137. Sitzung
Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Tag und gute Beratungen.
Wir treten sofort in unsere Tagesordnung ein.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
21. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Willi Brase, Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Perspektiven schaffen - Angebot und Struktur der beruflichen Bildung verbessern
- Drucksachen 16/5730, 16/5732, 16/7754 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Willi Brase
Patrick Meinhardt
Cornelia Hirsch
Priska Hinz (Herborn)
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aufstieg durch Bildung - Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung
- Drucksache 16/7750 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung
- Drucksache 16/7733 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das stößt offenkundig auf große Zustimmung. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat in seiner Sitzung am 9. Januar die Qualifizierungsinitiative ?Aufstieg durch Bildung? verabschiedet. Damit sind folgende Ziele verbunden: erstens die Bildungschancen zu stärken, zweitens die Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen, drittens die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung zu fördern, viertens jedem Jugendlichen - so haben wir es auch im Koalitionsvertrag vereinbart - eine Chance auf Schulabschluss und qualifizierte Ausbildung zu geben und schließlich fünftens mit den Ländern ein Maßnahmenbündel zu vereinbaren, das im Herbst 2008 beim Treffen der Regierungschefs von Bund und Ländern verabschiedet werden wird.
Mit der Qualifizierungsinitiative, die in zwei Stufen durchgeführt wird, sollen alle Akteure an einen Tisch gebracht werden. Die Initiative der beiden Regierungsfraktionen ?Jugend - Ausbildung und Arbeit? vom letzten Sommer wurde aufgegriffen und in gemeinsamer Verantwortung des Arbeits- und des Bildungsministeriums in konkrete Maßnahmen umgesetzt.
Dieses Maßnahmenbündel, das vom Bund verantwortet wird, wird mit den Maßnahmen der Länder zusammengebracht und ist ein wichtiges, ja zentrales Reformwerk für die zweite Hälfte der Legislaturperiode unter der Überschrift ?Aufstieg durch Bildung?. Denn wir wollen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu Abschluss und Qualifikation kommt.
Im Einzelnen geht es bei der Initiative um Folgendes: Die Bildungschancen zu stärken heißt, vermehrt in die frühkindliche Bildung zu investieren und sie zu profilieren. Deshalb ist die flächendeckende Weiterbildungsinitiative für Erzieherinnen und Erzieher vorgesehen. Im ersten Durchgang sollen 80 000 der insgesamt 230 000 Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland weitergebildet werden, und zwar in gemeinsamer Verantwortung des Familien- und des Bildungsministeriums, mit dem Deutschen Jugendinstitut und anderen Partnern.
Es ist viel in Bewegung im Hinblick auf die Qualifikation derer, die in Kindertagesstätten arbeiten. Das ist wichtig, um Bildung in den frühen Jahren zu stärken.
Dazu gehört die bessere organisatorische und konzeptionelle Verbindung zwischen Grundschulen und Kindertagesstätten. Wir werden die entsprechenden Bildungshäuser in mehreren Bundesländern begleiten und fördern. Hier entsteht künftig die erste gemeinsame Bildungsphase des Bildungssystems in Deutschland.
Die Initiative ?Haus der kleinen Forscher? wird ausgebaut. Bis 2010 sollen von dieser Initiative 10 000 Kindertagesstätten erreicht werden. Wer will, dass sich mehr Jugendliche in Deutschland für Naturwissenschaften und Technik entscheiden, muss früh ansetzen und dafür sorgen, dass der Zugang zu Naturphänomenen und allem, was in dieser Phase möglich ist, offen ist.
Bildungschancen stärken heißt Sorge dafür tragen, dass jeder einen Schulabschluss macht. Die Kultusministerkonferenz spricht von einer Halbierung der Zahl der Schulabbrecher. Wir haben bereits einen leichten Rückgang in den letzten Jahren erreicht. Nun ist ein Schub notwendig. Dazu gibt es eine Reihe von Maßnahmen: flächendeckende Praxisklassen, Einrichtung von Ausbildungspaten, insgesamt 73 Projekte für rund 1 500 sogenannte harte Schulverweigerer, stärkere Zusammenarbeit, Erschließung des Potenzials überbetrieblicher Berufsbildungsstätten für die Arbeit in den Abgangsklassen vor allen Dingen an Hauptschulen. Ich finde, es ist ein bildungspolitisch, gesellschaftspolitisch und jugendpolitisch zentrales Ziel, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu einem Schulabschluss kommt.
Über die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung wird in Deutschland seit Langem gesprochen. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig: Die berufliche Bildung in Deutschland, die duale Ausbildung, die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Schulen, ist ein Flaggschiff im deutschen Bildungssystem und einer der zentralen Gründe, warum die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, verglichen mit internationalen Werten, deutlich niedriger ist. Das System der dualen Ausbildung muss gestärkt werden. Gleichwertigkeit muss erreicht werden. Wir wollen uns vor allem um diejenigen kümmern, die in den letzten Jahren keine Chance bekommen haben. So ist es im Innovationskreis ?Berufliche Bildung? beschlossen worden. Dort haben wir - genauso wie im Antrag der Regierungsfraktionen - gesagt, dass diese Gruppe in den nächsten Jahren eine zweite Chance braucht. Dafür werden Ausbildungsplätze geschaffen. Die Anregungen der Fraktionen werden aufgegriffen. Herr Kollege Scholz wird dazu gleich mehr sagen. Ich bin davon überzeugt, dass das eine große Chance ist, in den nächsten zwei, drei Jahren die Probleme, die sich in den letzten Jahren angehäuft haben, zielgenau anzugehen. Jeder braucht berufliche Qualifikation. Es kann nicht sein, dass 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in Deutschland keinen Berufsabschluss haben.
Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben die Kraft, dieses Thema aufzugreifen.
Dazu gehört die Stärkung sozialpädagogischer Ausbildungshilfen für Unternehmen, die eine zweite Chance geben. Dazu gehören die Ausbildungsbausteine für diejenigen, die abgebrochen haben und wieder in eine neue Ausbildung einsteigen werden. Um Gleichwertigkeit zu schaffen, sind aber auch finanzielle Anreize notwendig. Deshalb führen wir ein Aufstiegsstipendium für Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Bildung ein, die ein Studium absolvieren wollen. Das ist ein ganz neues Instrument mit einer elternunabhängigen Förderung. Wir sagen begabten jungen Leuten aus der beruflichen Bildung: Ja, wir unterstützen den Weg ins Studium.
Des Weiteren geht es um die strukturelle Weiterentwicklung des Meister-BAföG. Eine 10-prozentige Erhöhung ist erfolgt. Nun geht es darum, mehr Berufe und mehr Personen zu fördern, Familien stärker zu unterstützen, die Fortbildungsmöglichkeiten für Migranten zu verbessern, Impulse für mehr Existenzgründungen und zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze zu geben. 1996 hat Jürgen Rüttgers das Meister-BAföG eingeführt.
Es ist ein wichtiges Signal für die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung. Ich freue mich - ich habe das gestern in einer Pressemitteilung gelesen -, dass es auch innerhalb der Fraktionen - die SPD-Fraktion hat Eckdaten vorgelegt - einen großen Konsens darüber gibt, das Meister-BAföG strukturell weiterzuentwickeln, den Kreis derjenigen, die anspruchsberechtigt sind, zu erweitern.
Meine Damen und Herren, des Weiteren werden wir einzelne Maßnahmen auf den Weg bringen, die genau an den Stellen ansetzen, die heute immer wieder analysiert werden: Stichwort Naturwissenschaften, Interesse für Technik. Ich habe über die frühkindliche Bildung gesprochen. Die nächste wichtige Schnittstelle ist die Schnittstelle zwischen Schule und Studium. Deshalb ist es erforderlich, die Möglichkeit eines Freiwilligen Technischen Jahres in der Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn einzuführen.
In diesem Zusammenhang erwähne ich auch den nationalen Pakt zur Gewinnung von mehr jungen Frauen für natur- und ingenieurwissenschaftliche Berufe, an denen sich rund 30 Unternehmen und große Verbände beteiligen werden, aber auch wichtige Maßnahmen für die Verbesserung der Chancen von Frauen im Bereich der Hochschulen. Als Stichworte nenne ich hier das Professorinnenprogramm sowie mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Programm zur Qualifizierung arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker, das gezielt für Berufsrückkehrerinnen geöffnet werden soll.
Das Stärken von Bildungschancen bezieht sich auch auf das Lernen im Lebenslauf. Der ?Innovationskreis Weiterbildung? hat gute Impulse erarbeitet, übrigens unter Beteiligung der Länder. Wir werden analog zum Ausbildungspakt eine Weiterbildungsallianz begründen. Der Ausbildungspakt hat in den letzten Jahren viel Bewegung im Bereich der Ausbildung geschaffen. So soll es auch im Bereich der Weiterbildung sein. Konkrete Beiträge aller Partner werden mit Ländern, Kommunen - es gibt sehr innovative Ansätze in den Kommunen - und den Sozialpartnern vereinbart werden. Im Rahmen der Vertiefung des Konzepts ?Lernende Regionen? soll die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland von 43 auf 50 Prozent gesteigert werden.
Noch in diesem Jahr werden wir mit den großen Stiftungen eine Initiative in Deutschland starten - das Einverständnis aller Beteiligten liegt vor -, um regionale Weiterbildungsstrukturen aufzubauen, letztlich also Sorge dafür zu tragen, dass im Bildungssystem das geschieht, was sich im Wissenschaftssystem schon anbahnt: Alle Bildungseinrichtungen müssen sich die Frage stellen, welchen Beitrag sie zu lebenslanger Bildung und zu lebenslangem Lernen im gesamten System leisten können.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass es uns mit diesem Maßnahmenbündel, das schon jetzt auch andere Akteure einschließt, gelingen wird, an wichtigen Schnittstellen im Bildungssystem - in den frühen Jahren mit Blick auf die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Segmente des Bildungssystems, später an der Schnittstelle von beruflicher zu akademischer Bildung sowie von Schule und Studium - Veränderungen herbeizuführen, die zu einer deutlichen Verbesserung des Bildungssystems und vor allem - das ist ein zentrales Anliegen - zu einer deutlichen Verbesserung der Bildungschancen für Jugendliche in Deutschland beitragen.
Ich danke den anderen Häusern für die gute Zusammenarbeit und den Fraktionen für ihre Impulse in dem Antrag aus dem Juni 2007.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich danke der Bundesministerin für die Einhaltung der Redezeit, was bei Mitgliedern der Bundesregierung nicht immer der Fall ist.
Deswegen kann ich ohne unnötigen Verzug im Rahmen der vereinbarten Rednerliste dem Kollegen Uwe Barth für die FDP-Fraktion das Wort erteilen.
Uwe Barth (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung ist kaum beschlossen, aber schon im Netz verfügbar. Wie man hört, ist auch die Hochglanzbroschüre bereits auf dem Weg.
Ich kann direkt vor mir sehen, wie die Menschen zu Hause am PC und am Küchentisch sitzen und das Werk mit Spannung lesen.
Da lesen sie dann Sätze wie die folgenden: Exzellenz in der Bildung ist ein Auftrag aus unserer Geschichte und Tradition, der in die Zukunft übersetzt werden muss. Bildung und Qualifizierung sind der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes und aller Bürgerinnen und Bürger.
Das sind Sätze, die nun wahrlich keine neuen Erkenntnisse darstellen und die sich in so ziemlich jedem Parteiprogramm so oder so ähnlich finden lassen.
Den mit der Offensive angestrebten Erkenntnis- und Wissensgewinn, Frau Ministerin, wünsche ich vor allem dem Erfinder des Wortes ?Wissensbeschleunigung?. Dieses Wort enthüllt für mich geradezu beispielhaft die Sinnleere und vor allem den plakativen Charakter der ganzen Veranstaltung. Allein über dieses Wort aus dem für Bildung zuständigen Ministerium müsste man, wenn mehr Zeit wäre, länger reden. Die Zeit habe ich leider nicht. ?Wissensbeschleunigung?!
Vor allem inhaltlich enttäuscht die Initiative. Die Ansätze und Strategien sind für die Lösung der beschriebenen Probleme weitgehend ungeeignet. In dem Ziel, unsere Bildungseinrichtungen wieder zur Weltspitze zu führen und damit unseren Kindern Chancen im globalen Wettbewerb zu eröffnen, sind wir uns völlig einig. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. In einer Umfrage des DIHK aus dem Jahr 2006 beklagte jedes zweite Unternehmen vor allem die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger. 12 Prozent der Befragten gaben an, dass sie nicht alle Ausbildungsplätze, die zur Verfügung stehen, besetzen können, weil die Schulabgänger unzureichend ausgebildet sind. Gestern Abend hat der Präsident des Branchenverbunds der ostdeutschen Bauindustrie gesagt, dass 22,5 Prozent der Bewerber nicht hinreichend gut lesen oder rechnen können. Ich kann mir diese Zahl wirklich nicht vorstellen, aber der Mann macht einen seriösen Eindruck, und ich habe keinen Anlass, anzunehmen, dass er sich die Zahlen nur ausgedacht hat.
Zur Lösung des Grundsatzproblems ist das, was Sie uns hier liefern, so brauchbar wie die Zahnspange für Rentner: wohl gut gemeint, aber zu spät angesetzt und deshalb oft ins Leere gehend.
Die FDP hat mit ihrem eigenen Antrag ?Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung? ihre Vorschläge hier eingebracht. Auf der Suche nach Lösungsansätzen haben wir uns mit Akteuren auseinander- und vor allem zusammengesetzt. Herausgekommen ist ein gemeinsames Positionspapier mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, welches sich gerade den Defiziten im Umfeld der beruflichen Bildung widmet. Wir haben Ansätze formuliert, die den Bereich der vorschulischen und der schulischen Bildung umfassen, eine Neuorientierung auch im Bereich der dualen Berufsausbildung einschließen und schließlich auch die Hochschule und das lebenslange Lernen mit einbeziehen. Teilweise gibt es dabei durchaus Parallelen, aber auch Abweichungen und neue Ansätze.
Wenn es darum geht, junge Menschen vor Schulversagen, vor mangelnder Ausbildungsreife und damit vor Perspektivlosigkeit zu schützen, dann ist ein Professorinnenprogramm wenig hilfreich. Auch Fortbildungsprogramme für Erzieherinnen und Erzieher gibt es hinreichend viele. Das Problem ist, dass aufgrund der engen Personaldecke an den Kindertagesstätten Erzieherinnen und Erzieher viel zu selten in der Lage sind, von den angebotenen Programmen Gebrauch zu machen. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufstiegsstipendium für Berufsabsolventen. Natürlich müssen mehr Absolventinnen und Absolventen für ein Studium gewonnen werden. Doch scheitert dies in aller Regel nicht an den finanziellen oder rechtlichen Hürden eines Studiums. Alleine die begrenzten Studienplatzkapazitäten stehen diesem Ziel im Wege. Gerade deswegen müssen wir im Ausschuss gemeinsam bei den Verhandlungen zum Hochschulpakt II darauf drängen, dessen Volumen zu erhöhen, um hier etwas bewirken zu können.
Frau Ministerin, zu Ihrem ursprünglichen Vorschlag, einen Ausbildungsbonus einzuführen, hatten sich Arbeitgeberverband und Handwerksvereinigung zu Wort gemeldet und vor Fehlsteuerungen und Mitnahmeeffekten gewarnt. Hier haben Sie tatsächlich reagiert und das gut funktionierende Modell eines im Übrigen FDP-geführten Ministeriums aus Baden-Württemberg nahezu eins zu eins übernommen. Das ist in Ordnung.
In Baden-Württemberg und Niedersachsen funktioniert der Ausbildungsplatzzuschuss gut, und er ist ein Erfolgsmodell. Wir warten mit Spannung ab und hoffen gemeinsam, dass möglichst viele der immerhin 400 000 vom Ausbildungsmarkt derzeit ausgeschlossenen Altbewerberinnen und Altbewerber von dieser Maßnahme profitieren können. Ob letztlich die erhofften 100 000 Ausbildungsplätze entstehen, bleibt abzuwarten. Ich muss sagen, dass angesichts der aus meiner Sicht etwas unsystematischen und praxisfernen Ausgestaltung des Paketes durchaus Skepsis angebracht ist.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz.
Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung, Ausbildung und Qualifizierung sind Schlüsselfragen im Hinblick auf die Chancen jedes Einzelnen und die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Deshalb ist die Qualifizierungsinitiative zu Recht ein ganz zentrales Vorhaben der Großen Koalition. Ich will hier etwas zu den arbeitsmarktpolitischen Projekten dieser Initiative sagen. Dabei stehen die Ausbildungs- und Berufschancen junger Menschen natürlich im Mittelpunkt.
Unsere Marktwirtschaft lebt davon, dass derjenige, der einen Beruf lernen will, das auch kann. Deshalb ist es unsere zentrale Aufgabe, dass wir dieses Versprechen erfüllen.
Wir müssen jungen Menschen helfen, denen eine fehlende Ausbildung zum Stolperstein wird, obwohl sie mit aller Macht eine Ausbildung wollen und sich intensiv darum bemühen. Wir müssen auch diejenigen wieder auf das Gleis Richtung Arbeitswelt setzen, die eine schlechte Schulbildung haben und denen der Wert der Ausbildung vielleicht erst vermittelt werden muss. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass es Jahr für Jahr ganze Hauptschulklassen gibt, deren Schüler allesamt keine Lehrstelle finden. Wir sind schon daran gewöhnt, dass solche Hauptschulklassen am Ende der Ausbildungssaison in den Zeitungen abgebildet sind. Ich glaube, dass wir uns das nicht nur anschauen sollten; vielmehr muss es für uns ein Ansporn zum Handeln sein.
Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass viele Jugendliche beim ersten Kontakt mit dem Berufsleben nur Ablehnung erfahren. Man muss sich auch die Reaktionen der jungen Leute vorstellen, wenn einige abstrakt davon reden, dass sie selbst nicht ausbildungsgeeignet seien. Alle brauchen eine Chance, wenn sie sich anstrengen. Ich wiederhole: alle, auch schlechte Schüler und auch solche, die keinen Abschluss erreicht haben.
Wir wollen deshalb denen eine neue Perspektive geben, die schon lange einen Ausbildungsplatz suchen. Wir werden die Berufswahlvorbereitung in den letzten Jahren der Schule und den Übergang in Ausbildung besser gestalten. Außerdem werden wir die Förderung und Begleitung während der Ausbildung verbessern. Den Anstoß dazu haben - Ehre, wem Ehre gebührt - im Sommer die Koalitionsfraktionen gegeben.
Klar: Betriebliche Berufsausbildung ist in allererster Linie eine Aufgabe der Unternehmen. Sie müssen sich kümmern, übrigens schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Denn indem Unternehmen jungen Menschen Chancen eröffnen und die Fachkräfte von morgen ausbilden, verbessern sie auch ihre eigenen Chancen im globalen Wettbewerb und die unserer ganzen Volkswirtschaft.
Es darf daher in erster Linie nicht darum gehen, ob sich Ausbildung betriebswirtschaftlich rechnet. Das tut sie nicht immer. Trotzdem muss sie stattfinden.
Sie ist in jedem Falle volkswirtschaftlich der beste Weg, Fachkräftemangel zu vermeiden. Sie entscheidet mit darüber, ob wir, als Nation, unsere volkswirtschaftlichen Potenziale nutzen können. Wer nicht ausbildet, soll über Fachkräftemangel nicht klagen.
Die Politik hilft den Unternehmen dabei, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Wir haben gemeinsam mit den Unternehmensverbänden den Ausbildungspakt ins Leben gerufen, der jährlich 60 000 neue Ausbildungsplätze bringen soll.
Wir unterstützen jährlich 40 000 Plätze für betriebliche Einstiegsqualifizierungen, aus denen zwei Drittel der Teilnehmer in einen betrieblichen Ausbildungsplatz wechseln - ein schöner Erfolg. Wir fördern Ausbildung und Qualifizierung mit den Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Der Erfolg ist sichtbar. Der Ausbildungsmarkt entwickelt sich positiv. Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge stieg 2007 um 8,6 Prozent gegenüber 2006. 625 900 Ausbildungsverträge wurden zum Stichtag 30. September 2007 neu für das Ausbildungsjahr 2007/2008 abgeschlossen. Allein im Ausbildungspakt, von dem schon die Rede war, wurden nach vorläufigen Zahlen 79 200 Ausbildungsverträge im Jahr 2007 neu eingeworben.
Aber es gibt einen sehr großen Handlungsbedarf. Wir brauchen noch mehr Ausbildungsplätze in Betrieben, bei Freiberuflern und in Verwaltungen, um allen Ausbildungswilligen und -fähigen ein Angebot im dualen System zu machen. Ganz besonders müssen wir uns um diejenigen kümmern, die seit Längerem erfolglos nach einem Ausbildungsplatz suchen.
Vor acht Jahren suchten rund 40 Prozent der gemeldeten Bewerber seit Längerem erfolglos eine Lehrstelle. Heute sind es bereits über 52 Prozent. Diese Bugwelle ist bei den Berufsberatern beinahe schon sprichwörtlich. Viele junge Menschen stecken in Ersatzmaßnahmen. Diese sind, wie die Einstiegsqualifizierung, hilfreich, aber sie sind eben nur ein Ersatz und nicht das, was die jungen Menschen eigentlich anstreben.
Ich will dazu ausdrücklich fragen: Was soll eigentlich mit jungen Leuten geschehen, die die Schule abgeschlossen haben und nach einem Ausbildungsplatz suchen? Es finden wichtige und gute Dinge für sie statt, aber nicht das, was sie eigentlich anstreben, nämlich - um es mit einem klassischen Wort zu sagen - endlich eine Lehre. Das müssen wir unsere jungen Leute besser regeln.
Das Kernstück des Konzepts ?Jugend - Ausbildung und Arbeit? ist deshalb ein Ausbildungsbonus, mit dem wir bis 2010 rund 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber schaffen wollen - gerade weil die Altbewerberproblematik so groß ist, wie ich sie eben beschrieben habe. Darum haben wir auch großzügige Kriterien ausgesucht. Der Ausbildungsbonus richtet sich an Altbewerber, die maximal über einen Realschulabschluss verfügen. Das Problem mit den Hauptschülern ist bekannt; ich habe es schon beschrieben. Aber die Schwierigkeit, eine Ausbildungsstelle zu finden, betrifft immer mehr auch Realschüler. Wir haben uns bewusst entschieden, nicht zu sagen: Wir nehmen den Notendurchschnitt: 3,5; wenn jemand schlechter ist, bekommt das Unternehmen eine Förderung, wenn jemand besser ist, soll es sie nicht bekommen. Es würde auch absurde Situationen in den Abgangsklassen der Schulen schaffen, wenn dann eventuell die Schüler mit ihren Lehrern darüber verhandeln, ob sie nicht doch einen etwas schlechteren Durchschnitt bekommen können.
Darum haben wir beschlossen, die ganze Gruppe einzubeziehen und genügend andere Kriterien zu finden, um Missbrauch und Mitnahmeeffekte zu verhindern. Er soll sich an diejenigen richten, die bereits seit über zwei Jahren vergeblich auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind, und natürlich an diejenigen, die individuell benachteiligt sind - ein Kriterium, das die Arbeitsvermittlung schon lange kennt und das hier immer weiter eine Rolle spielen muss.
Wenn ein Arbeitgeber für einen jungen Menschen aus dieser Gruppe einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schafft - dadurch ist die Mitnahme von Leistungen für etwas, das man sowieso geplant hat, weitgehend ausgeschlossen -, dann bekommt er dafür einen Bonus von 4 000, 5 000 oder 6 000 Euro. Wir haben uns dabei an der Hälfte der Ausbildungsvergütung für ein Jahr orientiert. Es soll eine plakative Summe sein, damit der Aufruf an die Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Land, zusätzliche Ausbildungsplätze für junge Leute zu schaffen, die es schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, verstanden wird und damit er auch Wirkung hat. Ich bin froh, dass das jetzt möglich geworden ist.
Wir unterstützen also diejenigen, die es in der Vergangenheit besonders schwer hatten, einen Ausbildungsplatz zu finden.
Aber der Ausbildungsbonus ist nicht das Einzige, was wir planen. Wir werden die Möglichkeiten der ausbildungsbegleitenden Hilfen, etwa die sozialpädagogische Unterstützung, ausbauen. Wir wollen so Chancen für lernbeeinträchtigte und benachteiligte Jugendliche auf einen Berufsabschluss schaffen. Wir werden die erfolgreichen Patenmodelle zum Anlass nehmen, den Einsatz von Berufseinstiegsbegleitern besser und systematischer zu machen. So wollen wir erproben, wie leistungsschwächere Schüler beim Übergang in eine Ausbildung über einen längeren Zeitraum individuell begleitet werden können. Beides - sozialpädagogische Begleitung und Einsatz von Paten - hilft einerseits den Betrieben, mit jungen Leuten klarzukommen, die etwas weniger gut auf den Betriebsalltag eingestellt sind, und andererseits den jungen Auszubildenden, sich in der nicht ganz dem Schulalltag entsprechenden Realität des Arbeitslebens zurechtzufinden.
Das ist ein Stück Realität, das wir damit zur Kenntnis nehmen.
