Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Kultur in Deutschland" schlägt vor, das Grundgesetz um einen neuen Artikel 20b mit der Formulierung "Der Staat schützt und fördert die Kultur" zu ergänzen. Eine solche "Kulturstaats-Klausel", eine Staatszielbestimmung zugunsten von Bildung, Wissenschaft, Kunst, ist entbehrlich und nicht wünschenswert. Dass Deutschland ein Kulturstaat war, ist und sein wird, ist selbstverständlich. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Der "Schutz" der Kultur, des Notwendigen, Nützlichen, Schönen, gehört - wie die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit - zum Kern des freiheitlichen Rechtsstaates, und die "Förderung" der Kultur ist selbstverständlicher Bestandteil der staatlichen Sorge für die Wohlfahrt des Volkes, Teil der Verwirklichung des Gemeinwohls, wie an Schule, Theater und Museum leicht deutlich wird. Das alles ist unbezweifelter Staatszweck, und "über die Zwecke des Königreiches Preussen schweigt die Verfassung". Abgesehen davon steht ja im Detail vieles über die Kultur im Grundgesetz: die Bildungs- und Ausbildungsfreiheit, die Presse- und Medienfreiheit, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Sozialstaat - das alles sind doch auch - nicht nur - kulturelle Werte.
Der rhetorische Glanz einer Extra-"Kulturstaatsklausel" entspricht nicht dem Stil des Grundgesetzes. Es ist auf Kompetenzen, Organisation, Verfahren ausgerichtet, im Grunde staatszielbestimmungsprüde. Der Bezug auf Wünschbares, das "Schöne" sind ihm fremd. Unsere Verfassung kennzeichnen nicht Verheißungen und Appelle, sondern strikt anwendbare Rechtsgarantien. Kultur ist ohnehin geschützt. Der Staat selbst kann Kultur nicht "machen". Es gibt keine Staatskunst. Aber es wäre doch naiv, annehmen zu wollen, dass Kulturschaffende unter Bezugnahme auf Artikel 20b GG etwa (mehr) Geld einfordern könnten. Wie viel Geld für Kunst und die Künstler ausgegeben wird, entscheiden - wie bisher - die Parlamente und Regierungen, Gemeinderäte und Bürgermeister, und zwar - wie wir schmerzlich erleben - nach "Kassenlage". Solche Staatszielbestimmungen sind "Schaufenstergesetze", die mehr versprechen, als sie halten können und wollen. Insofern wäre schon die Aufnahme des Umweltschutzartikels 20a in das Grundgesetz (1994) besser unterblieben. Und was soll man sagen, wenn die (richtigen und wichtigen!) Staatsziele "Sport- und Jugendförderung", "Generationengerechtigkeit", "gesunde Ernährung", "ruhiger Nachtschlaf" ins Grundgesetz drängen. Ferner: Wenn "Kultur" im Grundgesetz steht, wird Karlsruhe darüber entscheiden müssen. "Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten", sagt der Verfassungsrichter Udo Steiner mit vollem Recht. Wollen wir denn eine weitere Entparlamentarisierung und Juridifizierung unserer Kulturpolitik? Und schließlich ist die Befürchtung nicht gänzlich von der Hand zu weisen, die Einfügung einer Kulturstaatsklausel in die Bundesverfassung könnte einen Kompetenzzuwachs des Bundes im Kulturbereich weiter befördern, wie er vielfach bereits eingetreten ist. Deshalb wollen die Länder das auch nicht.
Eine Kulturstaatsklausel wäre allenfalls schöner Schein, führte zu mancherlei Missverständnissen und enthielte verborgene Fußangeln. Man sollte die Finger davon lassen.
Der Autor ist Professor an der Universität Hamburg.