Uranbergbau
Lebensnahes und harte Fakten aus der sozialistischen Planwirtschaft
Aber das heulende Elend packte einen, wenn man nichts hat als seine vier Barackenwände und seine acht Stunden mit der Schaufel am Stoß, der Stumpfsinn kriecht in die Gehirnwindungen und füllt den Schädel mit Blei, bis er platzt, bis man irgendwas zerdrischt oder zur Flasche greift oder aufbrüllt wie ein Stier. Schachtkoller nannte man das. Als ob es nur der Schacht wäre! Es war das Elend dieses verpfuschten Lebens, dieses Lebens ohne Aussicht (...)" So impulsiv, so lebensnah, so realistisch wie Werner Bräunig hat 1963 kein anderer DDR-Autor den Alltag und die Sorgen malochender Kumpel im Uranbergbau in Worte gefasst.
Für diesen wahrhaft "sozialistischen Realismus" ließen ihn Ulbricht und seine kulturkonservativen Parteigenossen 1965 auf dem "Kahlschlagplenum" büßen. Das sozialistische Lebensgefühl sah nach Meinung der SED-Kader heroischer aus und musste künstlerisch auch so gestaltet werden. Kumpels, die saufen, stänkern, sich schlagen und junge Mädchen schwängern, gab es in der von Bräunig literarisch betrachteten Aufbauphase der Wismut AG angeblich nicht. Sein aus eigenen Erfahrungen bei Wismut gespeistes Lebenswerk und viele andere kritische, keineswegs sozialismusfeindliche Bücher und Filme verschwanden fortan in den heimischen Schubladen und staatlichen "Giftschränken".
Erst 18 Jahre nach der Maueröffnung und gut 40 Jahre nach dem angefeindeten Vorabdruck eines Kapitels ist der Roman jetzt in seiner über 600-seitigen Länge erschienen. Und man gut tut daran, diese zwischen sozialistischer Hoffnung und Hoffnungslosigkeit pendelnde Prosa auf sich wirken zu lassen, bevor man sich den harten historischen Fakten des Uranbergbaus in der DDR nähert. Die hat nämlich der Berliner Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch in seiner "populären Geschichte" der Wismut AG aus Archiven und Studien zu Tage gefördert.
In seiner sorgfältig recherchierten Darstellung des einst drittgrößten Uranproduzenten in der Welt geht es weitaus undramatischer und auch lebensferner zu als bei Bräunig. Wie in jeder soliden Wirtschaftsgeschichte regieren auch hier Zahlen, Statistiken und Fachbegriffe die Wissenschaftsprosa. Der ausgewiesene Experte weiß sie einleuchtend auszulegen und auch eindrücklich zu beschreiben, wie Anfang des 20. Jahrhunderts die "Atomeuphorie" im Erzgebirge mit "heilsamen" Radiumkuren, Radiumbier oder Radiumcremes ausbrach und wie man Ende der 40er-Jahre die radioaktiven Potenzen der Region entdeckte und systematisch ausbeutete.
Besonderes viel Raum und Energie verwendet Karlsch auf die deutsch-sowjetischen Interessengegensätze bei der Leitung und Nutzung des seit 1954 gemeinschaftlich geführten Reparationsunternehmens. Während die UdSSR ebenso günstig wie schnell das atombombenwichtige "Klondike des Erzgebirges" plünderte und die Preise drückte, war der DDR alsbald an inländischer Verwertung und dem devisenwinkenden Rohstoffhandel gelegen.
All diese Konflikte und ihre letztlich katastrophalen Auswirkungen auf die sozialistische Planwirtschaft und die Unternehmensentwicklung entfaltet Rainer Karlsch in seinem thematisch breitgefächerten Buch. Auch der relativ sorglose Umgang mit radioaktiven Abraumhalden, den strahlungsbedingten Berufskrankheiten oder die rigide Disziplinierung der relativ gut bezahlten Belegschaft kommen zur Sprache. Keine Frage, hier erfährt man Profundes über die ökonomische, politische wie gesellschaftliche Bedeutung des ehemals größten Arbeitgebers der DDR und die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Eine "populäre", durchweg allgemeinverständliche, auch die Lebenswirklichkeit erfassende Geschichte bietet Karlsch nicht. Der Fachhistoriker verbeißt sich allzu oft in technische, betriebs- und volkswirtschaftliche Details. Vom "Pulpeneinsatz", "Altlastenkataster" und den relativ komplexen "Uranpreisverhandlungen" ist freilich zu Recht, aber auch recht umständlich und ausführlich die Rede.
Das ist zweifelsohne informativ, aber die Zahlen und Fakten bleiben ohne die Stimmen und Erlebnisse der Bergarbeiter beim Leser kaum haften. Tabellen zu den Lebensmittelrationen, Angaben zur Höhe der "Erzprämien", Statistiken über Grubenunfälle, Krebserkrankungen oder die Anzahl der "Wismut-Klubhäuser" sagen nur wenig über den Alltag in dieser nach außen vollständig abgeschirmten Arbeits- und Lebenswelt aus. Eine "Sozial- und Kulturgeschichte der Uranbergleute" steht - wie Karlsch betont - noch aus.
Bräunigs realitätsnaher Gesellschaftsroman und Karlschs faktengesättigtes Unternehmensporträt liefern für ein solches Projekt genug Anregungen. Drum sei nicht nur allen ehemaligen Uranbergleuten, sondern auch allen Sachbuchautoren die einst von Bräunig ausgegebene Parole wieder ans Herz gelegt: Greif zur Feder, Kumpel!
Rummelplatz. Roman.
Aufbau-Verlag, Berlin 2007; 768 S., 24,90 ¤
Uran für Moskau. Die Wismut. Eine populäre Geschichte.
Ch. Links Verlag, Berlin 2007; 276 S., 14,90 ¤