Jenseits all der Diskussionen, die notwendig sind, versteht jeder von uns den Ausbilder, den Meister oder den Chef, der sagt: Ich würde ja gern, aber wenn ich mir all das anschaue, was ich da noch nebenbei machen muss, komme ich zu dem Schluss, dass mich das überfordert. - Diese Leute wollen wir unterstützen und ihnen sagen: Traut euch! Wir helfen euch, damit das auch klappt. - Das ist ein gutes Bündnis, das Gesellschaft und Betriebe schließen können, um den jungen Leuten zu helfen. Wir sollten diesen Versuch weiter ausbauen.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch die Berufsberatung mit zusätzlichen Berufsberatern und Vermittlern weiter verstärken, weil wir es natürlich schaffen müssen, dass die jungen Leute und die Ausbildungsplätze zueinanderkommen.
Letztlich geht es auch darum - meine Kollegin Schavan hat darüber schon gesprochen -, die Ausbildungsförderung auch im Hinblick auf diejenigen ein bisschen zu verbessern, die aus der beruflichen Situation heraus für die Ausbildung zuständig sind.
Alles zusammen hilft den jungen Leuten. Es hilft unserer Gesellschaft. Es ist ein Stück vorsorgender Sozialstaat und hat viel mit Zukunft zu tun. Hoffnung ist das Wichtigste im Leben des einzelnen Menschen und einer Gesellschaft. Daran zu bauen und mitzuhelfen, dass die Hoffnungen vieler Menschen erfüllt werden können, ist eine wichtige Aufgabe.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich heißt es ja: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung. Bei Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, ist dies offensichtlich nicht der Fall.
Auf der einen Seite kann man zwar daran, dass Sie die Qualifizierungsinitiative gestartet haben, feststellen, dass bei Ihnen durchaus eine gewisse Einsicht vorhanden ist. Schließlich beschreiben Sie da, dass Sie die Sorge haben, dass es zu einem Fachkräftemangel kommt. Sie schreiben sogar ganz konkret, dass schon jetzt gut ausgebildete Menschen fehlen. Anders und vielleicht auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer etwas deutlicher ausgedrückt: Man kann das ganz klar als Einsicht werten, dass Ihre Bildungspolitik der letzten Jahre offensichtlich so miserabel war, dass das Bildungssystem komplett gegen die Wand gefahren wurde und dass Sie jetzt die Konsequenzen spüren.
Wenn Einsicht bis zu einem gewissen Grad da ist, muss man sich jetzt aber auf der anderen Seite überlegen, wie es um die Besserung bestellt ist. Eine Besserung ist nach wie vor nicht eingetreten. Das, was Sie in der Qualifizierungsinitiative zusammengeschrieben haben, stellt nichts weiter als ein mutloses Weiter-so dar, gepaart mit minimalen Trippelschritten und zahlreichen Ankündigungen, denen, wie wir aus den Sonntagsreden der Bundesregierung wissen, jegliche Grundlage und jegliche Verbindlichkeit fehlen.
Die Linke sagt Nein zu so einer Qualifizierungsinitiative. Wir fordern eine Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen auch wirklich verdient. Das würde zuerst einmal bedeuten, dass man die Qualifizierungsinitiative, die Sie hier vorgelegt haben, in drei Bereichen auf eine vollkommen andere Grundlage stellt.
Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Ersten: auf eine andere finanzielle Grundlage. Frau Ministerin Schavan, Sie haben in der Presse davon gesprochen, dass für die Qualifizierungsinitiative in den nächsten drei Jahren 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Man vergleiche einmal diese 500 Millionen Euro mit den Geldern für andere bildungspolitische Programme wie zum Beispiel für das Ganztagsschulprogramm. Hierfür wurden - selbst da sagen Expertinnen und Experten, dass das noch zu wenig Geld ist - insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Auf diesem Weg ist es dann gelungen, dass zumindest in Ansätzen ein bisschen etwas an den Schulen in Bewegung gekommen ist. Es ist nun wirklich sehr interessant, wie Sie es schaffen wollen, mit 500 Millionen Euro etwas Ähnliches - und dann auch noch bezogen auf das gesamte Bildungssystem - zu erreichen. Die Linke glaubt nicht, dass das klappen wird.
Wir haben andere Vorschläge vorgelegt. Wir fordern eine grundsätzlich andere Steuerpolitik. Man könnte beispielsweise eine Börsenumsatzsteuer einführen. Auf diesem Weg könnte es gelingen, eine nachhaltige, bessere Bildung zu finanzieren.
- Der liegt schon seit Urzeiten vor, Herr Barth; den hätten Sie einmal lesen sollen, statt ihn, wie ich glaube, sofort abzulehnen.
Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Zweiten: auf eine strukturell andere Grundlage. Frau Ministerin Schavan, wenn Sie in jedem Interview, das Sie geben, das gegliederte Schulsystem lobpreisen, dann führt das dazu, dass die Länder davon absehen, Schritte hin zu einer anderen Bildung einzuleiten. Eine andere Bildung, die Schluss macht mit einer Auslese, einer sozialen Selektion, und stattdessen auf individuelle Förderung setzt, dafür kämpft die Linke.
Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Dritten: auf eine politisch andere Grundlage. Ihr Ausgangspunkt ist, dass die Wirtschaft ruft, ihr fehlten gut ausgebildete Fachkräfte.
Die Linke sagt: Uns geht es um das Recht auf Bildung. Das ist ein großer Unterschied. Denn in Ihrer Logik kann es gut passieren, dass eine Absolventin das Pech hat, in dem Jahr ihren Schulabschluss zu machen, in dem die Wirtschaft ebendiese Töne gerade einmal nicht von sich gibt. Dieser Absolventin wird von Ihnen dann gesagt: Es tut uns leid; du wirst gerade nicht gebraucht. - Das kann nun wirklich nicht der Anspruch einer demokratischen Gesellschaft sein. Deshalb fordert die Linke ein Recht auf Bildung.
Wenn Sie die Qualifizierungsinitiative auf diese Weise auf eine andere Grundlage gestellt hätten, dann hätten Sie auch wirklich mutige Schritte machen können, um einen bildungspolitischen Schub zu geben. Da ich Sie nicht überfordern will, will ich nur fünf ganz konkrete Punkte anführen,
die die Linke schon in mehreren Anträgen deutlich gemacht hat. Zur frühkindlichen Bildung werde ich nicht sprechen. Diesen Punkt wird nachher mein Kollege Volker Schneider aufgreifen.
Erstens. Herr Minister Scholz, was soll dieser Ausbildungsbonus? Sie können doch nicht ernsthaft die jahrelange Ausbildungsverweigerung der Unternehmen jetzt auch noch mit weiteren Steuergeschenken belohnen. Sie haben vorhin gesagt: Wer nicht ausbildet, soll nicht über fehlende Fachkräfte klagen. Das ist natürlich eine großartige Ankündigung. Die Linke würde es besser finden, wenn Sie wirklich Druck auf die Unternehmen ausüben würden. Die Linke sagt: Wer nicht ausbildet, soll zahlen. Wir fordern eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage.
Zweitens. Frau Ministerin Schavan, Sie haben von sozialer Durchlässigkeit gesprochen. Auch da könnten Sie ganz konkrete Schritte gehen. Die Linke sagt: Wir brauchen jetzt dringend ein bundesweites Hochschulzulassungsgesetz. Als wichtigster Punkt muss darin enthalten sein, dass Absolventinnen und Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung das Recht auf Zulassung zu Hochschulen haben. - Sie nicken. Es wäre aber noch besser, wenn ein entsprechender Antrag von Ihnen vorliegen würde.
Drittens. Man kann nicht bei dieser unzureichenden BAföG-Novelle stehen bleiben.
Auch da brauchen wir weitere Schritte. Stichpunkte sind: Ausbau des Schüler-BAföG und eine schrittweise Rückführung des Darlehenszuschusses.
Ich habe noch zwei weitere Punkte. Da meine Redezeit fast zu Ende ist, nur kurz: Wir brauchen schon jetzt einen zweiten Hochschulpakt, mit dem es wirklich gelingt, die Studienplatzkapazitäten auszubauen. Und Punkt 5: Man darf die Weiterbildung nicht mehr länger so stiefmütterlich behandeln, wie Sie es tun, sondern man muss endlich ein Bundesweiterbildungsgesetz auf den Weg bringen.
Das könnte dann ein bildungspolitischer Schub nach vorne sein. Dafür kämpft die Linke; dafür werden wir auch weiter kämpfen. Ihre Qualifizierungsinitiative leistet dazu leider nur herzlich wenig.
Besten Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, es ist schon beeindruckend, mit welchem Engagement Sie sich für die Vermarktung Ihrer nationalen Qualifizierungsinitiative einsetzen.
Auf sämtlichen Kanälen wird da die Lösung fast aller Probleme verkauft: von Fachkräftemangel über Bildungsungerechtigkeit bis hin zur Jugendgewalt. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie sich mit dem gleichen Engagement um die Inhalte und um die Substanz Ihrer Initiative gekümmert hätten.
Wer sich Ihren Papierstapel einmal genauer ansieht, kommt schnell zu dem Ergebnis: Viel Lärm um herzlich wenig! Was Sie da zusammengetragen haben, ist ein Bauchladen an Modellversuchen, alten Pilotprojekten und Vorschlägen an die Adresse der Länder. Darunter ist kaum eine strukturelle Reform. Das ist keine Brücke auf dem Weg zur Beseitigung des Fachkräftemangels. Ein roter Faden fehlt völlig, ein grüner sowieso.
Dabei wäre eine wirksame Initiative für bessere Bildung und gerechtere Teilhabe nötiger denn je. Schließlich haben viel zu wenig junge Menschen Zugang zu guter Bildung. Wir haben viel zu viele Schulabbrecher, zu viele Jugendliche in Warteschleifen und zu wenig Studierende, sodass uns in Zukunft Hunderttausende Fachkräfte fehlen. Dazu haben Sie mit Ihrer zögerlichen Politik beigetragen.
Aber schauen wir uns Ihr Ankündigungspotpourri im Einzelnen an. Sie haben vorhin beim Punkt frühkindliche Bildung angekündigt, 80 000 Erzieherinnen und Erzieher fortbilden zu wollen. Das ist wichtig; das klingt gut. Welche Maßnahmen stehen aber dahinter? Dahinter steht ein Internetportal, das Sie aufbauen wollen. Das war?s. Das ist keine Qualifizierungsinitiative; das hat schon fast den Charakter einer Täuschungsinitiative.
Mit einer Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen auch verdient, müssen Sie dafür sorgen, dass diejenigen, die sich professionell um unsere kleinsten Kinder kümmern, endlich auf Hochschulniveau qualifiziert werden. Dazu ist von Ihnen aber nichts zu hören.
Auch beim Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte formulieren Sie nur halbherzige Ziele und wirkungsarme Maßnahmen. Wir müssen den Weg zum Campus von Hindernissen befreien, gerade auch für Menschen ohne Abitur. Was steht in Ihrem Papier? Sie wollen gerade einmal 1 000 Erwachsenen mit einem beruflichen Ausbildungsabschluss ein Aufstiegsstipendium zahlen.
Das ist viel zu kurz gedacht und zu wenig gemacht. Wer den Aufstieg durch Bildung wirklich ermöglichen will, muss die Hochschulen endlich strukturell für möglichst viele öffnen, auch für diejenigen, die nur einen Ausbildungsabschluss erworben haben.
Strukturell öffnen heißt, dass man ein paar Dinge mehr machen muss. Wir Grüne fordern das Ende der Studiengebühren, weil sie Studienberechtigte und natürlich auch beruflich Qualifizierte vom Studium abschrecken. Wir wollen das Meister-BAföG zu einem Erwachsenen-BAföG weiterentwickeln, das den zweiten und dritten Bildungsweg wirklich öffnet. Wir brauchen klare und bundeseinheitlich geregelte Zugangswege zum Studium ohne Abitur.
Eine Übersicht über die verschiedenen Studienvoraussetzungen in den einzelnen Bundesländern - liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich das einmal an - umfasst derzeit mehr als 40 dichtgedruckte Seiten. Das ist noch weniger Substanz auf noch mehr Seiten als bei Ihrer Qualifizierungsinitiative. Das ist aber vor allen Dingen eine Entmutigung für Bildungswillige, die an die Hochschule kommen wollen. Anstatt das Hochschulrahmengesetz abzuschaffen, was Sie im Kabinett beschlossen haben, und den deutschen Hochschulraum weiter zu zerfleddern, sollten Sie zusammen mit den Ländern bundeseinheitliche und attraktive Zugangswege in die Hörsäle ebnen. Das ist dringend erforderlich.
Sie wollen auch den Übergang von der Schule in die Hochschule erleichtern. Das ist schön. Es ist noch schöner, dass Sie nach anderthalb Jahren endlich unsere Forderung, eine Servicestelle für eine effiziente Studienplatzvergabe einzurichten, aufgreifen. Aber auch die modernste Servicestelle kann letztlich nur Mangelverwaltung sein, wenn in diesem Land massenhaft Studienplätze fehlen. Eine wirksame Qualifizierungsinitiative muss in allererster Linie mehr Geld in zusätzliche Studienplätze investieren. Ihr ?Hochschulpäktchen? ist nur ein erster Schritt. Wir wissen doch alle, dass dieser Hochschulpakt völlig unterfinanziert ist. Nehmen Sie endlich mehr Geld in die Hand, sonst stehen noch mehr junge Menschen vor verschlossenen Hörsaaltüren oder kommen nicht auf den Campus.
Natürlich haben Sie auch das freiwillige technische Jahr in Ihr Sammelsurium aufgenommen. Zur Bekämpfung des Fachkräftemangels trägt ein solches staatlich alimentiertes Langzeitpraktikum überhaupt nicht bei.
Anstatt für weitere Warteschleifen zwischen Schule und Ausbildung 4 Millionen Euro zu verschwenden und dafür das Markenzeichen des Freiwilligenjahres zu missbrauchen, sollten Sie sich endlich wirksam gegen prekäre und unfaire Praktika einsetzen. Auch diesbezüglich warten wir seit zweieinhalb Jahren auf Initiativen von Ihnen.
Ganz am Ende Ihrer Vorlage zu einer Qualifizierungsinitiative findet man eine alte Bekannte aus dem Bereich Weiterbildung: die Weiterbildungsprämie. Sie wird seit zweieinhalb Jahren von Ihnen angekündigt. Wir warten noch immer auf eine Gesetzesinitiative. Wie sieht es mit der Umsetzung aus? Nach wie vor Fehlanzeige! Sie sollten endlich einmal in die Pötte kommen, Frau Schavan.
Wenn ich mir die Liste Ihrer unerfüllten Wünsche an die Länder anschaue, kann ich nur festhalten: Der Bund hat sich mit der schwarz-roten Föderalismusreform viel zu sehr aus der Bildungspolitik verabschiedet. Das war ein großer Fehler. Wir werden die Ganztagsschulen künftig nicht mehr fördern können. Die Förderung wird auslaufen. Mit dem Ausbau ist es dann wahrscheinlich vorbei, wenn die Länder es nicht aufgreifen und forcieren.
Frau Ministerin, Sie müssen beweisen, dass Sie nicht nur Chefin des größten Ankündigungsressorts sind. Sie müssen endlich einmal Taten folgen lassen und konkret zur Umsetzung kommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion.
Ilse Aigner (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die Qualifizierungsinitiative unserer Bundesregierung, erstellt unter der Federführung unserer Ministerin Schavan zusammen mit den Ministern Scholz und Glos. Sie ist ein wichtiger Baustein für die Qualifizierung unserer jungen Menschen, für die Zukunft, für die Weiterbildung in unserem Land und für die frühkindliche Bildung. Diese breite Palette wurde von der Bundesregierung auf den Weg gebracht. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
Ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative basiert auf unserem gemeinsam entwickelten Antrag ?Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern?. Hier geht es im Wesentlichen um die berufliche Qualifizierung. Das duale Ausbildungssystem ist eine der tragenden Säulen unseres Bildungssystems, fast ein Alleinstellungsmerkmal; das ist ein positiver Punkt. Es ist eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes und für die Unternehmerinnen und Unternehmer eine lohnende Investition in die Zukunft ihres Betriebes. Es sichert den Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften, der auch in der Zukunft so dringend benötigt wird.
Für uns - natürlich auch für die jungen Menschen selbst - ist es wichtig, dass jeder junge Mensch eine Chance auf Ausbildung hat. Dazu muss einerseits das Angebot an Ausbildungsplätzen stimmen. Andererseits müssen die Auszubildenden die Möglichkeit und die Fähigkeit haben, eine Berufsausbildung aufzunehmen.
Es wurde schon angesprochen: Natürlich liegt die Schulausbildung in der Kompetenz der Länder. Deshalb wird es im Herbst gemeinsam mit den Ländern eine Initiative geben, durch die die Schulabbrecherquote deutlich gesenkt bzw. halbiert werden soll. Auch das geschieht unter der Federführung unserer Ministerin Schavan.
Es wurde hier schon viel gesagt; alle möglichen alten Forderungen wurden aufgewärmt. Ich will auf eines hinweisen: Es gab vor zwei Jahren 550 000 Ausbildungsplätze. Im aktuellen Ausbildungsjahr gibt es 626 000 Ausbildungsplätze. Das ist ein Plus von 14 Prozent und eine riesige Leistung der Unternehmerinnen und Unternehmer.
Das zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung die Basis für die Schaffung neuer Ausbildungsplätze ist. Deshalb sage ich ein herzliches Dankeschön an unsere Bundeskanzlerin. Unter ihrer Führung ist ein wirtschaftlicher Aufschwung entstanden, der sich direkt auf den Ausbildungsstellenmarkt auswirkt. Ein herzliches Dankeschön!
Trotzdem ist durch die schlechte wirtschaftliche Situation zu Beginn dieses Jahrzehnts leider eine - es ist nicht anders zu beschreiben - Bugwelle an sogenannten Altbewerbern entstanden; dies wurde schon angesprochen.
Die Zahl der Altbewerber lag im Jahr 2006 schon bei über der Hälfte aller Bewerber, die in diesem Jahr die Schule beendet hatten, und ist letztendlich so hoch geblieben. Deshalb müssen wir eines der Hauptaugenmerke auf die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze für diejenigen richten, die schon länger als zwei Jahre auf einen Ausbildungsplatz warten und sonstige Vermittlungshindernisse aufweisen. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich möchte dem Kollegen Uwe Schummer ganz herzlich dafür danken, dass er bereits 2003 auf diesen Punkt hingewiesen hat. Ich zitiere aus dem entsprechenden Protokoll:
Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unterstützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken.
Lieber Uwe Schummer, ich glaube, das war schon 2003 wegweisend.
Wir haben dies jetzt in der Qualifizierungsinitiative umgesetzt. Bis zum Jahr 2010 sollen 100 000 neue Ausbildungsplätze für diese Jugendlichen geschaffen werden. Der Hintergrund des Ganzen ist: Es ist für einen Ausbilder deutlich schwieriger, jemanden mit Ausbildungshemmnissen auszubilden. Er braucht ausbildungsbegleitende Hilfen; diese sind vorgesehen. Er bekommt auch in finanzieller Hinsicht eine Entlastung, um zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Wir glauben, dass das Geld hier besser eingesetzt ist, als wenn die Betroffenen an einer Maßnahme nach der anderen teilnehmen; denn diese haben sie alle schon durchlaufen. Deshalb ist dieses Vorhaben ein Kernstück der Qualifizierungsinitiative. Ich bedanke mich ganz herzlich, dass diese Regelung umgesetzt wird.
Eine weitere wichtige Maßnahme, die übrigens schon eine Rolle spielt - auch das muss man hervorheben -, ist die Einstiegsqualifizierung. Wir haben dieses Programm mittlerweile auf 40 000 Plätze aufgestockt. Auch hier zeigt sich: Von den jungen Menschen, die in die Betriebe kommen und ihre Fähigkeiten dort zeigen können - vielleicht ist es für sie auch wichtig, dass sie von der Schulbank wegkommen -, erhalten sehr viele, nämlich 60 bis 70 Prozent, anschließend eine Ausbildungsstelle. Diese hervorragende Maßnahme hat großen Erfolg. Auch das kann man, wie ich glaube, nicht oft genug sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft braucht künftig noch mehr qualifiziertes Fachpersonal. Deshalb ist eine Ausbildung eine gute Investition in die Zukunft. Hierbei geht es um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. Wir werden in der nächsten Zeit wahrscheinlich einen Fachkräftemangel zu verzeichnen haben. Deshalb dürfen wir niemanden abschreiben, sondern müssen uns um jeden kümmern. Das hat sich die Koalition zum Ziel gesetzt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt, FDP-Fraktion.
Patrick Meinhardt (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Aigner, wir beraten heute nicht nur die Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung,
sondern wir beraten auch den besonders guten Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel ?Mehr Chancen durch bessere Bildung und Qualifizierung?.
Dieser Antrag basiert auf einem gemeinsamen Positionspapier des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und der FDP-Bundestagsfraktion. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass man, wenn es um die Frage geht, wie eine gute Ausbildung und eine gute berufliche Bildung in Deutschland funktionieren, dorthin schaut, wo tatsächlich Erfolge zu verzeichnen sind. Immerhin hat der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl das Handwerk in zwei Jahren 10 000 Arbeitsplätze verloren hat, bei der Ausbildung einen Aufwuchs von 10 Prozent hinbekommen. Das zeigt uns, wie verantwortliche Ausbildungspolitik aussehen kann. Dafür muss man dem Mittelstand in Deutschland dankbar sein.
In unserem Positionspapier haben wir vor allem auf drei Bereiche abgehoben:
Der erste Bereich, den ich ansprechen möchte, ist aus unserer Sicht in dem Konzept der Bundesregierung völlig unzureichend dargestellt. Wir haben kein Problem damit, die Begriffe ?Elite? und ?Leistung? in den Mund zu nehmen. Wir brauchen leistungsfördernde Maßnahmen, und wir brauchen auch bei der beruflichen Bildung eine Hochbegabtenförderung. Warum ruft die Bundesregierung eigentlich keine Exzellenzinitiative ?berufliche Bildung? ins Leben? Dies ist in der Bundesrepublik Deutschland überfällig.
Zum Zweiten ist es enorm wichtig, dass wir bei den Ausbildungsberufen flexibel vorgehen, verstärkt in Modulen denken und mehr zwei- und dreijährige Ausbildungsgänge anbieten. Durch die Flexibilisierung der Ausbildung können wir dafür sorgen, dass jungen Menschen Alternativen, die sie im Augenblick noch nicht haben, angeboten werden und dass ihnen der Einstieg in eine Ausbildung ermöglicht wird. Das brauchen wir in der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn wir das umsetzen wollen, dann muss es zum Dritten zu einer Stärkung der überbetrieblichen Ausbildung kommen. Hier verstehe ich die Bundesregierung überhaupt nicht. Bei den Mitteln für die Förderung der Verbundausbildung hatten wir in den letzten sieben Jahren eine Reduzierung von 69 Millionen Euro auf 29 Millionen Euro zu verzeichnen. Gleichzeitig wissen wir, dass 88 Prozent der Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland, die ein bis neun Beschäftigte haben, im Moment nicht ausbilden, weil sie häufig keinen vollen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen können. Wir müssen in die Förderung der Verbundausbildung investieren, um kleinen und Kleinstbetrieben die Möglichkeit zu geben, jungen Menschen aufgrund ihrer mittelständischen Erfahrung eine Perspektive zu eröffnen.
Die sogenannte Nationale Qualifizierungsinitiative, Herr Kollege Tauss, soll drei Schwerpunkte haben: Altbewerber, Weiterbildung, Schulabbrecherquote. Frau Ministerin, ich frage mich: Wo ist Ihr Konzept bei der Schulabbrecherquote? Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie mehr tut, als zu verhandeln, bis am Schluss irgendetwas herauskommt. Das Papier der Kultusministerkonferenz ist, mit Verlaub gesagt, wieder einmal reine Makulatur, reiner Prosatext. Die Bildungspolitiker verwundert es nicht, dass so etwas bei der KMK herauskommt; denn wer 60 Jahre für die Festlegung von Bildungsstandards beim Abitur braucht, der ist nicht auf der Höhe der Zeit. Solch einen trägen Bürokratiemoloch kann sich die Bundesrepublik Deutschland schon lange nicht mehr leisten.
Er sollte schnell durch eine flotte, schlanke Bildungskonferenz ersetzt werden.
Zur Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher sollen im Rahmen einer Weiterbildungsoffensive die Möglichkeit bekommen, ihre berufliche Fortbildung zu intensivieren. Grundsätzlich ist das ein guter Ansatz. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, das mit Ihrer Weiterbildungsinitiative zu vergleichen, für die für das Jahr 2008 gerade einmal 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Jetzt machen wir eine ganz einfache Rechnung: Wenn in diesem Zusammenhang für die Zahlung einer Weiterbildungsprämie für alle Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland nur 15 Millionen Euro zur Verfügung stehen,
dann kommt, Herr Kollege Tauss, unter dem Strich heraus, dass diese Mittel nur für die Erzieherinnen und Erzieher reichen würden; dann könnte niemand anders von der Weiterbildungsinitiative profitieren. Einen Antrag der Bundesregierung, diese Mittel zu erhöhen, gibt es nicht. Doch ohne eine Erhöhung der Mittel ist die Weiterbildungsinitiative Makulatur.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der große Bereich der Altbewerber. Als Erstes möchte ich sagen: Wir von der FDP sind froh, dass es keinen grundsätzlichen, mittelstandsfeindlichen, bürokratiefördernden Ausbildungsbonus geben wird.
