohne Kündigungsmöglichkeit. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass die Scientology-Sekte Nachhilfeschulen gegründet hat, um jugendliche Mitglieder anzuwerben.
Es gebe reichlich schwarze Schafe, "eine staatliche Aufsicht findet kaum statt", lautete das Fazit der Warentester. Der Interessenverband Nachhilfeschulen (Ina) hat mittlerweile ein Gütesiegel eingeführt, das Mindeststandards setzt für Firmen und Institute, die beitreten wollen. Der Großanbieter Studienkreis will langfristig alle seine Schulen vom TÜV prüfen lassen. Gearbeitet wird dort in Gruppen mit maximal vier Kindern, bei der Schülerhilfe sind es drei. Die Ursachen für den Höhenflug der kommerziellen Bildungswirtschaft sehen Experten in steigenden Anforderungen - etwa durch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre. "Es ist offensichtlich, dass es in der Schule Lücken gibt, die Eltern privat stopfen müssen", sagt Ilse Führer-Lehner, Referentin bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Bildung müsse "ein öffentliches Gut" bleiben, denn Nachhilfe könnten sich "nur die leisten, die Geld haben".
Der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann interpretiert den Boom der Nachhilfe gar als Misstrauensvotum der Eltern gegenüber den staatlichen Bildungseinrichtungen. Überforderte Lehrer, zu große Klassen, daheim zu viel Fernsehen und endloses Spielen am Computer - es gibt viele Gründe, warum Kinder im Unterricht versagen. Mitverantwortlich machen Fachleute das deutsche Halbtagssystem, das mit seiner unzureichenden Hausaufgabenbetreuung die Vertiefung des Stoffes an die Eltern delegiert.
Denen aber fehlt entweder die Zeit oder die Qualifikation, manchmal auch beides, um ihren Kindern bei der Nachbereitung wirklich helfen zu können.
Unter familiendynamischen Gesichtspunkten sind Erziehungsberechtigte ohnehin nicht die idealen Zusatzlehrer, in ihrer doppelten Rolle als Tröster und Trainer sitzen sie zwischen den Stühlen. Deshalb überlassen sie es gerne einer professionellen Autorität von außen, die Lerndefizite auszugleichen. Diese zu engagieren, überfordert jedoch so manche Haushaltskasse. Wer gut verdiene, spitzt Wissenschaftler Hurrelmann zu, verfüge über das Privileg, "sich einen Bildungsvorteil kaufen zu können".