Vor allem ging es um die Bewältigung von Angst, Furcht, Entsetzen angesichts einer ständigen Gefährdung des Lebens. Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen stellte die Lust am Schönen in eine Beziehung zur gewonnenen Freiheit gegen ein früheres Ausgeliefertsein des Menschen an die Natur. Im Schönen, im Umgang mit Kunst, in der ästhetischen Alltagspraxis feierte der Mensch letztlich sich und seine Freiheit. Das Fazit: Ohne Kunst war und ist menschliches Leben ein unvollständiges Leben. Folgerichtig spricht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von einem Recht des Menschen auf Kunst und Spiel. Der Grundbegriff, mit dem dieser Anspruch formuliert wird, heißt "kulturelle Teilhabe".
Ein Zweites lehrt der Blick in die Geschichte. Es gibt eine enge Verbindung der Kunst zur Politik und zum Sozialen. Gerade Musik und Tanz sind nicht nur soziale Aktivitäten, sondern tragen auch zur Formierung des Sozialen bei, sie stärken das Gemeinschaftsgefühl und gelegentlich die Kampfbereitschaft. Genauso sahen es auch schon die Griechen. So lässt Platon in seinem "Staat" Sokrates über die richtige Ordnung der Polis sprechen, in denen er ausführlich erläutert, warum unter all den Künsten bestenfalls die Gesänge an die Götter und die Lobpreisungen auf die Tugendhaften einen Platz in der Polis haben und all die anderen, Lust oder Schmerz verursachenden Kunstformen aus der Polis verjagt werden sollten: Diese verderben lediglich die Sitten. Außerdem, so Sokrates, streiten sich Künste und Philosophie um das Deutungsrecht in der Gesellschaft. Heute kommen noch die Soziologie, die Medien, die Religionen, die Kulturwissenschaften dazu.
Woher kommt also heute der Widerstand gegenüber der Wirkungsfrage? Oft hört man, dass die Autonomie der Künste gefährdet sei, wenn man sich zu sehr für Wirkungen interessiere. Künstler- und Künstlerinnen selbst sind gegenüber der Wirkung ihrer Werke allerdings nicht gleichgültig: Man reagiert durchaus intensiv auf Verkaufszahlen, auf Publikumserfolge, auf Auszeichnungen und Rezensionen. Man erinnere sich: "Erfinder" der Kunstautonomie in der Philosophie war Kant. Die "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" macht Sinn in der Architektur seiner drei Kritiken, wobei es bei diesem Topos speziell um die Wirkungsweise der ästhetischen Urteilskraft geht. Schiller gibt in seinem eigenen Werk dem Ganzen sofort eine politische Note: Nur wenn man den Menschen in einem vom Alltag abgegrenzten Bezirk "zweckfrei" künstlerisch tätig werden lässt, kann er Freiheit lustvoll verspüren. Diese Lust auf Freiheit führt ihn dann dazu, so Schillers Hoffnung, dass er auch außerhalb dieses Schonraumes humane gesellschaftliche Verhältnisse auf der Grundlage von Freiheit herstellen möchte.
Zu verstehen ist eine subtile Dialektik, dass nämlich die gewünschte politische Funktionalisierung (!) von Kunst nur mit einer autonomen Kunst funktioniert. Das 19. Jahrhundert brachte Deutschland in der Folgezeit allerdings nicht die politische Freiheit. Das Bürgertum suchte stattdessen für die entgangene politische Mitgestaltung einen Ersatz in der Kultur. Der Historiker Thomas Nipperdey spricht geradezu von einer "Kunstreligion", die sich in den Museen, Theatern und Opernhäusern ihre Kathedralen schafft.