Dies ist ein gutes Signal. Aber schauen wir uns nun Ihre Altbewerberinitiative an. Wenn man das Zeile für Zeile, Satz für Satz, Seite für Seite
- Wort für Wort, Kollege Tauss - durchliest, sieht man: Da wurde nichts anderes getan, als eins zu eins das Papier des FDP-Wirtschaftsministers von Baden-Württemberg, Ernst Pfister, abzuschreiben.
Schauen Sie sich das Papier des Wirtschaftsministers von Baden-Württemberg an, und Sie werden sehen:
Diese Initiative ist eins zu eins abgeschrieben worden. Sagen wir einmal, es ist ein gutes Zeichen, dass die Bundesregierung zumindest in diesem Bereich lernfähig ist und mit liberalen Konzepten aus Baden-Württemberg versucht, eine Initiative in die Wege zu leiten.
Nichtsdestoweniger fehlt diesem Konzept bedauerlicherweise eine ganze Reihe von Inhalten. Wir vermissen bei den Altbewerbern die Förderung durch sozialpädagogische Maßnahmen für all die Jugendlichen, denen wir helfen müssen, aus der Sackgasse herauszukommen.
Deswegen kann ich für die FDP-Fraktion nur feststellen: Diese Qualifizierungsinitiative ist ohne System, ohne roten Faden und ohne Ziel. Oder, Herr Kollege Tauss, um es in Worten Ihres ehemaligen Arbeitsministers Münte zu sagen: Altbewerber können Sie nicht, Weiterbildung können Sie nicht, Qualifizierungsinitiative können Sie nicht.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion.
Willi Brase (SPD):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin Frau Aigner dankbar, dass Sie auf den Schummer-Ansatz hingewiesen hat, der jetzt als Scholz-Bonus dafür sorgen wird, dass 100 000 junge Leute in Deutschland eine Zukunftsperspektive bekommen. Ich glaube, das ist eine gute Sache.
Wir von der Koalition wollen vor dem Hintergrund unseres gemeinsamen Antrages mit der Qualifizierungsinitiative Ausbildung organisieren. Wir wissen, dass wir trotz guter Zahlen - über 60 000 zusätzliche Ausbildungsplätze - noch weitere brauchen. Wenn das Jahr 2007 komplett abgerechnet wird, wird sich herausstellen, dass noch mehr Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Wir werden dem drohenden Facharbeitermangel begegnen und die Jugendarbeitslosigkeit weiter abbauen. Nicht umsonst wurde der Quali-Kombi mit aufgenommen, der mit dafür sorgt, dass junge Leute unter 25 Jahren, die arbeitslos sind, eine vernünftige Perspektive in unserem Lande erhalten.
Wir sollten nicht vergessen: Die Bundesregierung hat auch Vorschläge der Fachleute aufgegriffen. Im Hauptausschuss des Berufsbildungsinstituts ist die Forderung, zukünftig vor allen Dingen auch bei der Übergangs- und Nachqualifizierung wesentlich stärker auf die betriebliche Ausbildung und Qualifizierung zu setzen, deutlich diskutiert und ihre Umsetzung empfohlen worden, weil dies besser und der richtige Weg ist sowie den jungen Leuten eine vernünftige Perspektive gibt. Ich glaube, eine solche Umsetzung ist richtig. Das müssen wir machen.
Wir als SPD-Fraktion sagen: Der Ausbildungsbonus ist auch ein Angebot an die Unternehmen, also die Arbeitgeber, sich ein Stück weit ihrer Verantwortung zu stellen. Dieser Bonus wird durch ausbildungsbegleitende und sozialpädagogische Hilfen unterstützt und begleitet.
Wenn die Unternehmen dieses Angebot in den nächsten drei Jahren nicht ausreichend wahrnehmen, dann müssen sie sich darauf einstellen, dass die Debatte über die berufliche Bildung in eine andere Richtung geht, nämlich in Richtung einer schulischen Ausbildung. Dafür sind dann aber nicht die Jugendlichen verantwortlich, sondern die Unternehmen, die keine Ausbildungsplätze - auch nicht, wenn sie mit staatlichem Geld unterstützt werden - zur Verfügung stellen.
Bildung und Qualifizierung sind für die Zukunft unseres Landes notwendig. Ich vermisse bei der Debatte etwas, was wir bei der Diskussion über PISA schon mehrfach erwähnt haben. Ich will hier die Süddeutsche Zeitung vom 3. Januar dieses Jahres zitieren - es ging um eine Studie über Bildungschancen -:
Die Aussicht eines Arbeiterkindes, einen Hochschulabschluss zu erreichen, sei um das Zwölffache schlechter als die eines Akademikerkindes. Um die Chancen benachteiligter Kinder zu verbessern, empfiehlt der Forscher eine gezielte Frühförderung sowie Ganztagsschulen.
Ich will gar nicht auf das Letzte, sondern auf das Erste eingehen. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit. Damals war es häufig so: Wer einen bestimmten sozialen Hindergrund, als Kind von Arbeitern, hatte, der ging - das war klar - nicht auf das Gymnasium, sondern in die duale Ausbildung, da es hieß: Dort gehört er hin. - Solche Zustände dürfen und werden wir in diesem Land nicht mehr akzeptieren. Das ist eine Verschwendung von Potenzialen und stellt Menschen in eine Ecke, in die sie nicht gehören.
Es wird Aufgabe dieser Koalition sein, auf diesem Weg voranzugehen, um notwendige und bessere Chancen für Kinder - egal vor welchem Hintergrund - zu ermöglichen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der auf der europäischen Ebene und auch in der Debatte hier eine Rolle spielt. Wir werden den deutschen Qualifizierungsrahmen entwickeln. Für die SPD will ich hier deutlich festhalten: Wir werden das nicht unterstützen, wenn damit darauf abgezielt wird, das duale Prinzip - die im Wesentlichen drei- und dreieinhalbjährige Ausbildung - in ein- und halbjährige zertifizierte Module zu zersplittern, wie es manche von der BDA gefordert haben. Dann ist das Berufsprinzip tot. Ich kann jeden nur davor warnen, dieses hohe Gut aufs Spiel zu setzen. Wir brauchen auch zukünftig das duale Prinzip in der beruflichen Ausbildung.
Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist und der in der Qualifizierungsinitiative eine Rolle spielt, wird durch das Stichwort ?Weniger ist mehr? beschrieben. Ich glaube, es macht Sinn, sich endlich zu überlegen, wie wir die Vielfalt der Programme vor allen Dingen im Übergangsbereich ein Stück weit bündeln können. Es gibt gute Beispiele vor Ort in den Regionen unseres Landes. Lassen Sie uns diese aufgreifen! Wir brauchen nicht noch fünf, sechs oder sieben Sonderprogramme, sondern wir müssen sie, wie wir das im Koalitionsantrag beschrieben haben, gemeinsam mit den Ländern bündeln, und wir müssen die wesentlichen Standards festschreiben, damit die Effektivität größer wird und wir mehr Geld für mehr Plätze haben. Das hilft den jungen Leuten. Weniger ist mehr - das ist der richtige Weg.
Ein letzter Punkt. Das duale Ausbildungssystem in seiner Gesamtheit muss sich in den nächsten Jahren bewähren. Die Ausbildungsbeteiligung der Unternehmen liegt zwischen 24 und 25 Prozent. Ich glaube, es ist genügend Potenzial vorhanden. Alle Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung belegen: Sowohl in den alten wie auch in den neuen Ländern gibt es einen Bereich von 25 bis 28 Prozent der Unternehmen, die fachlich, sachlich und finanziell in der Lage sind, auszubilden. Es kommt in den Regionen vor Ort darauf an - Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte -, dafür zu sorgen, dass diese Unternehmen stärker ausbilden. Wir können sie mit dem Ausbildungsbonus für die vom Arbeitsminister schon beschriebenen Personen wunderbar unterstützen.
Ich sage: Nutzen Sie diese Möglichkeiten! Das ist das Beste für die berufliche Bildung.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort.
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Qualifizierungsinitiative ist ausweislich der Unterrichtung der Bundesregierung auch eine Antwort auf den drohenden Fachkräftemangel. Mir persönlich ist bereits seit mindestens zehn Jahren bekannt, dass bedingt durch die Demografie im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts der Bedarf an Fachkräften in Deutschland stark ansteigen wird.
In der uns vorliegenden Unterrichtung wird dieser Trend wie folgt präzisiert:
Bis zum Jahr 2013 werden 330 000 Akademikerinnen und Akademiker im Bereich der gewerblichen Wirtschaft - davon 70 000 Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler sowie 85 000 Ingenieurinnen und Ingenieure - in den Ruhestand gehen. In den nächsten Jahren werden in den Naturwissenschaften nach Prognosen mindestens 30 Prozent jedes Absolventenjahrgangs fehlen.
Ähnliche Entwicklungen sind im Übrigen auch auf der Ebene der Meister, der Techniker und bei einer Reihe von Facharbeitern zu erwarten.
Wie bereits gesagt, ist dies alles lange bekannt und daher alles andere als neu. Insoweit ist es mehr als erstaunlich, wie die Wirtschaft sehenden Auges und ohne frühzeitig vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen auf diesen Fachkräftemangel zugesteuert ist.
Wer sich nur noch am kurzfristigen Erfolg orientiert, wer nur von Quartalsbericht zu Quartalsbericht denkt, für den ist die Qualifikation von Mitarbeitern nur ein Kostenfaktor, der den Gewinn schmälert. Wer so kurzfristig denkt, ist zu einer langfristigen und nachhaltigen Entwicklung von Unternehmen wahrlich nicht in der Lage. Das ist kein Qualitätsbeweis für einen zu großen Anteil der Führungskräfte in unserer Wirtschaft.
Nun soll die Politik es wieder richten. Es ist erstaunlich, was hier nun alles kurzfristig in Bewegung versetzt werden soll. Jetzt entdecken Sie, worauf wir als Linke gebetsmühlenartig hingewiesen haben - nämlich, dass unser Bildungssystem in hohem Maße sozial selektiv wirkt und dass dies nicht nur eine Beeinträchtigung des Rechts auf Bildung bedeutet, das sich für uns aus dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung ergibt, sondern auch eine nicht mehr nachvollziehbare Vergeudung von Ressourcen.
Das liest sich bei Ihnen so:
Deshalb müssen alle Potenziale genutzt werden. Es ist ein Kernelement von Zukunftsvorsorge, allen jungen Menschen eine Chance auf eine gute Ausbildung zu bieten, Kindern aus bildungsfernen Schichten verstärkt den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, für Frauen und Männer Bedingungen zu schaffen, unter denen sie die Anforderungen der eigenen Familie mit einer Ausbildung, einem Studium oder der Berufsausübung vereinbaren können. Mehr Menschen muss der Aufstieg durch Bildung ermöglicht werden. Wir brauchen Weiterbildungsmöglichkeiten für alle während des gesamten Lebenslaufs.
Richtig so. Schade ist nur, dass es weniger das Recht auf Bildung, sondern mehr ökonomische Notwendigkeiten sind, die Sie zu einer derart klaren Positionierung veranlassen.
Auch hinsichtlich der Frage, worin die Bundesregierung die zentralen Weichenstellungen für die Zukunft sieht, können wir den von Ihnen genannten zentralen Punkten nur zustimmen.
Aber wie unterfüttern Sie denn diese hehren Ziele? Da sehen wir noch erheblichen Diskussionsbedarf. Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich nur einige Punkte kurz ansprechen.
Sie wollen zukünftig frühkindliche Betreuung mit Bildung verknüpfen. Richtig und gut so! Dafür brauchen Sie aber entsprechende Fachkräfte - und die bekommen Sie nicht mit den Qualifizierungsmaßnahmen, die Sie hier vorschlagen. Wir brauchen auch in Deutschland Fachkräfte, die auf akademischem Niveau gebildet sind. Zusammen mit Österreich hinken wir weit hinter der europäischen Entwicklung hinterher. Das kostet Geld. Dieses Geld in die Hand zu nehmen, sind Sie anscheinend nicht bereit.
Das gilt insbesondere auch für das, was Sie als frühe Sprachförderung vorschlagen. Spätestens hier brauchen wir entsprechend vorgebildete akademische Fachkräfte.
In Bezug auf das, was Sie mit den Bildungshäusern beabsichtigen, kann ich nur Vermutungen anstellen. Wir als Linke sind ja auch für gemeinsames Lernen.
Aber doch bitte nicht gemeinsames Lernen von drei bis zehn, sondern gemeinsames Lernen von 6 bis 18! Das wäre die Zielsetzung.
Außerdem wollen Sie die regionalen Weiterbildungsstrukturen stärken. Das ist auch ein sehr guter Ansatz. Wunderbar; aber wieder einmal mehr mit Projekten, mit Modellen, mit Stiftungen! Das führt uns doch nicht weiter. Was wir an dieser Stelle brauchen, sind verbindliche, klare Strukturen - und die bekommen wir nur über ein bundesweites Weiterbildungsgesetz.
Bemerkenswert finde ich, dass Sie in das Papier eine Weiterbildungsallianz hineinschreiben; denn das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Auch ohne eine solche Forderung müssten Wirtschaft und Politik an dieser Stelle zusammenarbeiten. Wenn Sie das dann auch noch im Sinne eines Ausbildungspakts ausgestalten wollen, lässt mich das als Linken das Übelste befürchten.
Positiv hervorheben kann ich den Ausbau der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten zu Kompetenzzentren. Allerdings merkt man an dieser Stelle wieder einmal, wie forschungslastig Ihre Bildungspolitik ist.
Gänzlich unangebracht in diesem Papier ist allerdings Ihr Jubel über die Weiterbildungsaktivitäten der Bundesagentur für Arbeit. Sie bauen jetzt auf, was Sie zuvor demontiert haben. Sie sind jetzt noch nicht einmal wieder auf dem Stand von 2001. Das ist wahrlich kein Grund zum Jubeln.
Das Papier zur Qualifizierungsinitiative ist nicht das schlechteste; es ist immerhin ein Einstieg in die Diskussion. Jetzt müssten Sie sich noch in den weiteren Beratungen bewegen. Optimistisch bin ich in diesem Punkt nicht; meine Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen leider etwas anderes.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch etwas zu dem Ausbildungsbonus sagen. Die Bundesregierung verspricht, in den nächsten drei Jahren 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber zu schaffen. Erreicht werden soll das, indem solche Ausbildungsplätze mit 4 000 bis 6 000 Euro gefördert werden.
Ich zitiere einmal, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu diesem Programm sagt: Dieser Ausbildungsbonus ?schadet? durch ?Fehlanreize und Mitnahmeeffekte? der Ausbildung. - Schlechter kann ein Urteil eines Nutznießers von vermeintlichen Wohltaten einer Regierung wohl nicht ausfallen.
- Herr Tauss, ich will das ein bisschen ausführen.
Es hat durchaus Gründe, dass die BDA das sagt. Die Kriterien für den Ausbildungsbonus sind einfach zu weit gefasst, was dazu führt, dass mit diesem Bonus praktisch jeder Altbewerber und jede Altbewerberin,
sogar die leistungsstarke Realschulabgängerin, gefördert werden kann.
Bedingung für die Förderung ist nämlich, dass die Bewerberinnen und Bewerber maximal einen Realschulabschluss haben, dass sie sich in diesem Jahr nicht zum ersten Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben, dass sie fünf abgelehnte Bewerbungen vorlegen können oder in irgendeiner Weise einen persönlichen Nachteil haben. Ich sage Ihnen: Bei diesen Kriterien ist praktisch jede und jeder der 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerber förderungsfähig. Es ist dann nicht allein davon abhängig, dass jemand leistungsschwach und aus diesem Grund förderungsbedürftig ist.
Ich prognostiziere Ihnen: Dieses Programm wird ungeheure Creamingeffekte hervorrufen; denn es werden in erster Linie die Leistungsstarken und diejenigen unter den 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerbern davon profitieren, die aufgrund der Tatsache, dass es zu wenig Ausbildungsplätze gibt, keinen Ausbildungsplatz haben und nicht aufgrund der Tatsache, dass sie leistungsschwach und in diesem Sinne förderungsbedürftig sind.
Damit senden Sie auch ein falsches Signal an die Arbeitgeber. Denn was für ein Signal ist das an die Unternehmen, die in den letzten Jahren trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage und ohne finanzielle Förderung ihrer Verantwortung für Ausbildung nachgekommen sind und jetzt nicht in der Lage sind, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen?
Dieses Programm zeigt den Unternehmen doch: Die sozial verantwortlich handelnden Unternehmen sind die Dummen. Die FDP klatscht diesem Programm auch noch Beifall. Ich finde, Sie sind ordnungspolitisch wirklich auf den Hund gekommen.
Ich bin nicht gegen Eingliederungshilfen, wenn sie auf die leistungsschwachen Jugendlichen konzentriert werden.
- Herr Tauss, wenn Sie das wollten, dann brauchten Sie keinen neuen Ausbildungsbonus.
Erstens gibt es bereits eine ganze Reihe von ausbildungsunterstützenden Maßnahmen in den Ländern, die durch Ihr Programm überflüssig würden. Auch das ist eine Form von Mitnahmeeffekten.
Zweitens gab es bisher die Möglichkeit, unter dem Titel ?Sonstige Maßnahmen? im Rahmen des SGB II Ausbildungsplätze zu fördern. Aber die rigide Auslegung des Bundesarbeitsministeriums hat dazu geführt, dass diese gezielten Maßnahmen nicht mehr möglich sind. Sie streichen diese sehr gezielten, konzentrierten Unterstützungsmaßnahmen. Aber gleichzeitig schaffen Sie ein Programm, mit dem Sie im Grunde das Geld mit der Gießkanne ausschütten, statt es für gezielte Förderung einzusetzen. Das müssen Sie den Menschen erst einmal erklären.
Lassen Sie mich den Unterschied deutlich machen. Der Unterschied besteht darin, dass die gezielten einzelfallbezogenen Bonuszahlungen tatsächlich den benachteiligten Jugendlichen geholfen haben. Der breit angelegte Ausbildungsbonus dagegen hilft der Bundesregierung. Das lässt sich zwar besser verkaufen. Aber das kann doch nicht Sinn der Sache sein.
Alle Erfahrungen zeigen, dass ein Betrieb nur dann einen Auszubildenden oder eine Auszubildende einstellt, wenn er diese Person für geeignet hält. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass eine Person, die ein Betrieb für ungeeignet hält, eingestellt wird, nur weil er eine Einmalzahlung von 4 000 oder 6 000 Euro bekommt. Er stellt eine Person nur dann ein, wenn er sie für geeignet hält, und dann nimmt er das Geld auch mit. Solche Mitnahmeeffekte können wir nicht wollen.
Insofern ist es nicht richtig, bei den Betrieben anzusetzen, wenn Sie etwas für die Benachteiligten tun wollen. Dann müssen Sie vielmehr bei den Benachteiligten selber ansetzen und die ausbildungsbegleitenden Hilfen deutlich verbessern. Aber dazu finden sich in Ihrem Programm leider nur sehr vage Aussagen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen leider zum Ende kommen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme gleich zum Schluss.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sofort.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dann müssen Sie vor allen Dingen das Ausbildungsmanagement für die kleineren Betriebe verbessern. Gerade denen, die nicht viel Erfahrung mit Ausbildung haben, müssen Sie bei den bürokratischen Hürden helfen.
Mit diesem Programm werden Sie nicht in der Lage sein, den Berg der Altbewerber abzubauen. Wenn Sie so weitermachen, dann wird dieser Berg zu einer Wanderdüne. Dann können Sie Ihr Versprechen als Gipfelkreuz obendrauf nageln.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Michael Kretschmer erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Pothmer, Ihrem Ansehen und dem Ihrer Partei hätten Sie mehr gedient, wenn Sie in der Sache etwas vernünftiger und seriöser argumentiert hätten.
Was wir mit dieser Qualifizierungsinitiative umsetzen, ist in der Tat ein breit angelegtes Programm von Einzelmaßnahmen für Menschen, die diesbezüglich Schwierigkeiten haben, nämlich die knapp 400 000 Altbewerber. Das Programm ist mit denen abgestimmt, die seit langem in diesem Bereich arbeiten. Deswegen wird es auch tatsächlich Wirkung zeigen.
Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Aufgabe der Opposition, etwas zuzuspitzen und auf vermeintliche Fehler hinzuweisen.
Aber man sollte dabei so vorgehen, Herr Kollege Barth, dass diejenigen, die uns Sorgen machen, weil sie Schwierigkeiten und Probleme haben, und denen wir Hilfsangebote machen - die sie auch annehmen wollen -, nicht den Mut verlieren und die Kraft finden, diese Hilfsangebote anzunehmen. Aber die Art und Weise, wie hier und an anderer Stelle die Diskussion geführt wird - auch von der FDP -, ist in vielen Fällen nicht dazu geeignet, sondern nimmt den Menschen den Mut.
Ziel unserer Politik muss sein, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass tatsächlich jeder Jugendliche in Deutschland einen Ausbildungsplatz, einen Studienplatz oder zumindest die Möglichkeit einer weiterführenden Ausbildung bekommt. Unsere Möglichkeiten im Bundestag dazu sind vielfältig. Wir haben zuerst die Aufgabe, das wirtschaftliche Umfeld zu organisieren. Wir sehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft der Jugendlichen, aber auch der Unternehmen. Jetzt, wo die Zeiten besser sind, wo die Wirtschaft wieder wächst, steigt auch die Zahl der Ausbildungsplätze, und zwar im Vergleich zum Vorjahr um ungefähr 10 Prozent bzw. um über 50 000. Das ist eine gewaltige Leistung. Ich danke der Bundesregierung und der Koalition, dass sie durch eine kluge Politik dies ermöglicht haben.
Damit komme ich zur Qualifizierungsinitiative. Wir schaffen Hilfsangebote für diejenigen, die ausgebildet werden wollen, aber auch für diejenigen, die ausbilden. Hierzu ist eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgezählt worden. Darauf will ich im Einzelnen nicht mehr eingehen, wohl aber auf die Kritik. Sie haben die Kriterien genannt und damit aus meiner Sicht deutlich gemacht, dass es sich um ein Programm handelt, das zielgerichtet auf diejenigen wirkt, die es schwer haben. Wer seit mehreren Jahren einen Ausbildungsplatz sucht, ist dringend darauf angewiesen, weitergebildet zu werden, eine Lösung zu bekommen. Daher ist es richtig, dass wir hier zusätzlich Geld in die Hand nehmen, obwohl es eigentlich die Aufgabe der Unternehmen ist. Natürlich können solche Maßnahmen nur eine Ausnahme sein. Es kann nicht richtig sein, dass der Staat im Bereich der dualen Ausbildung den Unternehmen die Ausbildung in nennenswertem Umfang finanziert.
Wir sind in diesem Bereich auf einem guten Weg. Aber wir haben noch eine ganze Reihe von Problemen zu lösen. Das Wesentliche ist, dass wir diejenigen, die die Schule abschließen, in die Lage versetzen, sich den richtigen Beruf auszusuchen. Hier habe ich in der Tat große Sorgen. Wenn ich mit den jungen Leuten an den Schulen in meinem Wahlkreis spreche, merke ich immer wieder, dass sie nicht wissen, welche Berufe es gibt und was sich hinter den verschiedenen Berufen verbirgt. Deswegen ist ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative, junge Leute schon in ihrer Schulzeit in die Unternehmen zu bringen, sodass sie einen Eindruck von der Firma und vor allen Dingen von den Berufen bekommen. Ich halte das für einen wichtigen Punkt.
- Herr Kollege Tauss, wir haben uns ja gemeinsam darum bemüht.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Bund nicht für alles zuständig ist. Im Wesentlichen ist Bildungspolitik Länderpolitik.
Die Erfolge in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich, wenn es um Schulabbrecher und Berufsorientierung geht. Ich glaube, dass wir in Sachsen besser sind als manches andere Bundesland. Wir wollen uns unsere Erfolge nicht kaputtreden lassen.
Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir versuchen, einen Durchschnitt in Deutschland zu bilden. Vielmehr ist es wichtig, das eine oder andere zu übernehmen - ein gutes Beispiel ist Baden-Württemberg -
und es anderen vorzuschlagen; das ist gar kein Problem. Wir sollten die besten Beispiele aufgreifen und für eine entsprechende Umsetzung sorgen.
Die Stimmung in diesem Land hat sich verbessert. Das merken wir überall, Gott sei Dank auch auf dem Ausbildungsmarkt. Das ist ein gutes Zeichen für die jungen Leute. Wir hoffen, dass es so weitergeht.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Dieter Grasedieck ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
Dieter Grasedieck (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Bundesregierung geht wahrlich mutige Schritte und bietet den Jugendlichen - auch den benachteiligten Jugendlichen - und den Studenten Hilfen an. Zusätzliche Ausbildungsplätze, Frau Pothmer, werden angeboten. Die Jugend braucht eine Chance, sie braucht mehr Unterstützung, Hoffnung und Perspektive. Genau dies greifen wir als Koalition und als Bundesregierung auf. Die Herausforderung unseres Jahrhunderts, die Ausbildung einerseits und das lebenslange Lernen andererseits, wird hier in den entscheidenden Schritten angegangen.
Das Wissen ändert sich täglich. Genau deshalb brauchen wir eine breite Unterstützung. Neue Patente, neue Berichte aus den einzelnen wissenschaftlichen Fachbereichen kommen täglich hinzu. Flugzeuge werden per Satellit gelenkt. Das war in den letzten Jahren ein entscheidender Fortschritt. Wer hätte davon vor zehn Jahren geträumt? Die Stärke und die Geschwindigkeit der Taifune können durch Satellitenbeobachtung vorherberechnet werden. Auch das ist ein entscheidender Fortschritt.
Die Welt wird komplexer und komplizierter. Wenn Sie die Fertigung etwa im Schweißbereich der Automobilindustrie von vor zehn Jahren und von heute vergleichen, dann erkennen Sie, dass die Schweißqualität und die Fertigungsgeschwindigkeit besser geworden sind. Hier werden hochqualifizierte Industriemechaniker eingesetzt. Heute arbeiten hochqualifizierte Zerspanungsmechaniker an CNC-Maschinen: Die Arbeit unserer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und komplizierter geworden. Weil wir in Zukunft noch mehr hochqualifizierte Facharbeiter benötigen, haben wir dieses Programm aufgelegt.
Wir brauchen mehr Qualifizierung in den verschiedensten Bereichen. Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze in Deutschland, weil wir in der Zukunft Exportweltmeister bleiben wollen. Dazu wird jeder Jugendliche gebraucht. Das muss die Botschaft dieses Antrags und dieser Initiative der Bundesregierung sein.
Auf diesem Gebiet, meine sehr verehrten Damen und Herren, arbeiten wir erfolgreich auch gegen Jugendkriminalität. Da ist die Bundesregierung ganz sicherlich erfolgreich. Sie geht mutige Schritte; das muss ich schon sagen, wenn ich mir die konkreten Maßnahmen unseres Ministers Scholz einmal ansehe. Es gibt 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbewerber - das ist erwähnt worden -, 200 zusätzliche Berufsberater werden eingestellt. Auch das ist wichtig.
Wir machen uns über das neue Patensystem Gedanken. Berufsbegleiter sind hier eingesetzt worden. In meinem Wahlkreis führe ich mit 14 Paten in Schulen ein Patensystem durch. Dort erfolgt eine Berufsbegleitung durch Experten, unter denen Elektriker genauso wie Ingenieure, Maschinenbauer und Betriebswirte vertreten sind. Wir überlegen uns gemeinsam, welcher Beruf für den Schüler richtig ist. Dies wird mit den Jugendlichen diskutiert, und es werden Bewerbungen geschrieben und Bewerbungsgespräche vorbereitet. Das ist wirklich Integrationsarbeit, meine Damen und Herren.
Deutschland braucht in der Zukunft kreative und innovative Fachkräfte. Schon heute werden von der Industrie 50 000 Diplomingenieure gesucht; 85 000 werden es bis 2013 sein, wie vorhin in der Debatte schon erwähnt worden ist. Erforderlich ist eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Qualifikation; denn auf der anderen Seite sind noch 20 000 Ingenieure arbeitslos, weil bei ihnen bestimmte Kenntnisse nicht vorhanden sind. Dies zeigt, dass hier noch etwas aufgearbeitet werden muss. Auch dies ist im Antrag festgelegt worden; wir brauchen in der nächsten Zeit eine kontinuierliche Weiterbildung.
Die Wissensexplosion, meine Damen und Herren, erfordert lebenslanges Lernen und mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen. Eine schleichende Dequalifizierung bei älteren Fachkräften muss verhindert werden. Nur so können wir unseren Wissensvorsprung erhalten und die Wettbewerbsfähigkeit weiter verbessern. Hier sind die Bundesregierung und die Koalition auf dem richtigen Wege.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Uwe Schummer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es wäre undenkbar, dass die arabischen Länder ihre Ölvorräte im Wüstensand versickern lassen oder die Südafrikaner ihre Goldnuggets in den Flussläufen belassen. Das Potenzial, das wir in unserer Volkswirtschaft haben, besteht aus kreativen, motivierten und qualifizierten Menschen. Es ist gut, dass der Antrag ?Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern? und auch die Qualifizierungsinitiative mit dem alten, ewigen Kreislauf Schluss machen, nämlich: verheerende Ausbildungsplatzlücken Mitte des Jahres, in den Monaten Juni, Juli, August, dann der Reflex der einen Seite, die eine Strafsteuer für diejenigen fordert, die nicht ausbilden, und die Forderung der anderen Seite, die Ausbildungsvergütungen zu reduzieren, und am Ende dann eine Klinkenputzaktion, um Ausbildungsplätze zu mobilisieren. Nein, wir als Union und SPD haben überlegt, was wir jenseits der Reflexe und ohne Ideologie als Große Koalition entwickeln können, damit die Menschen konkret, praktisch und zeitnah eine Chance für eine Berufsausbildung bekommen. Diese Initiative ist das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen.
Im Zweijahresvergleich - das ist Markenzeichen der Merkel-Regierung - sank die Zahl der Arbeitslosen um 1,2 Millionen. Die Zahl der Erwerbstätigen liegt bei etwa 40 Millionen. Zeitverzögert folgt nun auch der Ausbildungsmarkt. Mit 626 000 Ausbildungsverträgen haben wir einen der höchsten Stände in der letzten Zeit. Wir hatten bereits im letzten Ausbildungsjahr eine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze um 4,8 Prozent, in diesem Ausbildungsjahr haben wir eine weitere Steigerung um 8,6 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen bis 25 Jahre sank im gleichen Zeitraum von 524 000 auf 341 000, also um 35 Prozent. Auch das ist eine wichtige Botschaft für junge Menschen. Sie haben wieder verstärkt eine berufliche Perspektive.
So etwas geht nur im Zusammenwirken von Politik, Wirtschaft und den Sozialpartnern. In Deutschland investieren die Unternehmen 30 Milliarden Euro jährlich für die berufliche Qualifizierung. Jedes andere Land wäre dankbar, wenn eine solche Mitfinanzierung durch die Wirtschaft stattfinden würde. Auch dies ist ein Prä der starken dualen Ausbildung in unserem Lande.
Über 60 Prozent der Schulabgänger entscheiden sich für einen der 341 Ausbildungsberufe. Es sind 1,5 Millionen junge Menschen, die von 492 000 Betrieben qualifiziert werden. Das ist nicht nur Wirtschaftskultur, das ist auch Ausbildungskultur in Deutschland.
Der Ausbildungspakt ist ein Erfolgsmodell, auch weil er von der Großen Koalition im letzten Jahr zeitlich verlängert und qualitativ verbessert worden ist. Es war wichtig, dass der drittstärkste Ausbilder, der Bundesverband der Freien Berufe, in den Ausbildungspakt eingetreten ist. Es ist ein Fehler - das sage ich als IG-Metaller -, dass sich die Gewerkschaften immer noch nicht am Ausbildungspakt beteiligen.
Gewerkschaften gehören nicht in die Meckerecke; Gewerkschaften gehören an den Verhandlungstisch und sonst nirgendwohin.
- Kehlkopf ersetzt noch keinen Nachdenkkopf. Welche politischen Pappnasen Sie sind, haben Sie am Mittwochnachmittag sinnbildlich hier im Plenum gezeigt.
Jeder zweite Ausbildungsvertrag ist mit einem Menschen abgeschlossen worden, der vor mehr als zwölf Monaten aus der Schule entlassen wurde. Wir müssen deshalb neben den Schulabgängern auch die sogenannten Altbewerber mit im Blick behalten. Ein wichtiges Kind des Ausbildungspaktes sind die Einstiegspraktika, die eine Weitervermittlungsquote von 74,7 Prozent zu verzeichnen haben, davon 65,5 Prozent in eine klassische berufliche Ausbildung. Das zeigt den hohen Wert dieser EQJ-Programme, der Einstiegspraktika. Wenn diese jetzt mit Bausteinen der Ausbildung kombiniert werden, dann bedeutet dies - kammerzertifiziert -, dass diese Zeit auch verstärkt bei der Nachvermittlung anerkannt wird und den jungen Menschen nicht mehr Lebenszeit verloren geht. Diese kann vielmehr effizient genutzt werden.
Der Qualifizierungskombilohn für langzeitarbeitslose Jugendliche aus der Werkstatt des Arbeitsministers Karl-Josef Laumann ist ein weiteres wichtiges Instrument, um den 341 000 verbliebenen jungen Langzeitarbeitslosen eine Perspektive zu geben. Es wirkt unterschwellig und kann eine Brücke in eine spätere berufliche Ausbildung sein.
15 Prozent der Schulabgänger werden von den Kammern als nicht ausbildungsfähig bewertet. Ich kann nur sagen: Auch da muss man vorsichtig sein. Ich habe erlebt, dass sogenannte nicht ausbildungsfähige junge Menschen ihren Führerschein gemacht haben. Tausend Fragen, Tausend Antworten - sie lesen motiviert und engagiert die Bücher und bestehen eine hochkomplexe theoretische Fahrprüfung. Sie sehen nämlich das Auto vor der Tür und denken: Es lohnt sich. Ich habe ein Ziel; ich möchte die Führerscheinprüfung bestehen. - Auch dies ist eine Frage der Motivation. Es geht darum, ob man sich um Menschen kümmert, ob man sie frühzeitig auf die richtige Schiene setzt und ob man sie begleitet, bis sie eine vernünftige Ausbildung durchlaufen haben.
Wir wollen die Abbrecherquote von 20 Prozent senken, und zwar unter anderem dadurch, dass - finanziert durch ein von Annette Schavan initiiertes 15-Millionen-Euro-Programm - zwei Jahre vor der Entlassung ein Schnupperkursus in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt besucht werden kann. Wo sind denn unter einem Dach Holzwerkstatt, Metallwerkstatt, Hauswirtschaft, Verwaltung und auch Gartenbau, sodass man in 14 Tagen alle Berufsbereiche kennenlernen kann? Wenn man diesen Kursus absolviert hat, kann man ein Profiling für die nächsten zwei Jahre erstellen und klären, welche weiteren Betriebspraktika bis zum Ausbildungsabschluss für eine zielgerichtete Berufsorientierung und Berufsberatung sinnvoll sind. Ein Patenmodell soll diese jungen Menschen begleiten und unterstützen. Das heißt, nicht wenige Wochen, sondern zwei Jahre vor der Entlassung müssen zielgerichtete Angebote entwickelt werden. Dieses Vorhaben wird systematisch umgesetzt.
Ich möchte abschließend sagen: Die Wirtschaft kritisiert, dass aufgrund der mangelnden Ausbildung Aufträge in Höhe von 20 Milliarden Euro verloren gehen. Die 341 000 langzeitarbeitslosen Jugendlichen kosten uns etwa 8 Milliarden Euro an nicht gezahlten Steuern und Beiträgen und an notwendigen Leistungsausgaben. Das Teuerste ist Arbeitslosigkeit, und wir steuern dagegen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
Jörg Tauss (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Barth - Sie telefonieren gerade -, ich weiß gar nicht, was Sie gegen Wissensbeschleunigung haben. Das ist doch eigentlich ein schöner Begriff, der auch dieses Programm ziert.
Es ist übrigens kein neuer Begriff. Er stammt aus der Makroökonomie und den Sozialwissenschaften. Da können wir Ihr Wissen noch ein wenig beschleunigen; das ist nicht das Problem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, selbstverständlich ist Bildung ein Wert an sich; das ist überhaupt keine Frage. Allerdings müssen wir dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Außerdem müssen wir die Bildungspolitik in den Mittelpunkt der Integrationspolitik stellen. Das sind die zentralen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Mit dieser Qualifizierungsinitiative haben diese Bundesregierung und die Große Koalition richtige Antworten gegeben.
Der Versuch, beide Ziele - Bekämpfung des Fachkräftemangels und Förderung der Integration - zu erreichen, ist die Grundlage dessen, was wir hier tun.
Natürlich sind damit auch Risiken verbunden; das ist völlig klar. Wir sind bei einem großen Teil dessen, was wir umsetzen müssen, auf die Länder angewiesen. Deswegen bin ich nicht beglückt, dass die Bundesratsbank ausgerechnet während dieser Debatte sehr leer ist.
Wir hoffen, dass dies kein Zeichen dafür ist, dass sich die Länder nicht im entsprechenden Maße an dem, was wir hier anbieten, beteiligen. Ich glaube - auch da können wir optimistisch sein -, sie werden es tun; denn auch die Länder wissen, dass wir uns einen bildungspolitischen Stillstand bis zum Bildungsgipfel im Herbst nicht leisten können. Dieses Jahr, also 2008, muss ein weiteres Jahr des Aufbruchs sein.
Man kann zu dieser Großen Koalition sagen, was man will. Frau Schavan und ich konnten uns in vielen bildungspolitischen Fragen nie so richtig leiden. Wir haben uns aber zu Beginn dieser Koalition zusammengesetzt, um die Frage zu klären, was wir gemeinsam erreichen wollen: Wir wollen gemeinsam, dass diese Große Koalition am Ende ihrer Amtszeit dafür steht, dass Deutschland im Bereich ?Bildung, Wissenschaft und Forschung? vorangebracht worden ist. Das ist unser gemeinsames Ziel, an dessen Erreichung wir trotz vieler unterschiedlicher Auffassungen in der Sache arbeiten.
Liebe Frau Kollegin Pothmer - Sie haben mich menschlich richtig enttäuscht -, ich weise Ihre Kritik am Ausbildungsbonus ganz entschieden zurück. Entschuldigung! Joschka Fischer würde sich politisch sozusagen im Grabe umdrehen. Ihr wart mal eine Partei der Sozialbewegungen. Lesen Sie das einmal nach: Der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit begrüßt das aktuelle Vorhaben, für jugendliche Altbewerber einen Ausbildungsbonus zu schaffen. Unterschrieben haben das Deutsche Rote Kreuz, die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend, die Bundesarbeitsgemeinschaft der regionalen Ausbildungsträger, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Internationale Bund für Sozialarbeit, die Katholische Jugendsozialarbeit usw. Und die Grünen zitieren die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände! Ich bin ja völlig fertig, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das kostet einen richtig Nerven.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Tauss, wir wollen nicht hoffen, dass Sie völlig fertig sind, zumal Sie noch fünf Minuten Redezeit haben.
Jörg Tauss (SPD):
Fünf Minuten und 49 Sekunden, Herr Präsident.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das wäre wirklich ein Jammer, zumal Ihnen die Kollegin Pothmer durch eine Zwischenfrage zu zusätzlicher Redezeit verhelfen möchte.
Jörg Tauss (SPD):
Kollegin Pothmer nimmt diese Kritik zurück; das finde ich prima.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Tauss, ich möchte einen Versuch unternehmen, die persönliche Enttäuschung, die ich Ihnen zugefügt habe, etwas abzumildern.
Jörg Tauss (SPD):
Menschliche!
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Diese menschliche Enttäuschung. - In dem Positionspapier, das Sie gerade zitiert haben, wird ausdrücklich kritisiert, dass das im SGB II vorgesehene Instrument - nämlich weitere Leistungen -, mit dem gezielt benachteiligte Jugendliche gefördert werden können, jetzt von der Bundesregierung unmöglich gemacht wird. In diesem Positionspapier wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass neben dem Ausbildungsplatzbonus insbesondere an den persönlichen Nachteilen der Jugendlichen angesetzt werden muss.
Ich möchte deutlich machen, wie hoch Mitnahmeeffekte sein können. Die Einstiegsqualifizierungen sind hier mehrfach lobend erwähnt worden.
Ist Ihnen bekannt, Herr Tauss, dass bei diesen Einstiegsqualifizierungen, die hier so hochgehalten werden und die ausdrücklich auf Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher gerichtet werden sollten, mehr als 50 Prozent der Personen mindestens einen Realabschulabschluss oder einen höheren Abschluss haben? So viel zu den zielgerichteten Maßnahmen dieser Bundesregierung. Nichts, aber auch nichts deutet darauf hin, dass das beim Ausbildungsbonus besser sein wird.
Jörg Tauss (SPD):
Liebe Kollegin Pothmer, jetzt bin ich menschlich ein bisschen beruhigt, weil ich merke, dass es Ihnen nicht um die Verlautbarung eines Verbandes aus der Wirtschaft geht, sondern um die Sache. Dazu kann ich Ihnen sagen: Damit rennen Sie offene Türen ein; denn genau über diesen Bereich, was die Frage des Anwendungsbereichs von § 16 und anderes anbelangt, haben wir in der Vergangenheit vielleicht zu wenig diskutiert. Das wollen wir nun ändern. Genau das steht übrigens in dem Schreiben; es liegt mir vor.
In dem Schreiben heißt es:
Um dies ... zu gewährleisten, bedarf es dringend realitäts- und bedarfsorientierter Alternativen zur bisherigen Ausschreibungspraxis ...
Darüber haben wir mit der Bundesagentur bereits vielfach geredet. Wir haben nicht nur geredet, sondern auch verbessert. - Ferner heißt es darin: Wir brauchen Aussagen zur Absicherung der Förderinstrumente in der Benachteiligtenförderung. - Auch dies ist in dem Programm vorgesehen.
Weil Sie auf die Realschülerinnen und Realschüler abgehoben haben: Ich habe die Situation bei der Schaffung eines Ausbildungsplatzes erlebt. In meinem Büro hat sich eine junge Frau als Auszubildende beworben. Sie hat einen ganz ordentlichen Realschulabschluss, hatte aber trotzdem über mehrere Jahre hinweg keinen Ausbildungsplatz bekommen. Sie war immer zweite Siegerin. Sie war gar nicht schlecht, aber ihr wurde keine Chance gegeben. - Von daher ist es natürlich richtig, dass wir uns auch um Realschülerinnen und Realschüler kümmern.
Klar ist dabei: Die Priorität muss natürlich bei denen liegen, die keinen Schulabschluss oder sonstige Defizite haben. Aber man kann doch die einen nicht gegen die anderen ausspielen. Man muss für alle etwas tun, die in den letzten Jahren nicht die Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Wir werden im Arbeitsausschuss miteinander vorankommen. Der Minister ist der Letzte, der dem im Wege steht.
Wir haben eine Diskussion geführt. Die Kollegin Aigner war gar nicht zufrieden, als die SPD vom Scholz-Bonus geredet hat. Sie hat gesagt, das sollten wir nicht tun. Das mache ich jetzt auch nicht,
auch wenn ich es nicht schlecht finde, dass man Namen mit Politik verbindet; Riester-Rente und wie auch immer.
Aber in der Tat - auch das ist heute schon angeklungen -: Es gibt viele Beteiligte. Wir könnten vom Schummer/Brase-Bonus reden.
Wir könnten vom Müntefering-Bonus reden. Wie gesagt, Scholz-Bonus gefällt mir ganz gut.
Wenn dieser Begriff, egal mit welchem Namen er versehen wird, dafür steht, dass für die Jugendlichen etwas getan wurde und Hunderttausende Jugendliche, die bisher keine Chance hatten, aus der Statistik der Altbewerber fallen und sich in betrieblichen Maßnahmen wiederfinden, dann wäre das ein großer Erfolg. Dass wir daran beteiligt sind, erfüllt uns natürlich mit großem Stolz.
Wir wollen das Instrument der Ausbildungspaten, Frau Kollegin Pothmer, in den Mittelpunkt stellen. Hier gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal auf die von Ihnen zitierten Arbeitgeberfreunde zurückkommen. Die Vertreter der Arbeitgeber in der Bundesagentur für Arbeit haben gemeinsam mit den Gewerkschaften ausdrücklich gefordert, dass wir Beitragsmittel in die Hand nehmen, um einen Bonus zu schaffen und damit etwas für die Altbewerber zu tun. Das Gemäkel aus Teilen der Wirtschaft kann ich also nicht ganz nachvollziehen. Aber wir werden mit allen ruhig darüber diskutieren und, wie ich glaube, diesem Projekt zum Erfolg verhelfen. Wir sind allerdings in der Tat darauf angewiesen, dass die Betriebe mitmachen. Aus diesem Grunde wollen wir über alle Bedenken, die in diesem Zusammenhang geäußert werden, sachlich diskutieren.
Kolleginnen und Kollegen, über die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher ist gesprochen worden. Was da geschieht, ist doch eine prima Geschichte. Ich bitte hier, insbesondere eines zu sehen: Wir wollen dafür sorgen, dass ein Internetauftritt eingerichtet wird, über den Erzieherinnen und Erziehern E-Learning-Angebote unterbreitet werden sollen. Ich weiß gar nicht, was es daran wieder auszusetzen gibt.
Dass dies nicht ausreicht, dass parallel dazu die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher verbessert werden muss, ist natürlich eine Tatsache, die jeder von uns kennt; darüber mäkelt im Grunde genommen auch keiner. Im Übrigen hat die Ministerin - auch das steht im Programm - gesagt, dass geprüft werden soll, das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz für Sozialberufe und damit auch für Erzieherinnen und Erzieher zu öffnen. Das finde ich prima. Die Ministerin hat gestern sogar angekündigt, dass sie das konkret in 2008 tun wolle. Da hat sie uns auf ihrer Seite. Die entsprechende Kritik, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht also ein Stück weit ins Leere.
Wir müssen noch einen weiteren Aspekt, den ich schon kurz angedeutet habe, ansprechen, nämlich die Integration junger Menschen, insbesondere solcher mit Migrationshintergrund. Eines müssen wir sehen - das steht in dem Bericht auch schwarz auf weiß drin -: Jugendliche mit Migrationshintergrund, also Kinder von Eltern, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, haben bei gleicher Leistung nur eine halb so große Chance, eine qualifizierte Berufsausbildung aufzunehmen, wie deutschstämmige Jugendliche. Eine halb so große Chance! Das ist ein gesellschaftlicher Skandal; denn so werden Bildungschancen ungerecht verteilt.
Herr Kauder - leider sehe ich ihn gerade nicht -, wir könnten die aktuelle Diskussion über den Populismus von Koch in Hessen ein bisschen herunterholen und damit auch einen Konfliktpunkt in unserer Koalition bereinigen, wenn einmal anerkannt würde, dass statt Wegsperren, Abschieben und Vergessen die Sicherung echter Chancengleichheit in der beruflichen Bildung insgesamt ein wichtiger Beitrag gegen Gewalt in diesem Lande wäre.
Auch dies ist ein wichtiger Punkt, den wir mit unserer Initiative erreichen wollen. Das finde ich gut; denn für mich ist das beste Erziehungscamp nicht besser als ein guter Ausbildungsplatz. Gute Ausbildungsplätze ersetzen im Zweifel keine Erziehungsmaßnahmen,
aber wir brauchen möglichst viele davon, um Chancengleichheit herzustellen und damit auch Jugendkriminalität einzudämmen. All dies hängt nämlich logisch zusammen.
Im Übrigen ist es ja nicht nur eine soziale Tat, wenn man Auszubildende einstellt. Ich habe vorhin von meiner Auszubildenden geredet. Ich habe in dieser Woche auch wieder einen jungen Menschen eingestellt. Es macht doch Spaß, mit jungen Leuten zusammenzuarbeiten, die an der Schwelle zum Eintritt in das Berufsleben sind, die neugierig und intelligent sind. Es geht doch nicht nur um die Sicherung des Fachkräftebedarfs, es geht im besten Sinne des Wortes auch um Zukunftssicherung. Auch Leute meiner Generation, die mit diesen jungen Leuten zusammenarbeiten, können etwas lernen und Spaß daran haben. Ausbildung stellt also nicht nur eine Belastung dar. Sie macht natürlich Arbeit und fordert einen heraus. Man sollte den Ausbildungsbetrieben sagen: Liebe Leute, macht etwas für die Auszubildenden! - Ich habe den Eindruck - das hat auch der Ausbildungspakt gezeigt -, dass sich diese Erkenntnis in den letzten Jahren in der Wirtschaft immer mehr durchgesetzt hat.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, einen Punkt möchte ich noch gerne ansprechen: Die Bundeskanzlerin, die ja heute Morgen hier freundlicherweise anwesend war und damit gezeigt hat, wie wichtig sie selbst dieses Thema nimmt, wird zu einem Bildungsgipfel einladen. Ich begrüße dies ausdrücklich. Ich sage das mit einem kleinen ironischen Nebenhieb, weil es noch gar nicht so lange her ist, dass Frau Merkel im Rahmen der Föderalismusdebatte sagte: Wenn der Tauss Schulpolitik machen will, soll er doch in den Landtag gehen. - Ich bin nicht in den Landtag gegangen und fühle mich hier unverändert sehr wohl. Dass ich immer noch über Schul- und Bildungspolitik reden kann und dass die Bundeskanzlerin zu einem Bildungsgipfel einlädt, das zeigt doch, wie weit wir im Laufe der Debatte gekommen sind. Ich begrüße diese Entwicklung sehr.