Eine Folge dieser Entwicklung sollte im gesellschaftlichen Aufbruch der späten 60er- und 70er-Jahren bekämpft werden: Dass es immer nur wenige Prozent der Bevölkerung waren, die von den von allen finanzierten Kunstangeboten profitierten. Das Leitmotiv "Kultur für alle" kann daher als Bekräftigung des Menschenrechts auf kulturelle Teilhabe verstanden werden. Allerdings: Während Europarat und UNESCO über eine "Demokratisierung der Kultur" oder sogar über eine "kulturelle Demokratie" debattierten, fand der französische Soziologe Pierre Bourdieu heraus, dass "Kultur" mitnichten das Gemeinsame und Verbindende, sondern vielmehr das Trennende in der Gesellschaft ist. Der kleine Unterschied, ob man dem Wohltemperierten Klavier oder Edith Piaf lauscht, wirkt sich gesamtgesellschaftlich so aus, dass die einen mit größter Wahrscheinlichkeit zur Elite der Gesellschaft gehören und die anderen politisch und ökonomisch in den niedrigeren Regionen der Gesellschaft ohne Einfluss verbleiben - und dies auch richtig finden und akzeptieren.
Bei der Weltkonferenz zur Kulturpolitik in Mexiko im Jahre 1982 wurde der weite Kulturbegriff verabschiedet, der besagt, dass "Kultur" nicht bloß die Künste meint, sondern sich auch auf die Lebensweisen der Menschen insgesamt bezieht. Positiv an diesem Bekenntnis zum weiten Kulturbegriffs ist die Anerkennung von unterschiedlichen Lebensformen und der Vielfalt der Kulturen. Allerdings: Weil jede Lebensform gleichermaßen wertvoll ist, ist eine besondere Initiative zur Teilhabe an klassischen Konzerten, an innovativer Gegenwartskunst, an Oper oder Theater eigentlich überflüssig. Selbst Bourdieu ging dies zu weit. Deshalb versucht er als Mitverfasser eines nationalen Curriculums für die Schulen dafür zu sorgen, dass alle Kinder auch die elaborierten ästhetischen Codes in der Schule lernen und somit Zugang auch zu den schwierigen Künsten erhalten.
Offensichtlich führen soziologische beziehungsweise psychologische Herangehensweisen zu unterschiedlichen Ergebnissen. In soziologischer Hinsicht geht es um die Anerkennung von Lebensformen, geht es um Inklusion oder Exklusion, geht es um den Respekt vor den "Wonnen der Gewöhnlichkeit" (Thomas Mann). Es geht um die Kultur der kleinen Leute, um ihre spezifische Art, ihr Projekt des guten Lebens zu gestalten. Psychologisch und pädagogisch geht es jedoch auch um unterschiedliche Anregungspotenziale und Entwicklungschancen, die in den verschiedenen künstlerischen Werken und Praktiken liegen. Vielleicht ist einstweilen die folgende These tragfähig: Man sollte sich frei zu jeder kulturellen oder künstlerischen Ausdrucksform bekennen dürfen - dies aber auf der Grundlage einer ästhetischen Entscheidungskompetenz tun können. Und diese muss erworben werden: im Elternhaus, in der Schule, in außerschulischen Angeboten, in Kultureinrichtungen.
"Kulturelle Teilhabe" ist also nach wie vor das zentrale kultur- und gesellschaftspolitische Ziel. Die Kulturpolitik kann hierbei von der Sozialpolitik lernen, die im Hinblick auf "soziale Teilhabe" sehr genau die notwendigen Ressourcen und Voraussetzungen studiert: nämlich ökonomische, rechtliche, politische und bildungsmäßige Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Angst vor der Frage nach Wirkungen und einer dadurch beförderten Instrumentalisierung ist nicht nötig. Denn oft genug hat sich in der Geschichte gezeigt, dass sich die Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Ausdrucks sogar gegen die politische Absicht der Künstler durchgesetzt hat. Honore de Balzac etwa, politisch stabil auf der Rechten verankert, musste fast hilflos hinnehmen, wie sich in seinen Romanen die härteste Sozialkritik am Frankreich seiner Zeit entfaltete. Alle müssen daher dafür sorgen, dass Künstler und Künstlerinnen frei arbeiten können, weil die humanisierende Kraft der Künste nicht eingeengt werden darf. Doch müssen deshalb alle auch dafür sorgen, dass eine allgemeine kulturelle Teilhabe Realität wird.
Max Fuchs ist Direktor der Akademie Remscheid und Vorsitzender des
Deutschen Kulturrats.