Die Erfolgsgeschichte der Initiative für kleine Forscherinnen und Forscher ist schon angesprochen worden. Ich bedanke mich sehr bei den Wirtschaftseinrichtungen und vor allem bei der Helmholtz-Gemeinschaft, die diese Initiative auf den Weg gebracht hat, um bei Kindern sowie deren Erzieherinnen und Erziehern ihr Interesse an den Naturwissenschaften frühzeitig zu wecken. Das ist prima.
Last, but not least. Was die Opposition heute vorgetragen hat, war allenfalls Gemäkel. Die Große Koalition kann auf dem Bildungssektor Impulse geben. Wir haben dies mit dem Hochschulpakt und der BAföG-Novelle getan. Wir setzen dies fort mit der Qualifizierungsinitiative zur Stärkung des Ausbildungsbereiches insgesamt. Wir wollen das Meister-BAföG ausweiten. Das alles verbessert die Chancengleichheit in unserem Bildungssystem, erzeugt Qualifizierungsperspektiven und sichert die Zukunft in unserem Lande.
Ich bin daher durchaus zufrieden. Wenn es dann auch noch schnell geht und es keine Blockaden von Länderseite oder anderer Seite gibt, dann hat die Große Koalition an dieser Stelle wirklich etwas bewirkt. Darauf können wir gemeinsam stolz sein.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/7754. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 16/5730 mit dem Titel ?Junge Menschen fördern - Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern?. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5732 mit dem Titel ?Perspektiven schaffen - Angebot und Struktur der beruflichen Bildung verbessern?. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21 b und zum Zusatzpunkt 8. Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7750 und 16/7733 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 h auf:
22. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungsbericht 2006)
- Drucksache 16/5211 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungsbericht 2005)
- Drucksachen 16/1483, 16/2999, 16/4594 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Uta Zapf
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abzug der Atomwaffen aus Deutschland
- Drucksachen 16/448, 16/4593 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben - US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen
- Drucksachen 16/819, 16/4592 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung heranführen
- Drucksachen 16/834, 16/4591 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Rolf Mützenich
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Dr. Norman Paech, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Unterstützung für die indische Atomrüstung
- Drucksachen 16/1445, 16/4590 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Uta Zapf
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivilbevölkerung wirksamer schützen - Streumunition ächten
- Drucksachen 16/2749, 16/4589 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Uta Zapf
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Jürgen Trittin
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine neuen Raketen in Europa - stattdessen Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskontrolle und Abrüstung
- Drucksachen 16/5456, 16/7516 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Jürgen Trittin
Zum Jahresabrüstungsbericht 2006 der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch diese Aussprache eineinhalb Stunden dauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung und Rüstungskontrolle sind lediglich Instrumente. Wenn sie aber angewandt werden, können sie die Zusammenarbeit und das friedliche Zusammenleben stärken. Deswegen ist der politische Wille die Voraussetzung für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Leider hat es in den vergangenen Jahren an diesem politischen Willen gemangelt. Ich bin daher der Bundesregierung dankbar, dass sie mit all ihren Kräften versucht, dafür einzutreten, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle vorangebracht werden. Politische Initiativen sind notwendig. Diese haben wir unternommen.
Auf der anderen Seite müssen wir natürlich feststellen, dass wir in einer Krise sind; das ist gar keine Frage. Denn an diesem politischen Willen hat es immer wieder gemangelt. Wir sind konfrontiert mit dem Aussetzen, mit der Missachtung und auch mit der Kündigung von Verträgen. Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten schon darüber diskutiert. Gleichzeitig sind wir mit einer großen Aufrüstung konfrontiert. Allein im vergangenen Jahr betrugen die entsprechenden Ausgaben 900 Milliarden Euro. Daran hatten die USA einen Anteil von 42 Prozent.
Dennoch ist es gut, darauf hinzuweisen, dass - wie ich gerade erwähnt habe - schon Initiativen unternommen worden sind. Ich möchte an erster Stelle daran erinnern, dass der Bundesaußenminister seit mehreren Monaten versucht, zum Beispiel zum internationalen Brennstoffkreislauf Vorschläge vorzulegen und sie mit den Partnern abzustimmen. Das hat viel mit dem Iran, aber auch mit der Diskriminierung innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu tun; Stichwort: Atomwaffensperrvertrag. Ich danke dem Außenminister für diese Initiativen.
Der eine oder andere in diesem Saal würde das vielleicht als Alleingang bezeichnen. Ich aber bin froh, dass dort ein Außenminister arbeitet, der mit Mut, Kreativität und Beharrlichkeit über den Tellerrand hinausschaut und die Dinge voranbringt. Vielen Dank!
Ich glaube, wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass wir versuchen, Initiativen wie die globale Partnerschaft mit Russland voranzubringen. Im Abkommen von Dayton zum Beispiel haben wir die Abrüstung und die Rüstungskontrolle verankert. Das war wichtig, damit das Instrument der Abrüstung und Rüstungskontrolle genutzt werden kann.
Ich will an eine andere Erfahrung anknüpfen. Vergegenwärtigen wir uns einmal, wie Libyen und Nordkorea auf den Weg der Abrüstung gebracht worden sind: durch Dialog, durch Verhandlungen und durch Gespräche. Eine Voraussetzung war unabdingbar: Man musste die Regime, die politischen Akteure anerkennen. Ich glaube, das sind wichtige Hinweise, wenn man versucht, gegenüber dem Iran die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Das Atomwaffenprogramm, das in der jetzigen Gestalt möglicherweise verdächtig ist, ist natürlich abzulehnen. Gleichzeitig ist aber auf Dialog, Kooperation und Angebote zu setzen. Nordkorea und Libyen haben den richtigen Weg gewiesen.
Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung und die hier vertretenen Parteien es mit den Vertreterinnen und Vertretern im amerikanischen Kongress schaffen würden bzw. wenn die Bundeskanzlerin es mit der neuen Präsidentin oder dem neuen Präsidenten schaffen würde, die Rüstungsbegrenzungskultur, die für die transatlantische Gemeinschaft immer gegolten hat, wiederzubeleben. Das gehört genauso dazu wie andere Initiativen. Deshalb bin ich dankbar, dass der deutsche Außenminister zusammen mit dem norwegischen Außenminister in der NATO versucht, die Abrüstungsinitiative voranzutreiben. Auch das ist ein gutes Signal, das von dieser Regierungsbank ausgeht.
Wer sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt, darf dies nicht für die Innenpolitik missbrauchen. Der eine oder andere Antrag, der heute hier vorliegt, beschäftigt sich eigentlich nur unter dem Aspekt der Innenpolitik mit diesem Thema. Ich glaube, deswegen übersieht der eine oder andere, dass zum Beispiel in Ramstein keine Atomwaffen mehr lagern. Er übersieht, dass Sozialdemokraten wie Peter Struck dafür eingetreten sind, dass in der NATO über die besondere Situation in Deutschland diskutiert wird. Ich fordere die Bundesregierung auf, dafür genauso einzutreten. Ich denke, das ist der richtige Weg. Wir müssen aber auch sagen: Es geht nicht nur um die wenigen Atomwaffen, die in Deutschland lagern, sondern um die taktischen Kernwaffen insgesamt. Sie müssen einer Nulllösung zugeführt werden, genauso wie damals die Mittelstreckenraketen. Das wäre die richtige politische Antwort.
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass wir hin und wieder widersprüchliche Hinweise geben. Die EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist wichtig gewesen. Sie hat natürlich etwas mit der Invasion im Irak zu tun, mit der Diskussion, die die USA damals provoziert haben. Die Verbreitung von Kernwaffen ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass die Kernwaffenmächte weiter qualitativ aufrüsten und sich gleichzeitig nicht an vorhandene Verträge halten. Auch das muss man ansprechen.
Ich glaube, wir müssen die Kernwaffenstaaten von hier aus auffordern, zu verhandeln, ihre Rüstungen zu begrenzen und abzurüsten. Das wäre die richtige Antwort.
Ich möchte versuchen, an dieser Stelle auf einen zweiten Widerspruch in Europa aufmerksam zu machen. Ich sehe mit Verwunderung, dass der französische Präsident bei seinen Besuchen im Nahen Osten immer wieder händeringend versucht, Atomkraftwerke anzubieten. Das ist sein gutes Recht; das spreche ich ihm nicht ab. Ich wäre aber dankbar, wenn er bei diesen doch etwas aufdringlichen Verkaufstouren versuchen würde, auf das Proliferationsrisiko hinzuweisen.
Deswegen wäre es gut, wenn die Bundeskanzlerin, wenn sie diese Risiken auch sieht, mit dem französischen Präsidenten darüber spräche. Eine gemeinsame europäische Initiative an dieser Stelle wäre notwendig.
Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Raketenabwehr aufmerksam machen. Gott sei Dank hat die neue Regierung in Polen Gelassenheit gegenüber diesem Thema an den Tag gelegt und versucht, alle Beteiligten in diesen Prozess einzubinden. Ich glaube, die Bundesregierung tut gut daran, die polnische Regierung dabei zu unterstützen. Denn wir brauchen Vertrauensbildung. Dafür sind Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig. Dafür ist auch der Dialog mit allen Partnern in diesem Verhältnis wichtig. Ich denke, da sind wir auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist der Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn liest und mit den Berichten der letzten Jahre vergleicht, muss man sagen: Das sind eigentlich Kapitulationsurkunden der Völkergemeinschaft gegenüber dem, was abrüstungspolitisch erforderlich wäre.
Das sind Dokumentationen des Stillstandes. Wenn wir im nächsten Jahr über den Jahresabrüstungsbericht 2007 reden, dann wird - das können wir jetzt, Anfang 2008, schon sagen - darin das Gleiche stehen wie in dem Bericht für das Jahr 2006, über den wir heute debattieren.
Seien wir ehrlich: Die letzten zehn Jahre waren für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik weitgehend verlorene Jahre. Weder in den sieben Jahren rot-grüner Koalition noch in den bisher zwei Jahren der Großen Koalition hatte die Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik Konjunktur. Ich freue mich, dass jetzt Signale, dass sich das ändern wird, zu sehen sind.
Es ist ein Fanal und für uns Europäer und übrigens auch für die jüngere Generation von Außen- und Sicherheitspolitikern fast beschämend, dass es die Altmeister der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sind - es handelt sich um William Perry, Henry Kissinger, Sam Nunn und andere -, die uns jetzt darauf aufmerksam machen, dass wir hier einen riesigen Rückstand haben. Der Weckruf in The Wall Street Journal dieser Woche ist alarmierend. Ich zitiere:
Wir stehen in der Frage der Verbreitung nuklearer Waffen und Technologien heute an einem entscheidenden Punkt. Wir sehen uns konfrontiert mit der ganz realen Möglichkeit, dass die Verbreitung dieser tödlichsten Waffen nicht mehr kontrollierbar ist. Und die Maßnahmen, die dem international entgegengesetzt werden, sind eindeutig unzureichend.
Es ist spannend und ermutigend, dass diese Debatte gerade in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wir sollten uns da nicht wegducken. Denn es sind ja - Herr Mützenich hat zu Recht darauf hingewiesen - gerade die offiziellen Atommächte, gerade auch die, die permanent im Weltsicherheitsrat sitzen, die sich an der Glaubwürdigkeit der globalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik versündigen. Natürlich ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass Länder wie der Iran den Nachweis führen müssen, weder im Haupt- noch im Nebenzweck zivile Atomprogramme militärisch zu missbrauchen. Das ist völlig richtig und notwendig. Aber wie viel glaubwürdiger wären wir - gerade wir im Westen -, wenn sich die großen Atommächte nicht nur um die Abwehr der Ambitionen neuer Nuklearmächte kümmern würden, sondern wenn sie Geist und Buchstaben der gültigen Rüstungskontrollabkommen auch tatsächlich gerecht werden würden?
Was ist mit Deutschland? Deutschland hat ohne Wenn und Aber auf den Besitz von und die Verfügung über Atomwaffen verzichtet. Ich denke, das wird niemand ändern wollen. Das ist ein Kapital für unsere Außen- und Sicherheitspolitik. Aber warum verkaufen wir das nicht offensiver? Warum ergreifen Sie, Herr Minister Steinmeier, nicht gemeinsam mit anderen nichtnuklearen Staaten - starken Industrie- und Schwellenländern - die Initiative, um gegenüber den Ländern der Dritten Welt und anderen Schwellenländern deutlich zu machen: Es gibt eine gute Perspektive in der Globalisierung, ohne Atommacht zu sein.
Noch in den 90er-Jahren hat eine Reihe von Staaten auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Gegenwärtig entwickelt es sich in die andere Richtung. Die internationalen Vertragswerke, die eigentlich die unkontrollierte Verbreitung verhindern sollten, scheinen zu erodieren. Es ist also höchste Zeit, dass etwas geschieht. Ich freue mich, dass die Bundesregierung jetzt offenbar aktiver werden will.
Die Münchener Sicherheitskonferenz könnte eine sehr gute Gelegenheit sein, auch von den Nuklearmächten einschließlich der engsten Verbündeten eine entschlossene Abrüstungspolitik einzufordern. Herr Minister, nutzen Sie diese Chance. Nutzen Sie endlich Ihre Möglichkeiten, Abrüstung und Rüstungskontrolle am Ratstisch in Brüssel wieder zu einem Thema zu machen,
zum Beispiel im Hinblick auf die Raketenabwehr und die nukleare Roadshow, die der französische Staatspräsident in Nordafrika und an anderer Stelle unternimmt. Nutzen Sie dieses Thema auch bei Ihren ernsthaften Versuchen, die Ratifizierung des angepassten Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa doch noch voranzubringen. Ich glaube, dass wir uns hier in eine gewisse Sackgasse begeben haben, aus der wir heraus müssen.
Meine Damen und Herren, an Papieren fehlt es nicht, auch nicht in Ihrer Partei, Herr Minister; der Kollege Mützenich ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Der Lackmustest für die Glaubwürdigkeit der Abrüstungspolitik der Bundesregierung wird aber demnächst anstehen, wenn es um den amerikanisch-indischen Nukleardeal geht. Dass dieser amerikanisch-indische Nukleardeal ausgerechnet von Deutschland und unter deutschem Vorsitz abgesegnet werden könnte, ist eine abenteuerliche Vorstellung.
Wenn das so läuft, dann gibt es bei der nuklearen Proliferation kein Halten mehr. Die Logik, die einige veranlasst, zu sagen, wenn wir diesem Deal zustimmen, dann können wir die Inder vielleicht Schritt für Schritt an die großen Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen heranführen, erweist sich als eine schiere Illusion, wovon sich auch die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Indien überzeugen konnte. Diese Auffassung wird nämlich von der Mehrheit im indischen Parlament nicht geteilt. Gerade weil eine Mehrheit im indischen Parlament diesen Deal nur mittragen will, wenn ein solcher abrüstungspolitischer und vermeintlich souveränitätsmindernder Nebeneffekt ausgeschlossen wird, überwiegen, wie Sie, Herr Mützenich, zu Recht gesagt haben, die Nachteile und die Risiken bei Weitem.
Deshalb wird Deutschlands Haltung zu diesem indisch-amerikanischen Abkommen der Lackmustest dafür sein, was wir von Ihren guten Worten über eine neue Abrüstungspolitik für bare Münze nehmen können. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass Sie diesen Lackmustest bestehen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg das Wort.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Hoyer, es ist tatsächlich eine erfreuliche Entwicklung, dass ein Orchideenthema der 90er-Jahre, das uns nach dem Ende des Kalten Krieges, aber auch noch um die Jahrtausendwende herum beschäftigt hat, nun in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt ist.
Das zeigt letztlich aber auch die ganze Dramatik. Dass wir dieses Thema heute nicht zum ersten Mal in der Kernzeit behandeln, ist genau der Fingerzeig, dessen es bedarf. Inhaltlich müssen wir aber mit Sicherheit noch weiter fortschreiten. Die Stichworte Nordkorea und Iran sind schon gefallen, und auch die Ereignisse, die wir insbesondere im letzten Jahr in Russland beobachten mussten, wurden bereits erwähnt.
Herr Hoyer, Ihr genereller Eindruck von den Abrüstungsberichten der letzten Jahre, dass im Grunde eine gewisse Stagnation festzustellen ist, ist nicht falsch. Das ändert aber nichts daran - das will ich an dieser Stelle deutlich machen -, dass wir gleichzeitig - wir wollen nämlich niemandem den Mut nehmen - Ihren beiden Häusern, meine Herren Minister, eine erstklassige Arbeit zu attestieren haben, was die Erstellung dieser Berichte und die notwendigen Signale anbelangt, die aus Ihren Häusern kommen; gelegentlich darf man in diesen Tagen ja auch einmal loben. Unser Dank gilt den Damen und Herren, die sich auf dem Gebiet der Abrüstung engagieren. Das ist kein leichtes Brot.
Die Entwicklung im rüstungskontrollpolitischen und im abrüstungspolitischen Bereich wird in meinen Augen von zwei wesentlichen Bewegungen bestimmt: von der Wiederbelebung alter Konfliktmuster, die wir eigentlich schon an den Rand gedrängt sahen, und davon, dass neue Bedrohungslagen entstehen, die in Teilen der Welt zu einer Modernisierung gewisser Waffenarsenale führen. Diese neuen Bedrohungslagen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staaten in ihrer Gesamtheit, vor allem aber die neuen, aufstrebenden Großmächte, nicht bereit sind - zumindest in großen Teilen nicht bereit sind -, auf die Erhaltung und den Aufbau ihrer Waffenarsenale in dem Maße zu verzichten, wie wir alle in diesem Hause uns das wohl wünschen würden. Selbstverständlich wäre eine massenvernichtungswaffenfreie Welt eine bessere Welt; darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Aber wir haben die Realität zu sehen. Eine international optimierte Rüstungskontrolle ist in meinen Augen zielgerichteter, als sich in utopische Schwärmerei zu begeben, romantischen Träumereien nachzuhängen und immer die Maximalforderung in den Raum zu stellen, ohne dabei die Schritte im Blick zu behalten, die gemacht werden müssen, um letztlich zu einem Ergebnis zu kommen. Denn wir müssen ergebnisorientiert arbeiten.
- Die Schwärmerei gilt nicht für die Fachleute, die wir hier haben; aber sie gilt für gewisse Bewegungen, die die Maximalforderung immer wieder gerne aufgreifen.
Es gab in den letzten Jahren bei aller Ernüchterung, Herr Hoyer, einige kleinere Fortschritte zu verzeichnen, gerade im Bereich der Rüstungskontrolle. So gingen einige Initiativen von europäischem Boden aus. Ein Punkt, der in diesem Kontext gerne unterschätzt wird: Viele Initiativen sind aus den Bürgergesellschaften Europas, aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Viele Initiativen haben sich im Bereich von Nichtregierungsorganisationen entwickelt. Engagierte Bürger haben Problemlagen aufgegriffen und zum Beispiel den rüstungskontrollpolitischen Aspekt mit menschenrechtlichen Grundgedanken zu koppeln gesucht. Gerade in unserem Lande gibt es hier einige Initiativen, die hervorzuheben sind. Ich will beispielhaft die Hamburger Erklärung nennen, deren Zielsetzung sich insbesondere auf den Schutz der Städte richtet, gekoppelt mit dem Anspruch, die Wirkungen von Streubomben zu vermeiden. Solche Initiativen können durchaus Impulse setzen; das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren. Es ist wichtig, dass wir so engagierte Menschen in unserem Lande haben. Dies sei nur beispielhaft hierfür genannt.
Trotz dieser Einflüsse dürfen wir eines nicht vergessen: Die Hauptakteure in diesem - ich setze das in Anführungszeichen - Spiel, und das ist fast ein zynischer Ansatz, werden die Staaten bleiben. Die Nationalstaaten werden sich als Teil des internationalen Systems von ihrer Aufgabe der Friedenssicherung nicht entbinden lassen können, gerade mit Blick darauf, dass andere Initiativen entstehen. Aufgrund dieser Erkenntnis müssen wir weiterhin den Schulterschluss mit denen, die wir als Partner begreifen, suchen und uns mit unseren Partnern über die Differenzen, die wir in gewissen Punkten haben, offen und klar austauschen. Wir müssen dabei weiterhin die Europäische Union und insbesondere die NATO als gewachsene Plattform für rüstungskontrollpolitische Aktivitäten betrachten und sie stärken; dies erscheint notwendig.
Auch in der Zukunft wird es entscheidend sein, mit dem Anspruch der Einigkeit mit unseren Partnern multilaterale Initiativen zu lancieren und durch internationale Regime globale Ordnungsmechanismen zu schaffen. Ich sage aber noch einmal: Die gebotenen Abrüstungsschritte sind an den sicherheitspolitischen Realitäten zu messen und nicht an dem, was wir uns möglicherweise letztlich wünschen würden.
Auch die internationale Rüstungskontrolle kommt nicht ohne Streit- und Konfliktlinien aus, und diese Konflikte müssen ausgetragen werden. Aber wir müssen auch sehen, dass nicht alle Mitglieder der Staatenfamilie - das gilt auch für enge Partner und solche, die wir uns als enge Partner wünschen - immer von den gleichen hehren Motiven getragen sind, auch wenn sie genau diese Motive in den Vordergrund stellen. So kommt es, dass rüstungspolitische Abkommen von manchen Staaten bewusst mit sachfremden Erwägungen verknüpft und als Druckmittel eingesetzt werden, leider teilweise mit Erfolg. Das ist aber ein Ansinnen, dem wir mit Entschiedenheit entgegenzutreten haben, gerade dort, wo enge Partnerschaften, möglicherweise sogar strategische Partnerschaften, bestehen oder gewünscht sind.
Ich möchte hier beispielhaft die einseitige Aussetzung des KSE-Vertrages durch Russland im vergangenen Dezember nennen. Was hier geschehen ist, halte ich für eine traurige Entwicklung, die nicht zielführend ist. Wir müssen in diesem gesamten Kontext durchaus auch die innere und außenpolitische Neuausrichtung Russlands im Blick behalten und dort kritisch sein, wo Kritik angebracht ist. Ich glaube, in diesem Punkt müssen wir kritisch sein.
Auch hier kann man immer wieder heraushören, dass es auch innerhalb Russlands Kräfte geben kann - an Abrüstung interessierte, in erster Linie zivilgesellschaftliche Kräfte -, die es zu fördern gilt. Diese tun sich aber schwer, hier durchzudringen und bei diesem Punkt innerhalb ihres eigenen Landes Erfolge zu erlangen.
Wir dürfen uns zudem keinem vordergründigen Kalkül beugen, den KSE-Vertrag und möglicherweise auch andere abrüstungspolitische Regime zur Erreichung anderer Ziele instrumentalisieren zu lassen. In unseren Augen bleibt der Kreml weiterhin aufgefordert, seinen internationalen Verpflichtungen uneingeschränkt nachzukommen. Das umfasst die vollumfängliche Erfüllung der Istanbul-Commitments. Das ist ein Schritt, den wir weiterhin einzufordern haben.
Es wird auch nicht zu Unrecht daran erinntert - auch in diesem Hause -, dass irgendwann einmal die Möglichkeit einer Ratifizierung gegeben sein könnte. Das ist richtig. Dies kann allerdings erst geschehen, wenn Russland im Gegenzug gleichzeitig seinen Verpflichtungen zum völligen Abzug aus Moldau und Georgien nachkommt. Die Istanbul-Commitments zählen für uns weiterhin und sollten auch eingefordert werden. Das bleibt richtig und wichtig.
Wir dürfen auch darauf hinweisen, dass von unseren russischen Partnern hinsichtlich INF und START I, das im Jahre 2009 einer Neubestimmung bedarf, ebenfalls kooperative Schritte angebracht wären.
Es bedarf in diesem Kontext aber auch des Hinweises von unserer Seite, dass wir insgesamt mit einer starken und glaubwürdigen westlichen Stimme zu sprechen haben. Mit diesem Anspruch haben auch unsere Partner und Freunde in den USA immer wieder zu kämpfen. Wir dürfen das hier offen ansprechen und den Hinweis geben, dass wir uns an dem einen oder anderen Punkt noch mehr Entgegenkommen und manchmal auch mehr Vorbildwirkung wünschen, um weitere Schritte einzuleiten.
Es ist richtig, dass es hier auch den einen oder anderen erfreulichen Schritt gab, zumal im vergangenen Jahr. Das hat in den Verhandlungen über INF und in einigen Initiativen, die mit Blick auf START I langsam und sehr schüchtern beginnen, seinen Niederschlag gefunden. Wir dürfen aber den Hinweis wagen, dass es gerade im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung einige Jahre gab, in denen die Vereinigten Staaten gelegentlich einen unseligen Pfad des Unilateralismus gegangen sind. Von daher nehmen wir eher erfreut zur Kenntnis, dass der Weg wieder hin zu multilateralen Ansätzen führt, sodass hier letztlich mit Ergebnissen gearbeitet werden kann.
Die Vereinigten Staaten stehen eben in besonderer Verpflichtung, den Bestimmungen des Nichtverbreitungsvertrages noch engagierter als bisher nachzukommen. Sie haben eine besondere Vorbildwirkung. Ich habe das bereits benannt. Diesen Ansatz dürfen wir von unserer Seite aus in aller Freundschaft immer wieder kundtun.
In diesem Kontext ist auch noch einmal der Abzug von Atomwaffen aus Deutschland zu sehen. Das kommt in dieser Debatte immer wieder. Ich glaube, auch hier müssen wir realitätsnah handeln und agieren. Wir haben immer wieder darin übereingestimmt, dass uns die Zielsetzung eint, wir aber hinsichtlich der notwendigen Schritte möglicherweise differieren. Ich glaube, dass wir uns hier immer wieder deutlich machen müssen, welche tatsächlichen Einflusssphären und Einflusspotenziale wir haben, um genau diese Schrittabfolge zu erreichen, die es zwar schon gibt, die aber in meinen Augen noch weitergehen könnte.
- Ich gucke nicht nur die SPD an, sondern auch Sie, Herr Nachtwei. Es war auch Ihr Außenminister, der im Jahre 2005 gemeinsam mit dem Bundeskanzler Schröder die Zielsetzung der nuklearen Teilhabe nicht infrage gestellt hat. Ich kann dabei also beide angucken.
Das gilt tatsächlich für alle - auch hinsichtlich der Verantwortung, die daraus erwächst.
Das größte und virulenteste Thema in diesem Jahr bleibt der Iran. Dies wurde bereits angesprochen. Auf diesem Feld werden wir mehr Kreativität brauchen als das bisher Gegebene. Es bleibt richtig und wichtig, unter dem Dach der Vereinten Nationen gemeinsam eine Lösung herbeizuführen. Deswegen halten wir auch eine dritte Sanktionsrunde weiterhin für erforderlich, Herr Bundesaußenminister. Wir werden aber auch alles ausschöpfen müssen, was uns an intellektuellen Impulsen gegeben ist, um weiterhin einem doch durchschaubaren taktischen Spiel des Irans zu begegnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Der ?National Intelligence Estimate? der Geheimdienste der Vereinigten Staaten hat eine gewisse Entwarnung gegeben, was mögliche Reaktionen anbelangt. Eine Entwarnung in Bezug auf das iranische Nuklearprogramm gibt es in meinen Augen nicht.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke.
Herr Kollege, Sie haben heute Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Abrüstungsberichte seit längerem verfolgt hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das alles schon mal irgendwie gelesen zu haben.
Zu diesem Déjà-vu gehört: Die Bundesregierung gibt sich in ihrer Darstellung in allen Foren - A-Waffen, B-Waffen, C-Waffen - erdenkliche Mühe, um den stagnierenden Rüstungskontrollprozess wieder in Gang zu bringen - und sei es im Schneckentempo; die Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik will ja, nur die anderen nicht.
Herr Außenminister, ich gestehe durchaus zu, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses dort erdenkliche Mühe geben. Das soll hier auch ausdrücklich gewürdigt werden.
Zu diesem Déjà-vu gehört aber auch: Die Bundesregierung versucht krampfhaft, der Öffentlichkeit eine Bettelsuppe als Bouillabaisse zu verkaufen. Es hilft doch einfach nicht weiter, den Schluss zu ziehen, es gebe bei der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik eine gemischte Bilanz. Es gibt keine gemischte Bilanz! Das ist Schönfärberei; das ist Augenwischerei.
Die Tendenz ist eindeutig. Es wird wieder mehr Geld für Waffen ausgegeben. Die Streitkräfte werden überall radikal modernisiert, und die Geschäfte mit Waffenverkäufen laufen weltweit wieder glänzend - egal in welche Richtung wir schauen. Im Westen gehen die USA mit ihren Kriegshaushalten mit weitem Vorsprung voran, die NATO im Schlepptau. Um uns herum folgt die Europäische Union, die auch ein neues, militärisch gestütztes Machtzentrum werden will, diesem Rüstungstrend, wenn auch zögerlich. Im Osten steigert Russland seine Militärausgaben. Im asiatisch-pazifischen Raum drohen neue Rüstungswettläufe. Und allgemein investieren alle die Staaten, die von dem Rohstoffboom der letzten Jahre profitiert haben, nicht zuletzt in Rüstung.
Zumindest für mich und für die Linke hängt dies unverkennbar auch damit zusammen, dass die führenden Militärmächte schon länger davon abgegangen sind, Streitkräfte für die Zwecke der Verteidigung oder der bloßen Abschreckung bereithalten zu wollen. Nein, heute geht es allenthalben um Einsatzarmeen, um Interventionsstreitkräfte. Dafür muss in großem Stil umgerüstet werden.
Leider wird dieser Zusammenhang bei allen anderen Kollegen in den übrigen Fraktionen systematisch ausgeblendet. Wenn wir heute über Abrüstung bzw. Aufrüstung reden wollen, ist dieser Zusammenhang aber zentral.
Mit Abrüstung hat dieser Trend also gar nichts zu tun.
Das hat niemand anderes als der Bundesaußenminister in unserer letztjährigen Debatte hier gesagt, indem er wörtlich erklärt hat:
Abrüstung erscheint wie ein Stichwort aus vergangener Zeit.
Selbst mit Rüstungskontrolle hat die aktuelle Entwicklung nichts zu tun. Bekanntlich geht es bei Rüstungskontrolle ja um gesteuerte und ausgehandelte Rüstungsentwicklung. Das ist noch etwas völlig anderes als Abrüstung. Aber selbst diese Art der Rüstungskontrolle ist gegenwärtig in einer tiefen Krise; Kollege Mützenich hat es gesagt.
In einem Bereich hatten wir substanzielle Einschnitte, und zwar bei den Antipersonenminen. Gott sei Dank sind einige Hunderttausende davon zerstört worden. Dies geschah aber auch aufgrund des Ottawa-Prozesses, also angestoßen durch zivilgesellschaftliche Initiativen, die in diesem Zusammenhang extrem wichtig sind.
Ich freue mich, dass endlich auch einmal ein Kollege von der CDU ein positives Wort dazu findet und einräumt, dass diese Initiativen elementar sind, wenn wir Abrüstung voranbringen wollen.
Ansonsten frage ich mich aber: Wo ist die gemischte Bilanz?
Es ist gut, wenn sich Staaten Zentralasiens für atomwaffenfrei erklären. Aber welche Bedeutung hat das, wenn gleichzeitig die bestehenden Atommächte ihre Arsenale kräftig modernisieren und perfektionieren? Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn - das ist schon erwähnt worden - eine bemerkenswerte Reihe von ehemaligen US-Außen- und -Verteidigungsministern ein kräftiges Umdenken in der atomaren Rüstungsfrage anmahnt. Aber wir wollen, dass sich endlich einmal im Amt befindliche Außen- und Verteidigungsminister für nukleare Abrüstung einsetzen.
In der Frage der Nuklearwaffen ist - das ist uns, glaube ich, allen klar - ein kritischer Punkt erreicht. Wir können uns in 2010 kein erneutes Scheitern der Überprüfungskonferenz leisten. Man muss über die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland, etwas zu verändern, reden. Lieber Herr Kollege Mützenich, da geht es nicht um Innenpolitik. Wenn man konstatiert, dass wir auf diesem Feld die Situation einer umfassenden Stagnation haben, dann stellt sich doch die Frage: Wie kann man einen Ausweg finden? Was könnte ein Schritt sein, um überhaupt wieder eine Dynamik anzustoßen? Ich meine, dass eine Bundesregierung da couragiert sein und mehr unternehmen muss als so einen kläglichen und zaghaften Vorstoß wie Herr Fischer damals in der NATO. Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass die bei uns in Büchel und Ramstein lagernden Atomwaffen wegmüssen.
Mit dem Verzicht auf nukleare Teilhabe kann man dann auch versuchen, die internationale Debatte zu beeinflussen.
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung zusammen mit Norwegen jetzt eine Initiative gestartet hat. Denn ohne eine gravierende Änderung der Sicherheitsphilosophie der NATO wird sich auch auf dem Feld der nuklearen Abrüstung nichts tun. Solange die NATO Nuklearwaffen für essenziell wichtig für unsere Sicherheit hält, wird sich nichts bewegen.
Die Bundesregierung wird künftig, auch bei den nächsten NATO-Gipfelkonferenzen, daran gemessen werden, ob sie diesen Pfad wirklich verfolgt, ob sie nicht klein beigibt und ob sie, gestützt auf Nichtregierungsorganisationen, auf die Middle-Power-Initiative und auf kritische Parlamentariergruppen, Druck ausübt, damit die NATO-Militärdoktrin an der Stelle geändert wird.
Wir müssen auch die Frage stellen: Wie sieht es bei der konventionellen Rüstung aus? Mit welchen dramatischen Veränderungen wir es seit dem Ende der bipolaren Konfrontation zu tun haben, zeigt sich meines Erachtens gerade an der Entwicklung der konventionellen Rüstung im europäisch-transatlantischen Raum. Der Ausgangspunkt des KSE-Vertrages war, Überraschungsoffensiven zu verhindern und deshalb schweres Gerät abzubauen. Das sollte in Richtung strukturelle Nichtangriffsfähigkeit gehen. Das war die Idee. Wenn man sich die heutige Entwicklung genauer ansieht, erkennt man, dass sich das ins Gegenteil verkehrt hat. Heute geht es um strukturelle Angriffsfähigkeit. Man will das nicht so nennen; aber was ist Interventionsfähigkeit anderes?
Es geht um die Fähigkeit zum offensiven Eingreifen, auch wenn es heute um andere Gegner geht, kleinere Staaten, nichtstaatliche Akteure, Terroristen. Aber im Sinne dieser offensiven Fähigkeiten sollen die Streitkräfte umgerüstet werden. Ich finde, dieser Entwicklung muss man Einhalt gebieten.
Nun sagt selbst die Bundesregierung, dass neu verhandelt werden muss, dass eine neue Abrüstungsinitiative geschaffen werden muss. Das finde auch ich. Man muss damit beginnen, den Prozess der Ratifizierung des KSE-Vertrages unverzüglich einzuleiten - sonst geht nichts -, und man muss eine neue Abrüstungsidee präsentieren; denn sonst wird nicht einmal der Status quo zu halten sein. Davon bin ich überzeugt.
Der Kollege Mützenich hat im Dezember zu Recht gesagt, dass wir ein KSE III brauchen. Ich finde, in dieser Richtung müssen wir weitergehen. Wir machen in unserem Entschließungsantrag diesbezüglich konkrete Vorschläge. Der erste Vorschlag ist, den Status quo in einem ersten Schritt als vertragliche Obergrenze festzulegen. Das dürfte doch völlig unkompliziert sein. Denn die tatsächlichen Bestände liegen weit unter den jetzigen Obergrenzen. Aber das wäre zumindest ein erster Schritt, um wieder Bewegung in die Sache zu bringen und deutlich zu machen, dass wir weiter vorangehen wollen.
Unser zweiter Vorschlag ist, die Bestände um ein Drittel zu reduzieren. Das klingt zunächst einmal sehr utopisch. Aber dass das utopisch klingt, zeigt meines Erachtens nur, wie unser Denken wieder von mehr Waffen und mehr Geld für das Militär geprägt ist. Wenn man sich die Dinge anschaut, stellt man konkret Folgendes fest: Über 50 000 Waffensysteme sind im KSE-Gebiet abgerüstet worden; fast dieselbe Menge ist durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedsländer in den 90er-Jahren verschrottet oder abgerüstet worden. Wir haben aber immer noch eine Riesenmenge.
Eine Verringerung um ein Drittel - es geht um ein Gebiet vom Atlantik bis zum Ural - würde konkret bedeuten: Es gäbe immer noch über 15 000 Kampfpanzer, über 18 000 Artilleriegeschütze, über 28 000 gepanzerte Kampffahrzeuge, circa 4 500 Kampfflugzeuge, weit über 1 000 Kampfhubschrauber und noch immer fast 2 Millionen Soldaten unter Waffen. Ich finde, diese solchermaßen reduzierten Waffenarsenale sind mehr als genug, um die Sicherheit in diesem Raum zu garantieren.
Ich will das kurz begründen. Erstens ist keine akute militärische Bedrohung dieser nördlichen Staaten von außerhalb absehbar. Oder fühlt sich jemand von den Maghreb-Staaten, Syrien oder Jordanien bedroht?
Zweitens. Die möglichen Spannungen zwischen den KSE-Mitgliedstaaten - beispielsweise zwischen Griechenland und der Türkei oder Russland und Georgien - müssen durch nichtmilitärische, diplomatische Mittel gelöst werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass solche Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden.
Drittens. Wir brauchen in der Tat ein neues Kooperationsverhältnis zu Russland. Ich halte es für keine gute Idee, wenn der NATO-Oberbefehlshaber mehr US-Truppen in Mitteleuropa belassen will und das mit der Vorsorge gegenüber einem wiedererstarkten Russland begründet. Positives Denken heißt, die Interessen der EU und Russlands in Übereinstimmung zu bringen. Dazu gehören meines Erachtens die Neuverhandlungen über Rüstungsreduzierungen.
Wie tief wir mittlerweile wieder in Rüstungswettläufen stecken, zeigt sich auch daran, dass Russland den Status seiner Atomwaffen wieder aufgewertet hat, weil man die drückende Überlegenheit der NATO im konventionellen Bereich kompensieren will. Das war früher genau umgekehrt. Wollen wir dieses Spiel endlos weiterspielen?
Auch das Beispiel Raketenabwehr zeigt, in welcher Weise die Russen reagieren: Sie wollen neue Raketen aufstellen, die die beiden Staaten Tschechien und Polen bedrohen. Das zeigt, dass wir uns wieder mitten in einem Rüstungswettlauf befinden.
Wir brauchen eine echte und substanzielle Trendwende. Das heißt, die NATO muss als großer Rüstungsblock vorangehen. Wir brauchen eine Wiederbelebung des Konzepts der gemeinsamen Sicherheit, und wir brauchen eine neue kooperative Sicherheitsarchitektur in Europa und damit die Revitalisierung der OSZE.
Für die Linke ist das eine prinzipielle Angelegenheit. Es geht nicht nur um die blutleeren Videosequenzen eines vermeintlichen Hightech-Krieges; vielmehr geht es um Massenvernichtungswaffen, um Terrorwaffen, wie die Gruppe um Hans Blix sie genannt hat. Es geht um Angst und Schrecken verbreitende Brandbomben, um Streumunition, die Zivilisten trifft, oder um mit abgereichertem Uran gehärtete Munition, die Menschen über mehrere Generationen schädigen kann.
Es geht auch darum, dass Rüstung auch im Frieden tötet. Mit den dafür verwendeten Mitteln könnte man sehr viele wichtige Aufgaben finanzieren. Abrüstung ist ein Gebot der Moral und der Vernunft.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Friedensgutachten 2007 schreibt Professor Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung - ich zitiere -: Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung liegen in einer beispiellosen Agonie. Die Hinrichtung der Rüstungskontrolle stand auf der Agenda einer Koalition von Neokonservativen und militärgläubigen Nationalisten, die bis zu den Kongresswahlen 2006 maßgeblich die Richtung der amerikanischen Sicherheitspolitik bestimmten. - Dass von der weltweiten Rüstungskontrolle wenigstens noch - ich zitiere weiter - Ruinen mit brauchbarer Substanz übriggeblieben seien, sei dem Widerstand anderer westlicher Staaten wie Kanada, Schweden und Deutschland zu verdanken.
Im Jahresabrüstungsbericht wird deutlich, wie vielfältig die Politik in dem Bereich ist, wie zäh und mühsam die Bemühungen auf diesem Feld sind und wie massiv und zum Teil fast deprimierend die Gegentrends sind. Deshalb finde ich es angebracht, gerade den Menschen zu danken, die in diesem Bereich konkret arbeiten. Dazu gehören hier im Auswärtigen Amt Botschafter Lüdeking sowie diejenigen, die im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr und vor Ort in Projekten zur Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration tätig sind, und die sich in Nichtregierungsorganisationen gegen Streumunition, Landminen und Atomwaffen einsetzen.
Wir sind uns alle einig, dass der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ein Eckpfeiler der Sicherheit in Europa ist.
Er ermöglichte in den 90er-Jahren - darauf wird zu Recht hingewiesen - eine beispiellose Abrüstung im Frieden. Inzwischen droht dieser Eckpfeiler aber einzustürzen. Am 12. Dezember setzte Russland den Vertrag einseitig außer Kraft. Das war so kurzsichtig wie destruktiv. Nun geht es um nicht weniger, als dieses Vertragswerk zu retten. Kollege Guttenberg, wer die Ratifizierungshindernisse - sie waren sicherlich vor Jahren berechtigt - angesichts erheblich veränderter Kräfteverhältnisse zwischen der NATO und Russland und angesichts dessen, dass es in Moldawien nur noch um ein Munitionsdepot geht, weiter anführt, verkennt den Ernst der Lage. Es ist nun notwendig, ohne weiteres Hin und Her zur Ratifizierung zu kommen.
Im letzten Jahr wurde das Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen zehn Jahre alt. In der Tat ist das Ottawa-Abkommen ein beispielloser Erfolg aus der Zivilgesellschaft heraus. Das hat es zuvor noch nie in der Weltgeschichte gegeben. Inzwischen steht der humanitäre Skandal um die Streumunition im Mittelpunkt. Diese Munition wirkt unterschiedslos und trifft gerade die Zivilbevölkerung in Nachkriegsgebieten. Die Bundesregierung tritt für ein Verbot von Streumunition ein; das ist gut so. Allerdings wird ihr Engagement ganz erheblich dadurch geschmälert, dass seit einem Bundestagsbeschluss, initiiert von der Großen Koalition - ich habe allerdings eher den Eindruck, dass manche Formulierungen vom Verteidigungsministerium kamen -, zwischen gefährlicher und ungefährlicher Streumunition unterschieden wird. Ich sage ganz deutlich: Das ist humanitäre Augenwischerei.
Es geht darum, die Bewegung gegen die Streumunition breit anzulegen und wirksam zu machen sowie für eine vollständige Ächtung von Streumunition einzutreten.
Zu Recht wird im Jahresabrüstungsbericht die Politik gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und für nukleare Abrüstung an erste Stelle gesetzt. Die Logik des Nichtsverbreitungsvertrages ist eigentlich ganz einfach: Der Verzicht auf den Erwerb von Atomwaffen ist nur möglich, wenn Atomwaffenstaaten ihr Versprechen der nuklearen Abrüstung ernst nehmen und zumindest schrittweise einlösen. Von Letzterem kann seit Jahren keine Rede mehr sein. Das Gegenteil findet sogar statt. Der Prozess der Verbreitung von Nuklearwaffen bzw. der dafür notwendigen Technologie droht - darauf wurde schon mehrfach hingewiesen - völlig außer Kontrolle zu geraten. Der von Präsident Kennedy formulierte Albtraum einer Welt mit Dutzenden Atomwaffenstaaten droht allmählich Realität zu werden.
Was kann Deutschland, was kann die Bundesregierung dagegen tun? Ich habe sicherlich kein Patentrezept. Aber ich möchte zwei Aspekte ansprechen, die dabei sehr wichtig sind. Erstens. In der Bundesrepublik gibt es - das wurde schon mehrfach angesprochen - einige Dutzend amerikanische Atomwaffen. Verglichen mit den 80er-Jahren ist das sicherlich nur ein Rest. Aber im Hinblick auf die Nichtverbreitungspolitik der Bundesregierung sind diese Atomwaffen ein enormer Klotz am Bein der Glaubwürdigkeit unserer Politik.
Diese Atomwaffen müssen - sie waren ethisch sowieso nie verantwortbar und sind militärisch längst nicht mehr zu begründen - abgezogen werden. Bringen Sie bitte ein bisschen Mut auf - das gilt auch für den Verteidigungsminister, der erfreulicherweise an der Abrüstungsdebatte teilnimmt -, und sorgen Sie dafür, dass diese Waffen abgezogen werden, die nukleare Teilhabe aufgegeben wird und alle taktischen Atomwaffen aus Europa verschwinden!
Ein zweiter Aspekt ist das Abkommen zwischen den USA und Indien über die Zusammenarbeit auf dem zivilen Nuklearsektor. Manchmal wird gesagt, mit diesem Abkommen könne die Atomwaffenmacht Indien an das System nuklearer Nichtverbreitung herangeführt werden. Das Motiv ist gut; aber die Tatsachen sind andere, und die Wirkung ist in völligem Gegensatz zu dem Motiv eine fundamentale Schwächung dieses Systems. Nun kommt es in der Tat darauf an, wie sich die Bundesregierung in der Nuclear Suppliers Group, in der Entscheidungen nur im Konsens möglich sind, hierzu verhält. Bitte nutzen Sie die Möglichkeit, diesen Schlag gegen nukleare Nichtverbreitung zu verhindern. Tun Sie dies nicht, können Sie die ganze Glaubwürdigkeit Ihrer sonst ehrlich gemeinten nuklearen Abrüstungspolitik in der Pfeife rauchen. - Herr Minister, Sie haben jetzt direkt das Wort dazu.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Nachtwei, die Worterteilung erfolgt immer noch durch den amtierenden Präsidenten. - Für die Bundesregierung hat nun Herr Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich bedanke mich für die doppelte Worterteilung am heutigen Morgen. - Ich erwarte nicht, dass die Regierung von der Opposition grenzenlos gelobt wird. Wenn dies immerhin mit Blick auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes geschehen ist, dann will ich mich dafür ausdrücklich bedanken.
Außerdem sage ich heute ausnahmsweise umgekehrt auch in Richtung der Opposition: Einen Großteil Ihrer Kritik kann ich sogar nachvollziehen. Auch ich bin nicht zufrieden - ich kann und werde nicht zufrieden sein - mit dem Stand, den der Abrüstungsbericht wiedergibt. Herr Hoyer, ich versichere Ihnen: Ich werde mich auch nicht damit abfinden, dass dies so bleibt, wie es ist.
Das ist letztlich der Grund dafür, warum ich in der Debatte, die wir hier vor einem Jahr geführt haben, sagte, mir erscheine es so - Herr Schäfer, Sie haben es eben zitiert -, als redeten wir hier über ein Thema aus einer vergangenen Zeit oder über ein, wie Herr zu Guttenberg gesagt hat, Orchideenthema, das die Reihen hier in diesem Hause und erst recht die Titelseiten der Tageszeitungen nicht mehr fülle. Insofern bin ich froh, dass wir, was die letzten zwölf Monate angeht, miteinander ein ganzes Stück vorangekommen sind. Nach der Beobachtung der vielen Außenministertreffen, die ich auf europäischer Ebene und international hinter mir habe, glaube ich, sagen zu können, dass dies immerhin wieder ein Thema der Gespräche zwischen den Außenministern geworden ist. Wenn ich die Zeitungen in den letzten Monaten richtig gelesen habe, dann ist auch die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber diesem Thema wieder gewachsen. Weil dies letztlich nicht nur meine, sondern auch Ihrer aller Arbeit ist, bedanke ich mich ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam daran gearbeitet haben, dieses wichtige Thema wieder ganz nach vorn auf die Tagesordnung zu holen.
Dies geht natürlich nie ganz ohne Streit und Kontroverse. Das wissen Sie, und das gilt gerade für dieses Thema. Rückblickend für die letzten zwölf Monate sage ich: Manchmal mag es ja sogar Sinn haben, sich etwas von dem sicherheitspolitischen Mainstream zu entfernen und das Schweigen, das gelegentlich mit ihm verbunden ist, zu durchbrechen, wobei man aber stets versuchen sollte, realistisch zu bleiben und nicht naiv zu werden. Ich rede über den Streit über Missile Defense.
Damit keine neuen Missverständnisse in diesem Hohen Haus und anderswo aufkommen, sage ich dazu: Natürlich dürfen wir neue Gefahren und neue Bedrohungen, die entstehen, nicht ignorieren. Das ist unsere Pflicht; dafür haben wir uns gegenüber der deutschen Bevölkerung verbürgt. Aber wir müssen schon sehr genau hinschauen, ob unsere Reaktion auf die möglicherweise wachsenden neuen Bedrohungen wirklich einen Zuwachs an Sicherheit bringt. Das ist der einzige Grund dafür, weshalb ich im letzten Jahr gesagt habe, wir sollten noch einmal darüber nachdenken, von wem solche Bedrohungen ausgehen, mit welchen Risiken sie für uns verbunden sind und ob sie allein ein Risiko für Europa, auch ein Risiko für die USA oder, was in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt, auch ein Risiko für Russland darstellen. Mein schlichtes Plädoyer vor einem Jahr war: Wenn das neue Bedrohungen sind, die auch Russland betreffen, dann gibt es eigentlich gar keine Notwendigkeit, hier Entscheidungen über den russischen Kopf hinweg zu treffen, sondern das bedeutet, mindestens den Versuch zu machen, Russland, das Objekt dieser neuartigen Bedrohungen sein könnte, in die Gegenwehr mit einzubeziehen.
Niemand, auch ich nicht, kann Ihnen sagen, ob das am Ende gelingen wird. Aber in der abrüstungspolitischen Debatte, die wir heute Morgen führen, kann man doch sagen, dass es immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Zustand von vor zwölf Monaten ist, dass sich die USA und Russland jetzt in Gesprächen befinden, in denen Vorschläge ausgetauscht werden, wie man sich gemeinsam gegen eine mögliche neuartige Bedrohung zur Wehr setzt. Das ist ein Fortschritt gegenüber dem letzten Jahr.
Diesen Fortschritt wünschte ich mir ausdrücklich auch beim KSE-Vertrag, Herr zu Guttenberg. Das ist mir ein wirkliches Anliegen. Ich sehe das Risiko für uns Europäer eigentlich darin liegen, dass es sein könnte, dass Teile der vertragschließenden Parteien - sowohl der USA als auch Russlands - nicht mehr dasselbe Interesse an der Erhaltung dieses Vertrages haben, wie das noch zum Abschluss der Fall war.
Was bedeutet das für uns? Das heißt nicht, dass wir uns jetzt zerknirscht hinsetzen können und diesen Prozess beobachten können; vielmehr müssen wir daran erinnern, dass dieser KSE-Vertrag im Grunde genommen das Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur ist.
Wir dürfen für uns daraus ableiten, wenn die Bewertung richtig ist, dass wir dieses Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur auch durch den Willen der beiden Hauptstädte Moskau und Washington nicht in Gefahr geraten lassen dürfen. So ist es keine leichte Aufgabe, aber immerhin haben wir uns dieser Aufgabe gestellt.
Wir sind die Ersten gewesen, die im Oktober des vergangenen Jahres nach Bad Saarow eingeladen und erstaunlicherweise die Feststellung gemacht haben, dass all diejenigen, die sich bis dahin nicht zu Wort gemeldet hatten, das gleiche Anliegen verfolgt haben, nämlich danach zu suchen, wie der KSE-Vertrag in seiner Grundstruktur erhalten bleiben kann und wie wir in einen Prozess eintreten, in dem möglicherweise die Ratifizierung Fortschritte macht. Nach Bad Saarow haben wir mittlerweile zwei Folgekonferenzen gehabt, eine in Paris und eine in Madrid. Wir haben von den Russen, denen wir vorwerfen müssen, dass sie den gegenwärtigen Zustand, in dem wir sind, provoziert haben, die Zusicherung, dass sie trotz des Inkrafttretens des Moratoriums bei diesen Gesprächen weiterhin präsent sein werden und nach einer Lösung suchen, die sich an den schon vorhin referierten Kriterien orientieren muss.
Das Jahr 2008 wird uns abrüstungspolitisch nicht in Ruhe lassen, aber immerhin hat es mit einigen ganz positiven Signalen begonnen, Signalen der Unterstützung. Herr Hoyer und viele andere von Ihnen haben den Artikel von Kissinger, Shultz, Perry und Sam Nunn über eine atomwaffenfreie Welt im Wall Street Journal zitiert. Das ist ein anspruchsvolles, aber nicht unrealistisches Programm, wie man dort hinkommt.
Interessant ist auch - Sie alle, die Sie in den letzten Wochen in den USA unterwegs waren, haben das mitbekommen -, dass das nicht etwas ist, was isoliert für diese vier Personen steht. Das ist ein Thema, das sich in der amerikanischen Öffentlichkeit, auch auf den Titelseiten amerikanischer Tageszeitungen, breitmacht. Deshalb, so glaube ich, dürfen wir durchaus hoffen, dass diese Stimmen gerade im Zuge der Vorbereitung auf die Präsidentschaftswahl zusätzlich Gehör finden.
Wenn wir bei Atomwaffen sind, dann sind wir auch bei der Reform des Atomwaffensperrvertrags. Die ganze Thematik können wir jetzt hier nicht behandeln, aber ich bin einig mit denen, die vorhin hier am Mikrofon gesagt haben, dass wir es uns nicht noch einmal leisten können, dass eine nächste Überprüfungsperiode so ergebnislos ausgeht wie die letzte.
Das setzt allerdings voraus, dass, erstens, die Atommächte bereit sind, an einer Reform, die das Regime des Atomwaffensperrvertrages nachhaltig sichert, mitzuwirken, und dass, zweitens, wir, die wir auf Atomwaffen verzichtet haben, mit Ideen zur Seite stehen, um eine Reform möglich zu machen. Das ist der Grund dafür, dass wir uns beteiligen, zum Beispiel mit Vorschlägen zur Internationalisierung des Brennstoffkreislaufes. Auch hier kann ich Ihnen ankündigen: Wir werden Ende März in Berlin eine Tagung veranstalten, auf der wir versuchen wollen, in der internationalen Staatengemeinschaft bei Fragen wie dieser Mehrheiten zu bekommen.
Herr Hoyer, ich bin - wenn ich das sagen darf - nicht Ihrer Meinung, dass in der Nuklearfrage Indien/USA der Lackmustest nur dann bestanden wird, wenn wir in der Nuclear Suppliers Group bei einem schlichten Nein bleiben. Warum sage ich das? Die Lage ist komplex, und sie ist unbefriedigend. Sie ist aber nicht deshalb unbefriedigend, weil wir dort eine Entscheidung zu treffen haben; sie ist vielmehr deswegen unbefriedigend, weil der Atomwaffenstatus Indiens sich weit über den völkerrechtlichen Rahmen hinaus entwickelt hat.
Wir stehen jetzt vor der schwierigen Frage, wie wir darauf eigentlich reagieren. Völlig klar ist: Wir müssen von Indien gemeinsam verlangen, dass es Safeguard-Abkommen mit der EU trifft, dass es die internationale Kontrolle sicherstellt und dass es sich auch zur nuklearen Abrüstung als Ziel bekennt. Das alles ist zwar völlig richtig, nur beantwortet es die Frage noch nicht.
Das gilt auch dann, wenn es sich im Augenblick eher anders verhält, wie Sie ganz richtig beschreiben.
Wir müssen doch fragen: Wie reihen wir uns in das System internationaler Kontrolle eigentlich ein? Das war Gegenstand meiner Gespräche, die ich erst gestern Vormittag in Wien mit al-Baradei geführt habe. Wir müssen mit folgendem Sachverhalt verantwortungsvoll umgehen: Wenn wir die Auffassung vertreten, dass wir eine internationale Kontrolle unter dem Dach der Vereinten Nationen, ausgeübt durch die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien, brauchen, dann können wir die Interessen einer VN-Behörde bei unseren eigenen Entscheidungen nicht ignorieren, auch nicht ausnahmsweise. Damit sage ich nicht, dass unsere Entscheidung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wenn wir im Übrigen dafür plädieren, den völkerrechtlichen Rahmen und die Arbeit der Vereinten Nationen zu achten, dann können wir diesen Aspekt hier nicht einfach außen vor lassen. Damit sage ich nicht, dass die Entscheidung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wir sollten das berücksichtigen.
Ich bedanke mich, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass Fragen der Streumunition, der Kleinwaffen, des Umgangs mit Landminen von dieser Bundesregierung durchaus erfolgreich aufgegriffen worden sind. Diese Fragen zu behandeln, bleibt eine Aufgabe für das laufende Jahr. An all diesen Aufgaben wollen wir mit großer Hartnäckigkeit arbeiten.
Ich komme zum Schluss. Abrüstungsarbeit bleibt wichtig. Sie wird immer Mühsal der Ebene bedeuten und nie schnelle Erfolge hervorbringen. Abrüstung wird einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität aber nur dann leisten können, wenn wir wieder lernen, stärker in den Kategorien von regionalen Sicherheitsstrukturen zu denken.
Deshalb plädiere ich dafür, dass sich unsere Diskussion nicht in Tagesfragen verliert. Regionaler Sicherheitsstrukturen bedarf es in Asien, im Mittleren Osten und auch im Nahen Osten. Auch ich wünsche mir manchmal, dass die Welt einfacher wäre, als sie es tatsächlich ist. Es ist nur leider nicht so.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister Steinmeier, natürlich: Die Welt ist nicht einfach. Wir werden uns verheben, wenn wir glauben, dass wir durch unsere Debatte hier die Welt und die Arbeit für sie einfacher machen können. Ich hatte in der Diskussion am heutigen Morgen den Eindruck, dass wir hier in diesem Hause zwar in Nuancen unterschiedlicher Meinung sind, dass wir aber in den Grundstrukturen der Abrüstungspolitik in vielen Punkten durchaus auf einer gemeinsamen Basis aufbauen können. Wenn Sie eine belastbare Analyse der neuen Bedrohungsszenarien vorlegen, wenn wir gemeinsam versuchen, alte Reflexe abzulegen, um zugunsten der Bewältigung neuer Herausforderungen eine neue Politik zu betreiben und eine neue Diskussion zu führen, dann können Sie sicherlich mit der Unterstützung dieses Hauses rechnen.
Wir diskutieren heute über den vorliegenden Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn genauer liest, stellt man fest: Es wird auch hier vonseiten der Bundesregierung der Eindruck erweckt, sie käme in Krisenzeiten ihren selbstgesteckten Zielen einer verantwortungsvollen Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik in vollem Umfang nach.
Wenn ich mir jetzt aber Ihre Worte vergegenwärtige, insbesondere in Bezug auf das Thema, das der Kollege Hoyer und viele andere Kollegen mit Recht auf die Agenda gesetzt haben, nämlich wie sich die Bundesregierung in der Nuclear Suppliers Group zum Thema US-indisches-Nuklearabkommen verhält, bedaure ich es doch sehr, dass Sie dazu hier im Plenum keine klaren Worte gefunden haben. In dem Moment, in dem wir von der bisherigen Linie abweichen, legen wir an die Grundfesten der Nichtverbreitung und des Nichtverbreitungsvertrages wirklich Hand an.
Wir werden hier ganz klar, wie viele andere Kolleginnen und Kollegen des Hauses auch, darauf drängen, dass Sie genauso wie andere Mitgliedstaaten - Irland und Schweden haben beispielsweise grundlegende Bedenken angemeldet - zu diesem Thema nicht weiterhin schweigen wie die Bundeskanzlerin anlässlich ihres Indienbesuches, sondern uns Parlamentariern rechtzeitig darüber Klarheit verschaffen, wie Sie sich dann verhalten.
Wir sind der Auffassung, dass die bilateralen Vereinbarungen zwischen Washington und Neu Delhi in ihrer jetzigen Form die Normen und Prinzipien der nuklearen Nichtverbreitung unterminieren und dass sie im Widerspruch zu dem stehen, was der Bundestag seit vielen Jahren und Jahrzehnten fordert. Durch Ihr Schweigen vergeben Sie auch eine historische Chance, Indien tatsächlich an das Nichtverbreitungsregime heranzuführen. Solche Fragen müssen im Vorfeld geklärt werden. Man kann es nicht dem Prozess danach überlassen, dass man sich Schritt für Schritt auf den NPT zubewegt. Ich denke, es ist ein Gebot der Fairness und der Verlässlichkeit, im Vorfeld belastbare Signale und Reaktionen zu finden.
Wenn so etwas wie nukleare Doppelstandards entstünden, die kaum zu erklären wären, wenn wir über die Schwierigkeiten mit Iran diskutieren, würden wir uns in eine Position begeben, mit der wir die Funktion eines ehrlichen Maklers im Bereich der Abrüstungspolitik verlassen würden. Wir sollten uns davor hüten, unser gutes und hohes Ansehen, das wir in der Welt auf diesem Gebiet haben, aufs Spiel zu setzen, um vielleicht an der einen oder anderen Stelle einer Vorstellung Nahrung zu geben, die wir dann nicht erfüllen können.
Deutschland wird im Mai 2008 den Vorsitz haben. Wir erwarten von der Bundesregierung daher, dass sie den Vorsitz dazu nutzt, entsprechende abrüstungspolitische Bedingungen einzufordern.
Die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit ist ein Kapital, das Deutschland nicht aufs Spiel setzen darf. Wenn renommierte Außenpolitiker wie Henry Kissinger - ich darf an dieser Stelle aber auch unseren ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erwähnen - vor dem Zerfall der etablierten Nuklearordnung und vor der drohenden Gefahr einer neuen Phase der nuklearen Aufrüstung warnen, sollte dies für uns alle Anlass genug sein, uns heute hier Gedanken darüber zu machen, welchen Beitrag wir dazu leisten können.
Ich darf jetzt auf das Thema Iran noch kurz zu sprechen kommen, auch angesichts der Redezeit. - Für einen dauerhaften Erfolg beispielsweise der Entschärfung der iranischen Nuklearkrise werden die P 5 und Deutschland, die in der nächsten Woche wieder in Berlin zu Beratungen zusammenkommen werden, auch bereit sein müssen, neue Wege und Anreize zu finden. Deswegen bin ich froh, dass hier heute erwähnt worden ist, dass über neue Strategien oder überhaupt über eine Strategie diskutiert wird. Machen wir uns nichts vor! Die Signale von Zerstrittenheit, die zurzeit gegenüber dem Iran ausgesendet werden, sind alles andere als hilfreich, wenn es darum geht, in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis zu kommen.
Solange einige Akteure hinter den Kulissen den Anreicherungsstopp und einen potenziellen Regime-Change immer noch miteinander verknüpfen und solange beschlossene Wirtschaftssanktionen in der Realität von vielen unterlaufen werden, wird die bisherige Drohkulisse gegenüber dem Iran langfristig wenig Wert haben. Wenn die eigene, die interne Glaubwürdigkeit dadurch infrage gestellt wird, dann müssen wir uns doch nicht wundern, wenn Iran mit seinen vielfältigen internationalen Wirtschaftsbeziehungen Möglichkeiten suchen wird, einen Bypass zu finden. Das wird immer möglich sein; deshalb muss über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen nachgedacht werden, auch um die eigene Glaubwürdigkeit zu erhalten.
Wir sind deshalb der Meinung, dass die Aufnahme von bilateralen Verhandlungen zwischen Washington und Teheran spätestens nach den US-Präsidentschaftswahlen zumindest in Erwägung gezogen werden muss, zumindest angedacht werden sollte. Einen Erfolg bilateraler Verhandlungen konnten wir ja im Zusammenhang mit dem Atomprogramm Nordkoreas feststellen. Ich bin der Auffassung, dass Gespräche miteinander immer nützlich sind, gerade bei solch schwierigen Themen, damit, wie Sie, Herr Minister, es gesagt haben, die Welt etwas einfacher wird. Dadurch wird nämlich die Möglichkeit eröffnet, den gemeinsamen Bedenken, die beide Partner haben - man muss alle Seiten ernst nehmen -, Rechnung zu tragen, auch durch neue strategische Überlegungen: weg von den alten Reflexen, hin zu einer Abrüstungspolitik, die der Realität auf unserer Welt gerecht wird. In diesem Bereich haben Sie unsere Unterstützung; denn wir alle haben ja das Interesse, Frieden zu schaffen.
Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es uns im Jahr 2008 gelingen wird, positive Signale zu senden, und dass wir nicht immer wieder feststellen müssen, dass letztendlich alle unseren guten Worte in einer Sackgasse münden. Daran wollen wir alle gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist nun der Kollege Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion.
Holger Haibach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns, wie ich glaube, in der Analyse einig, dass sich die internationalen Abrüstungsbemühungen in einer Krise befinden. Ich würde sagen, dass diese Krise Ausfluss einer anderen Krise ist, nämlich der Krise der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt. Überall, wo in internationalen Strukturen agiert wird, sehen wir große Probleme. Denken Sie nur an die Reform der UN oder andere Dinge. All das wirkt sich eben auch an dieser Stelle aus.
Natürlich ist es richtig, dass dann einem Land wie Deutschland eine besondere Bedeutung zukommt. Herr Hoyer hat darauf hingewiesen, dass wir dadurch, dass wir uns - richtigerweise - entschlossen haben, Atomwaffen zu entsagen, in einer besonderen Position sind. Frau Hoff hat davon gesprochen, dass wir Deutsche sozusagen die Position des ehrlichen Maklers übernehmen können. Wir sollten uns aber davor hüten, deutsche Außenpolitik mit Erwartungen aufzuladen, die sie beim besten Willen zu erfüllen nicht in der Lage ist. Wir haben eine wichtige Aufgabe; das ist keine Frage. Wir sollten aber - das ist, wie ich glaube, auch wichtig, zu sehen - realistisch mit unseren Chancen und Möglichkeiten umgehen. Ich kann das gerne am Beispiel des amerikanisch-indischen Deals festmachen.
Ich habe großes Vertrauen in diese Bundesregierung und gehe davon aus, dass sie sich nach besten Kräften bemüht. Aber wenn der Bundesaußenminister nach Neu-Delhi fliegt und seinem indischen Amtskollegen sagt: ?Begebt euch einmal schön unter den Hut der internationalen Gemeinschaft?, so wird das - das ist mein Eindruck - wohl kaum dazu führen, dass das tatsächlich sofort so geschieht. Insofern müssen wir immer schauen, welche Möglichkeiten wir haben, auch aufgrund der Führungsrolle, die wir in der Nuclear Suppliers Group haben, aber wir sollten uns nicht überschätzen.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich diese ganze Debatte irgendwo zwischen Fatalismus und Idealismus abspielt. So müssen wir - es ist richtig, was der Bundesaußenminister da gesagt hat - versuchen, dazwischen einen vernünftigen Weg zu finden. Die Politik der Bundesregierung zeigt ja sehr deutlich, dass man sich stark bemüht: Es gibt - das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen - quasi keine internationale Krise und quasi keine internationale Vereinbarung, an der diese Bundesregierung nicht maßgeblich beteiligt gewesen ist, sei es der Nahostkonflikt, sei es der Atomstreit mit Nordkorea, sei es die Krise der KSE.
- Nicht an der Krise, sondern an der Bewältigung dieser Krise. - Es gibt auch noch viele andere Bereiche, in denen diese Bundesregierung beteiligt ist. All diejenigen, die kritisieren, dass die Erfolge nicht so gewesen sind, wie sie es sich gewünscht hätten, die dürfen nie außer Acht lassen, dass wir nicht die einzig Beteiligten gewesen sind. Dass die Bundesregierung einen großen Anteil an der Beilegung von Konflikten gehabt hat, steht außer Frage. Das sollten wir auch deutlich machen.
Ich möchte einen zweiten Punkt erwähnen. Es wird davon gesprochen, dass beispielsweise der amerikanisch-indische Nukleardeal eine Herausforderung für die etablierte Nuklearordnung sei. Das ist zweifelsohne richtig. Um dieses Thema müssen wir uns ernsthaft kümmern. Es führt uns weiter zu der Frage, ob diese Nuklearordnung eigentlich unserer heutigen Zeit noch gerecht wird. Sie stammt aus einer Zeit, als es nur vier Nuklearstaaten gab. Je nachdem, welchen Geheimdienstberichten man glauben will, kann man sagen, dass es heute zehn, fünfzehn oder zwanzig Staaten gibt, die in der Lage sind, spaltbares Material und vielleicht Bomben zu produzieren. Da stellt sich die Frage, ob wir unser internationales Instrumentarium nicht an dieser Tatsache ausrichten und weiterentwickeln müssen. Denn wir werden kaum in der Lage sein, mit Instrumenten, die vor zehn oder zwanzig Jahren wirkungsvoll gewesen sind, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Wir müssen vielmehr zu Veränderungen bereit sein.
Das heißt aber nicht, dass wir von unserem Ziel ablassen, sondern dass wir die heutigen Gegebenheiten anerkennen.
Der Bundesaußenminister hat recht, wenn er sagt, dass die Welt leider nicht so einfach ist, wie wir sie uns gerne machen würden, wenn wir es denn könnten.
Dies gilt zum Beispiel auch - das ist ebenfalls schon vom Kollegen zu Guttenberg deutlich gemacht worden - für das Thema Raketenabzug aus Deutschland. Wir reden über amerikanische Waffen, die sich quasi auf amerikanischem Boden befinden und die unter NATO-Kuratel stehen. Deshalb wird es für uns nicht einfach sein, zu sagen, dass diese Raketen in Deutschland nicht stationiert bleiben können. Wir sind uns zwar im Ziel einig. Aber Kollege zu Guttenberg hat schon klargemacht, dass wir in der Frage, auf welchem Weg wir das Ziel erreichen, unterschiedlicher Meinung sein können.
Die klare Sicht auf die Dinge in der Welt, die die Bundesregierung bewiesen hat, kann man auch beim Thema Streumunition relativ deutlich erkennen. Der vorgelegte Dreistufenplan ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. All diejenigen, die kritisieren, dass das zu wenig ist und dass man Streumunition lieber heute als morgen verbieten sollte, dürfen nicht übersehen, dass wir nicht die einzigen sind, die das Heft des Handelns in der Hand haben. Die großen Staaten, die Streumunition produzieren, haben sich in Wien bis zuletzt sehr stark dagegen gewehrt, dass es überhaupt zu einer Vereinbarung gekommen ist. Insofern finde ich, dass auch an dieser Stelle die Bundesregierung ihre Bereitschaft zum Handeln und auch ihren Blick für das Machbare bewiesen hat.
Ein letzter Punkt, den ich in dieser Debatte ansprechen möchte. Es geht um die Frage, wie wir uns in den internationalen Konflikten verhalten. Es geht dabei nicht nur um Russland und um den Raketenschild; es geht nicht nur um Nordkorea. Viele kleine Konflikte zeigen, dass wir mit unserer Strategie auf dem richtigen Wege sind: Einerseits müssen wir unsere Entschlossenheit zum Handeln und andererseits die Bereitschaft zu Verhandlungen zeigen.
Man kann über Nordkorea geteilter Meinung sein. Aber eines ist klar: Der große Konflikt ist abgewendet. Trotzdem darf man Nordkorea an dieser Stelle nicht aus der Verantwortung entlassen. Nordkorea ist seiner Berichtspflicht bis heute nicht nachgekommen. Die Frist endete am 31. Dezember. Es ist daher richtig, dass dieser Vorgang weiter beobachtet wird und zu internationalen Konsequenzen führen muss.
Ich glaube, dass wir hier eine Debatte führen, die nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit findet. Das gilt für die Abrüstung genauso wie für die zivile Krisenprävention. All das sind keine Themen, die - wie man so schön auf Neudeutsch sagt - sexy sind. Interessanterweise findet jede Diskussion über die Verlängerung von Militäreinsätzen in den Medien wesentlich mehr Widerhall als die Diskussion, die wir heute Morgen führen. Nichtsdestoweniger entbindet dies nicht von unserer Pflicht, unsere Arbeit fortzusetzen.
- Entschuldigung, die Presse kontrollieren wir nicht. Wir haben Gott sei Dank ein freies Land. Das kann man zwar bedauern, man muss es aber zur Kenntnis nehmen.
Wir sind alle aufgefordert, unsere Bemühungen voranzutreiben und unseren Teil dafür zu tun. Bleiben wir dabei aber realistisch und bewahren wir uns den klaren Blick für das, was machbar ist.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Bonde für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da das Außenbild der Koalition in Klima und Stil nicht gerade von Abrüstung geprägt ist, ist es schön, dass zumindest in dieser Debatte über große abrüstungspolitische Linien sowohl in der Koalition als auch im ganzen Haus gewisse Gemeinsamkeiten festzustellen sind.
Der Jahresabrüstungsbericht 2006 liefert viel Interessantes. Es ist allerdings auch interessant, zu sehen, wie wenig an der einen oder anderen Stelle steht, wo es dünn wird, und festzustellen, wo die grundsätzlichen Linien, über die wir uns einig sind, im konkreten Handeln mit der einen oder anderen politischen Linie kollidieren. Das eine oder andere Engagement ist wohl doch zu hinterfragen. Der indische Nukleardeal ist angesprochen worden.
Wichtig ist aber auch die Frage der Streumunition. Die Bundesregierung hat sich mit einem Trick, mit der Aufteilung in gefährliche und ungefährliche Streumunition, aus der Bewegung herausgestohlen. Wenn man diesen Trick durchzieht, wird man bei der Streumunition am Ende nur eine Modernisierung, aber keinen Ausstieg aus der Nutzung dieser gefährlichen Munition erreichen. Man muss bei dieser Koalition immer genau zwischen den Zeilen lesen. Ich fürchte, dass Sie auf die Position ?Streumunition ist gefährlich - Punkt? zurückgebracht werden müssen.
Wenn die Bundesregierung unsere gemeinsame Position ernst nimmt, muss sie mehr offensive Initiativen vorlegen. Wir bedauern sehr, dass im Rahmen der G-8- und der EU-Ratspräsidentschaft in diesem Zusammenhang von Deutschland wenig zu hören war.
Ein Aspekt, der uns besonders irritiert, taucht im Abrüstungsbericht in einem Nebensatz auf. Es geht um die Frage der Planung von US-Raketenabwehrsystemen in Europa. Ich zitiere aus dem Bericht:
Neben dem Investitionsbedarf für aktuelle Einsätze werden umfangreiche Ressourcen für Entwicklung und Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystems und die Erzielung von sog. space dominance verwendet.
Ich finde, dass es einem Bericht wie diesem gut anstehen würde, sich mit den möglichen Konsequenzen auseinanderzusetzen. Herr Minister, was Sie hier gesagt haben, ist sehr wohltuend. Wir wüssten aber schon gerne, ob das die Position der gesamten Bundesregierung ist. Es war wohltuend, von Ihnen zu hören, dass Sie Gefahren sehen. Wir wüssten aber gerne, ob Sie die deutsche Position nun endlich in den europäischen Gremien vertreten, da die Diskussion dort schon eine ganze Weile läuft. Stoßen Sie dort Warnungen aus, und werden diese ernst genommen?
Es ist ja kein Zufall, dass auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges über die Beschränkung von Raketenabwehrsystemen verhandelt wurde. Das war ein wichtiges Element, um aus der Rüstungsspirale - Abwehr und Abwehr der Abwehr - auszubrechen. Mit dem, was im Moment auf dem Tisch liegt, kommen wir potenziell auf diese Position zurück. Das ist eine Fragestellung, die Europa insgesamt betrifft, die im Moment aber im Rahmen von trilateralen Verhandlungen verhandelt wird. Ich kann nicht erkennen, dass die Bundesregierung alles tut, was in ihrer Macht steht, um diesen Prozess in einen europäischen Diskussionsprozess zu überführen. Diese Dynamik birgt auch Gefahren; denn die Fragestellung setzt Anreize, Waffen, die in der Lage sind, diese Abwehrsysteme zu überwinden, in größerer Stückzahl zu produzieren.
Die Diskussion über diese Planungen hat es Nationen wie Russland natürlich erleichtert, Modernisierungsprogramme nach innen zu legitimieren. Wir alle erinnern uns an den Auftritt von Präsident Putin im letzten Jahr.
Wenn wir uns hier in abrüstungspolitischen Linien einig sind, erwarte ich von der Bundesregierung, dass ihre Handlungen dann auch in diese Linien passen und dass man keine gegenteiligen Signale sendet in Debatten, die nicht laut genug oder mit unklarer Position geführt werden, und dass man sie nicht offensiv konterkariert. Ich wünsche mir mehr abrüstungspolitische Reden von Ihnen, auch außerhalb von abrüstungspolitischen Debatten, nämlich in den Gremien, in denen zum Schluss tatsächlich entschieden wird, in welche Richtung diese Welt läuft.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion.
Uta Zapf (SPD):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoyer, ich will Sie ein bisschen aufheitern; Sie waren bei Ihrer Rede so deprimiert.
Am 14. Januar dieses Jahres hat Barbados den Atomteststoppvertrag ratifiziert.
Das ist doch eine gute Nachricht. Aber vielleicht ist das schon das Ende der guten Nachrichten. Ich denke, deshalb sind wir hier auch so engagiert. Ich bin ein bisschen erschrocken, Kollege zu Guttenberg, als Sie gesagt haben, das sei ein Orchideenthema.
- Gut: gewesen. Das mag ja sein.
Ich teile diese Meinung nicht. Denn womit haben wir es hier zu tun? Mit ganz harten sicherheitspolitischen Realitäten. Wenn sich diese verschlechtern, wenn wir nicht handeln, dann kann es tatsächlich zu einer Katastrophe kommen. Wenn Sie sagen, Visionen seien nicht so wichtig, sondern die Schritte, die dorthin führen, dann möchte ich gerne die ehemalige Außenministerin von Großbritannien, Frau Beckett, zitieren, die sagt: Wir brauchen Visionen, damit wir wissen, welche Schritte wir unternehmen müssen, um dort hinzukommen.
Ich glaube, das ist was, was wir hier tun, was unser Außenminister tut und was wir in unseren Anträgen vorschlagen.
Wenn Shultz, Perry, Kissinger und Nunn in ihrem hier schon zitierten Aufruf in The Wall Street Journal schreiben, das das ganze System am Rande des Verderbens, auf der Kippe steht, dann müssen wir das, denke ich, sehr ernst nehmen. Wir müssen noch einmal ganz konkret die Diskussion darüber führen, was wir machen können. Dazu möchte ich gern ein paar ganz konkrete Vorschläge machen.
Der erste betrifft die Frage, wie wir damit umgehen, dass bestehende Abrüstungsverträge entweder überhaupt gar nicht umgesetzt werden, zum Beispiel START II, oder auf der Kippe stehen, zum Beispiel INF, also der Mittelstreckenvertrag, dass andere wie START I auslaufen oder dass andere ohne Verbindlichkeit sind, weil sie schnell widerrufbar, schnell kündbar, nicht irreversibel und nicht überprüfbar sind wie SORT. Es gibt einen Hinweis: Die USA und Russland haben in Bezug auf INF eine Initiative zur Multilateralisierung dieses Vertrages angekündigt. Ich denke, das ist eine gute Initiative.
Denn das gesamte Problem beschränkt sich nicht auf diese beiden Staaten, sondern hat mittlerweile wesentlich größere Dimensionen erreicht. Wenn es gelingt, diese Diskussion anzustoßen, könnten wir einen Schritt weiterkommen. Für START I muss man mindestens eine Verlängerung erwirken oder versuchen, einen Nachfolgevertrag auszuhandeln. Darauf sollten wir bei der Überprüfungskonferenz Hinweise geben. Die Folgeverträge müssen im Gegensatz zu SORT unumkehrbar und überprüfbar sein.
Ich lobe jetzt einmal mit wenigen Worten einige Initiativen, wie zum Beispiel die Initiative zum Brennstoffkreislauf. Ich denke, das ist eine ganz wichtige Initiative, bei der Deutschland eine ganz große Rolle gespielt hat. Das müssen wir voranbringen.
Man muss einmal ein bisschen hinter die Kulissen schauen. Warum ist Abrüstung so unpopulär und schwierig geworden? Ich glaube, es liegt an zweierlei. Es liegt vor allen Dingen an der Rolle der Nuklearwaffen in den Strategien. Wer Nuklearwaffen zu Einsatzwaffen erklärt, wird schlicht und ergreifend andere nicht zum Verzicht auf diese Waffenkategorien überreden können.
Ich glaube, das ist eine Aufgabe, über die auch innerhalb der NATO diskutiert werden muss. Ich bin für die Initiative von Norwegen und Deutschland dankbar. Man muss die Bedeutung von Nuklearwaffen innerhalb der NATO in der Tat weit ?herunterzonen?. Dabei muss man auch über den Abzug der hier stationierten amerikanischen Waffen reden.
Lassen Sie mich noch etwas intensiver auf ein Thema eingehen, das mir immer sehr am Herzen gelegen hat - es ist von manchen Kolleginnen und Kollegen bereits angerissen worden -: Wie wird sich Deutschland in der Nuclear Suppliers Group in Bezug auf das US-indische Abkommen verhalten? Das ist eine ganze schwierige Aufgabe. Hier muss man mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgehen.
Kollege Haibach hat gesagt, die Nuklearordnung sei veraltet. Ja, sie ist veraltet. Es gibt aber viele Prinzipien, die auch in einer neuen Nuklearordnung Bestand haben müssen. Das sind Prinzipien, die verhindern, dass Atomwaffen unter dem Deckmäntelchen der zivilen Nutzung der Energie hergestellt werden.
Ich glaube, wir müssen in der Nuclear Suppliers Group in Bezug auf dieses Abkommen folgende Bedingungen stellen: Indien muss den CTBT zeichnen, ein Teststoppmoratorium einhalten und die Produktion von waffenfähigem Material verbindlich stoppen. Ich meine, man müsste von Indien auch verlangen, dass sich dieses Land ähnlich wie andere Staaten zur Abrüstung seiner Nuklearwaffen und nicht etwa zur weiteren Aufrüstung verpflichtet und sicherstellt, dass die vorhandenen Arsenale nicht mithilfe aus der zivilen Nutzung abgezweigten bzw. umgeleiteten Materials aufgestockt werden können.
Das wäre ein Weg, Indien näher an das Nichtverbreitungsregime heranzuführen. Wenn das durchgesetzt werden könnte, dann würde ich mich sehr freuen. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn wir in diesem Hause einen gemeinsamen Antrag in diesem Sinne beschließen könnten, weil das unserer Regierung ein Stück weit den Rücken stärken würde.
Danke sehr.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Gert Winkelmeier (fraktionslos):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Beim Studium der Jahresabrüstungsberichte kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die jeweiligen Bundesregierungen darin stets kräftig auf die eigene Schulter klopfen. Nicht dass ich etwas dagegen hätte; Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk. Wenn Sie das aber machen, dann müssen Sie auch Substanzielles vorweisen können. Daran hapert es gewaltig.
Die Bundesregierung betont immer wieder das seit Erlangung der vollen Souveränität gewachsene Gewicht Deutschlands innerhalb der Staatengemeinschaft. Sie leitet daraus den Anspruch ab, in der Welt mehr als früher mitzureden und mehr Verantwortung zu übernehmen. Das ist an sich löblich. Doch eigenartigerweise hören wir diese Begründungen meistens dann, wenn es darum geht, militärische Einsätze zu rechtfertigen oder einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu fordern.
Ich frage mich, wo die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung beim Thema ?Abrüstung und Rüstungskontrolle? bleibt. Hier könnte Deutschland international punkten und sein Ansehen durch rüstungskontrollpolitische Initiativen weltweit signifikant verbessern,
wenn auch nicht bei jedem seiner Verbündeten; das will ich gerne eingestehen.
Exemplarisch für die Kluft zwischen dem Anspruch und dem realen Handeln der Bundesregierung ist folgender Vergleich: Auf Seite 4 des Jahresabrüstungsberichts 2006 steht, es bleibe das vorrangige Ziel der Bundesregierung, ?den internationalen Konsens ? über die ? Dringlichkeit der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu bewahren.?
Doch diesem Ziel fehlt es am notwendigen Engagement. Auf Seite 23 lesen wir im Zusammenhang mit dem Biowaffenübereinkommen:
Wegen der weiterhin großen Sprengkraft des Themas wurde die Einführung eines Verifikationsmechanismus für das BWÜ nicht weiter verfolgt.
Doch was nützt der Welt eines der umfassendsten Waffenverbote, solange ein entsprechendes Kontrollsystem fehlt - und das seit über 30 Jahren! Wir wissen alle, wer hier der Hauptbremser ist. Sie rühmen sich, die Überprüfungskonferenz 2006 proaktiv vorbereitet zu haben. Nur, wo bleibt dieses Proaktive gegenüber der NATO-Führungsmacht? Ist die Bundesregierung jemals auf die Idee gekommen, die zynischen, menschenverachtenden Hoffnungen des Paul Wolfowitz anzuprangern, dass biologische Waffen eines Tages zu einem politisch nützlichen Mittel werden könnten? Nein. Solche Sätze stehen aber seit 2000 in einem offiziösen US-Strategiepapier. Bisher übt sich die Bundesregierung diesbezüglich in beredtem Schweigen.
Mangelnde Konsequenz aus bündnistaktischen Gründen gibt es auch in vielen anderen Bereichen. Einige möchte ich ansprechen. So werden in Büchel in Rheinland-Pfalz beim Jagdbombergeschwader 33 noch immer amerikanische taktische Atomwaffen vorgehalten. 18 Jahre nach Ende des Kalten Krieges und der Abschreckungsstrategie der gesicherten gegenseitigen Vernichtung müssen diese Waffen endlich abgezogen werden. Das wäre ein glaubwürdiges Signal, dass Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag ernst nimmt.
Ein anderes Beispiel: Unter den Blindgängern von Streumunition haben weltweit Millionen unschuldiger Zivilisten zu leiden. Auch hier agiert die Bundesregierung halbherzig, weil sie an der Option für den Einsatz dieser Munition weiterhin festhält. Hier kann es aber nicht nur darum gehen, wie Sie meinen, die Zivilbevölkerung besser zu schützen. Nein, Streumunition ist geächtet. Sie gehört weltweit vernichtet. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung auf die NATO-Führungsmacht und andere Staaten einwirken.
Das ist der wirksamste Schutz für die Zivilbevölkerung. Ich erwarte, dass Sie dem Beispiel Österreichs und Belgiens folgen und Streumunition ohne Wenn und Aber ächten. Das ist nachahmenswert, hier sollten Sie abrüstungspolitische Verantwortung übernehmen.
Was ich in Ihren Abrüstungsberichten völlig vermisse, ist die sogenannte DU-Munition; das ist Munition, die mit einem Mantel aus abgereichertem Uran umhüllt ist. Die Bundeswehr hat so etwas nicht in ihren Beständen; doch die USA und andere Bündnispartner setzen solche Munition ein und vergiften und verstrahlen mit dem entstehenden Urandioxid ganze Landstriche. Auch auf diesem Feld übernehmen Sie keine politische Verantwortung.
?Außenpolitik ist Friedenspolitik?, liest der Besucher auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Wer wollte dem widersprechen? Eine erfolgreiche Friedenspolitik setzt aber international Vertrauen voraus. Ob dieses Vertrauen durch eine halbherzige Abrüstungspolitik entsteht, ist zu bezweifeln. Denn gleichzeitig wird die Bundeswehr zur globalen Interventionsarmee umgebaut. Es ist Abrüstungsscharlatanerie, wenn in der Bundeswehr nur Material abgerüstet wird, das nach dem Umbau zur weltweit agierenden Armee sowieso nicht mehr benötigt wird.
Letzter Gedanke. Wir dürfen gespannt sein, ob sich die Bundesregierung bei der anstehenden Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zur militärischen Aufrüstung verpflichten wird. Eben das wäre kein abrüstungspolitisches Signal und widerspräche der Intention dieser Debatte.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Hans Raidel für die CDU/CSU-Fraktion.
Hans Raidel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, auch die heutige Debatte zeigt, dass Deutschland in Abrüstungsfragen ein wichtiger Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir müssen unser Licht durchaus nicht unter den Scheffel stellen.
Herr Minister, ich bedanke mich bei Ihrem Hause sehr herzlich für die geleistete Arbeit. Es stimmt einfach nicht, wenn hier festgestellt wird, dass sich Deutschland an der Fortschreibung dieser wichtigen Ideen nicht konsequent und nicht ausreichend beteilige. Das Gegenteil ist der Fall. Wir können viele Beispiele dafür anfügen, nicht nur aus dem Bereich der Abrüstung und Nichtverbreitung: wir sind auch im Bereich der Kleinwaffen tätig. Mit dem International Code of Conduct unterstützen wir die Rüstungsexportkontrolle. Gerade an der Vernichtung von Munition und überzähligen Waffen sind wir mit viel Geld und Engagement beteiligt, um beispielsweise Reste aus den vergangenen Kriegen, insbesondere in Russland, zu beseitigen.
Der Vorwurf, wir würden in praktischen Fragen zu wenig tun, trägt also mit Sicherheit nicht. Es ist natürlich immer richtig, die Frage zu stellen. Wer keine Visionen hat, ist kein Realist. Wir sind aber visionär und betrachten die Dinge gleichzeitig realistisch. Das bedeutet natürlich, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie die einzelnen Probleme im sogenannten Krisenbogen zu sehen sind. Wir nehmen uns jedes einzelne Land vor, von Indien angefangen über den Iran bis hin zu Pakistan und anderen Ländern. Diese Themen sind uns geläufig und bekannt.
Natürlich wissen wir, dass wir uns neu justieren müssen. Wir wissen auch, dass wir insgesamt eine Neubewertung vorzunehmen haben, weil viele Instrumentarien, die in der Vergangenheit richtig waren, heute möglicherweise neu zu bewerten und einzuordnen sind. Wir wissen, dass Verhandlungen und Dialog heute die wichtigsten Instrumente sind und zum Erfolg führen, dass Drohungen und Sanktionen nur selten wirksam sind und dass zur Problemlösung neben Sicherheitsgarantien auch Anreize gehören, die größer als die Furcht vor Nachteilen sein müssen. Das ist ein ganz entscheidendes Thema, das in dem Bereich Verhandlung und Dialog besonders dargestellt werden muss.
Kofi Annan hat in seiner Abschlussrede als UN-Generalsekretär festgestellt, dass Abrüstungsschritte im Rahmen der bestehenden Verträge über atomare, biologische und chemische Waffen sträflich vernachlässigt worden sind. Sein Nachfolger stellt auch fest, dass die Anstrengungen verstärkt werden müssen. Vielleicht wäre es ja gut, wieder einmal den Vorschlag zu machen, im Rahmen der UNO eine weltweite Konferenz durchzuführen, damit diesen wichtigen Themen wieder der Stellenwert zugewiesen werden kann, der ihnen eigentlich innewohnt. Sie wissen, dass es verschiedene Anläufe dafür gab. Sie alle sind damals gescheitert. Eine Neuauflage wäre aus meiner Sicht durchaus wichtig.
Der nächste wichtige Punkt ist meiner Auffassung nach, die Amerikaner und die Russen, die die eigentlichen Key-Player bei diesen ganzen Themenkreisen sind, vor einer Art Selbstisolation zu bewahren. Im Moment hat man den Eindruck, als ob sie wichtige Abrüstungsthemen mehr innen- als außenpolitisch motiviert einfach hochstilisieren, wobei sich jeder mehr der eigenen Sache als dem Ganzen verpflichtet fühlt. Es wurde darauf hingewiesen: Das war früher, in den 70er- und 80er-Jahren, als die großen Abrüstungsthemen zielführend verhandelt werden konnten, ein bisschen anders. Man muss die USA wieder an diese Rolle heranführen. Auch Russland muss begreifen, dass seine Position - es stellt zum Beispiel Zusammenhänge zwischen der Raketenstationierung und anderen Problemen her - letztlich nicht zielführend sein kann.
Wir sollten die Genfer Verhandlungen wieder mit neuem Leben erfüllen. Sie wissen, die einzelnen Regime, über die dort verhandelt wird, leiden derzeit alle - ich sage es einmal ganz vorsichtig - an einer übermäßigen Zurückhaltung der Akteure, sodass nicht einmal Tagesordnungen gestaltet werden.
Sie haben auf das Scheitern der letzten Konferenz im Jahr 2005 hingewiesen. Auch hier trifft der Vorwurf nicht Deutschland. Wir haben mit unserer Arbeit dazu beigetragen, dass die einzelnen Regime nicht gänzlich abgelehnt worden sind, sondern wenigstens neue Anläufe vereinbart worden sind. Auch darauf haben Sie hingewiesen.
Aus meiner Sicht ist wichtig, dass Deutschland hier nicht alleine als Schrittmacher auftritt, sondern dass wir in all diesen Fragen den europäischen Kontext suchen; denn ich glaube, dass sich die Effektivität und die Effizienz stark erhöhen könnten, wenn wir europäisch mit einer Stimme sprächen, wenn wir hier eine gemeinsame Sprache hätten. Meines Erachtens sind wir durchaus der Motor einer Europäisierung all dieser Aufgaben.
Es wurde davon gesprochen, dass das Jahr 2008 zu einem Jahr des Stillstandes werden könnte. Wir müssen alles tun, damit das nicht eintritt. In diesem Zusammenhang gibt es zwei Eckpunkte. Das eine ist die Präsidentschaftswahl in Russland, das andere die Wahl in Amerika. Man muss nun versuchen, das Rad weiterzudrehen. Das Jahr 2009 wird dann die Nagelprobe bringen, inwieweit die neuen Regime bereit sind, sich als Key-Player wirklich auf diese Fragen einzulassen.
Denn es ist richtig, wenn festgestellt wird, wer wann wo welches Interesse hat und wer wen stützt. In diesen Bereichen findet ein trickreiches Spiel statt. Die Frage ?Wer nützt wen aus?? ist nicht unberechtigt, vor allem auch nicht folgende Frage: Woher kommt das Geld, um in unliebsamen Bereichen die Finanzvorlagen zu unterstützen?
Ich meine, dass Deutschland auf einem guten Weg ist. Wir dürfen Stillstand und Rückschritt nicht zulassen. Wir sollten uns weiterhin nicht beirren lassen, Herr Minister. Selbstverständlich gehören auch Seitenwind und Gegenwind dazu. Das Parlament gibt Ihnen und allen Einrichtungen der Bundeswehr sowie dem Außenministerium aber den notwendigen Rückenwind. Unser Ziel muss weiter sein, dass Deutschland in all diesen Fragen Motor, Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir helfen mit, wo wir helfen können. Dies liegt in unserem ureigenen Interesse.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Andreas Weigel für die SPD-Fraktion.
Andreas Weigel (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vielzahl der Anträge, die wir heute unter diesem Tagesordnungspunkt behandeln, kommt schon einem abrüstungspolitischen Rundumschlag gleich. Von einigen ist gelobt worden, dass wir das Thema Abrüstung an so prominenter Stelle im Bundestag behandeln. Tun wir dies aber immer nur dann, wenn sich eine bestimmte Anzahl von Anträgen angesammelt hat, so halte ich das für bedenklich. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass wir aktuell Bezug auf das nehmen, was geschieht, und aktuelle Bewertungen vornehmen.
Vor diesem Hintergrund ist es in meinen Augen sehr bedenklich, dass wir in dieser Woche in einigen Ausschüssen noch den Jahresabrüstungsbericht 2004 behandelt haben.
In der Kürze der Zeit will ich mich auf das Thema Streumunition und insbesondere auf die laufenden Verhandlungen dazu konzentrieren. Ich habe durchaus berechtigte Hoffnungen - und viele in diesem Haus auch -, dass wir bei diesem Thema im Jahr 2008 zu einem erfolgreichen Abschluss kommen.
Streumunition ist für die Szenarien des kalten Krieges gemacht. In der Realität ist ihre Wirkung verheerend. 98 Prozent der Opfer sind Zivilisten. Die Selbstzerstörungsmechanismen funktionieren unter realen Kampfbedingungen oftmals nicht so, wie wir uns das vorstellen, und versagen. Eine erst jüngst veröffentlichte Studie von norwegischen Militärexperten zum Libanon-Krieg 2006 hat belegt, dass die angegebene Blindgängerrate von 1 Prozent tatsächlich eine Blindgängerrate von 10 Prozent bedeutet.
Wer sich von Ihnen in den letzten Wochen im Paul-Löbe-Haus die Ausstellung ?Explosives Erbe des Krieges? angeschaut hat, wird gesehen haben, welche eindrucksvollen Erfolge wir in den letzten Jahren erzielen konnten, aber auch, vor welchen Herausforderungen wir noch stehen. Welche Herausforderungen wir noch zu bewältigen haben, konnte ich in den letzten Wochen bei einem meiner Besuche in Afghanistan selber erleben. In Afghanistan sind über 4 Millionen Menschen unmittelbar durch Minen und Blindgänger bedroht. Projekte zur Minenräumung führen dazu, dass Taliban das Räumpersonal beschießen, sodass mittlerweile mehr Räumpersonal durch den Beschuss von Taliban als durch das Beseitigen von Minen ums Leben kommt.
Vor vier Wochen haben wir im Unterausschuss ?Abrüstung? eine öffentliche Anhörung zum Thema Streumunition durchgeführt. Die eingeladenen Experten haben einhellig auf die Unzuverlässigkeit und die fehlende militärische Notwendigkeit von Streumunition hingewiesen. Die humanitären Schäden, die durch diese Munition verursacht werden, wiegen weit schwerer als der militärische Nutzen. Umstritten ist auch die Zuverlässigkeit sogenannter alternativer Munitionstypen, die nicht für Flächen-, sondern für Punktziele eingesetzt werden sollen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss das oberste Ziel für uns ein umfassendes Verbot von Streumunition sein. Ziel ist, die Herstellung, Verbreitung und Verwendung dieser Waffen zu sanktionieren. Es ist klar, dass man das nicht von heute auf morgen tun kann, sondern nur Schritt für Schritt. Ich glaube, das, was die Bundesregierung in dem Bereich getan hat und tut, kann sich sehen lassen und ist alles andere als eine trickreiche Politik.
Wenn wir aber Ausnahmen für alternative Munition zulassen wollen, dann geht das meines Erachtens nur, wenn klare Bedingungen erfüllt werden. Ich will drei nennen: erstens eine nachgewiesene hohe technische Zuverlässigkeit der alternativen Munition, zweitens die nachgewiesene Fähigkeit dieser Munition, militärische Ziele tatsächlich punktgenau zu bekämpfen, und drittens eine strikte Begrenzung der durch die Munition verstreuten Sprengköpfe.
Unsere Fraktion begrüßt einhellig den von der Bundesregierung entwickelten Dreistufenplan für einen universellen Verzicht auf Streumunition. Er hat sich auch als nützliche Verhandlungsgrundlage herausgestellt. Er hat zu einem Aufbrechen der Blockade der Genfer UN-Verhandlungen im November 2007 beigetragen. Das war ein großer Erfolg, besonders wenn man bedenkt, dass 2006 ein ähnliches Bemühen gescheitert ist.
Darüber hinaus haben - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden - zivilgesellschaftliche Organisationen mit dazu beigetragen, dass wir im Rahmen des sogenannten Oslo-Prozesses im vergangenen Jahr ein ganzes Stück vorangekommen sind. Außerhalb des UN-Rahmens haben sich mittlerweile 140 Staaten an Verhandlungen über ein internationales Abkommen zur Ächtung von Streumunition beteiligt. Das ist ein ermutigendes Zeichen, vor allen Dingen wenn man bedenkt, dass es ein Jahr zuvor nicht einmal 50 Staaten waren.
Es ist wichtig, dass wir gemeinsam im Rahmen der UN-Verhandlungen, aber auch zivilgesellschaftlich an diesem Thema arbeiten. Wir sollten im Rahmen des Oslo-Prozesses im Mai 2008 in Dublin zu positiven Verhandlungsergebnissen kommen. Ich hoffe darauf, dass durch diese Ergebnisse, ähnlich wie im Ottawa-Prozess, ein Schneeballeffekt entsteht und dass wir in Zukunft Streumunition ächten und nicht mehr zum Einsatz bringen müssen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 22 a wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 16/7790 und 16/7791 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 137. Sitzung - wird am
Montag, den 21. Januar 2008,
an dieser Stelle veröffentlicht.]