Es ist der 28. Mai 2015, und Thomas Feldbach muss Hals über Kopf nach Madrid fliegen. Er ist Ermittler im Auftrag der "Europäischen Sicherheits-Einheit" (ESE); und in wenigen Stunden soll in der spanischen Hauptstadt ein so genannter "Zugriff" stattfinden, an dessen Zustandekommen er maßgeblich beteiligt war. Nach einem heftigen Schusswechsel werden wenig später im Zentrum Madrids mehrere islamische Terroristen festgenommen. Am Ende des Tages wird Feldbach befördert und von seinem niederländischen Vorgesetzten mit Lob überschüttet.
Maxim Reinhardt geht in Erfurt in die siebte Klasse und hat aufgeschrieben, wie er sich die Welt im Jahre 2015 vorstellt. Justina Bartoszek, Sandra Rathaj und Agata Turanski aus Breslau haben eine ganz andere Vision: Der Protagonist ihrer Geschichte heißt Jacob und wird am 12. Mai 2005 elf Jahre alt. Als er morgens verschlafen in die Küche tapst, findet er seine Mutter beim Nachrichtenhören: Die EU hat sich soeben selbst aufgelöst. "Was ist die EU?" fragt Jacob. Seine Großmutter erklärt es ihm - und sie erklärt ihm auch, dass dieser im Ansatz höchst lobenswerte Staatenbund nicht hätte scheitern müssen, wenn nicht immer nur jeder auf seinen eigenen Vorteil bedacht gewesen sei.
Gemeinsam ist dem Erfurter und den polnischen Jugendlichen, dass sie an dem Geschichtenwettbewerb "Ein Tag im Leben - Szenarien zu Europa 2015" des Bundesfamilienministeriums und des Auswärtigen Amtes teilgenommen haben. Als Abschluss des Wettbewerbs kamen in der vergangenen Woche alle Teilnehmer zum Europäischen Jugendkongress "Das neue Europa - Chancen und Herausforderungen" in Berlin zusammen. Fünf Tage lang arbeiteten sie an ihrer Vision des europäischen Zusammenlebens von morgen. Die Mehrheit der 140 Teilnehmer waren Deutsche; aber auch Jugendliche aus der Schweiz, Estland, Polen, Schweden und den Niederlanden waren gekommen. Organisiert wurde der Kongress vom Centrum für angewandte Politikforschung in München.
In verschiedenen Workshops arbeiteten die jungen Europäer an der "Baustelle Europa." Sie widmeten sich Themen wie Globalisierung, EU-Strukturen oder Technik und Leben und setzten ihre Visionen anschließend künstlerisch um.
Das Resultat fiel mindestens ebenso ambivalent aus wie ein Großteil der Geschichten, mit denen die Schüler und Schülerinnen sich beworben hatten: Der Fotoworkshop kam mit jeder Menge düsterer Bilder zurück. In der Vision Europa 2015 der heute etwa 15-Jährigen haben die Menschen sinnentleerte Gesichter, kümmern sich nur noch um sich selber, kämpfen mit Arbeitslosigkeit und in einer völlig zerstörten Natur ums Überleben. Eines der Fotos zeigte eine Gruppe Menschen, deren Gesichter im Gegenlicht nicht zu erkennen waren. "Im Europa im Jahre 2015", konstatierte eine junge Estin, "haben die Menschen ihre Identität verloren." Andere demonstrierten den europäischen Überwachungsstaat, indem sie jedem einen Steckbrief mit heimlich aufgenommenen Bildern überreichten. Sie spielten einen terroristischen Übergriff oder setzten sich mit den durch die ständige Telearbeit verfetteten Europäern auseinander. Nur wenige Jugendliche konnten dem gemeinsamen Haus Europa so richtig Positives abgewinnen. Einige bauten immerhin europäische Häuser des Austauschs und der Vielfalt, wie es sie künftig in jeder Hauptstadt geben solle. Oder sie rappten von Krieg und Rassismus - um dann zu dem Schluss zu kommen: "Eines Tages wird alles besser. Europa wächst zusammen."
Deutlich wurde bei der Konferenz aber auch, dass unter Jugendlichen längst Konsens ist, was die jüngste Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann den Teilnehmern zum Abschied mit auf den Weg gab: "Unsere Zukunft liegt ohnehin in Europa - wir müssen uns nur noch überlegen, was für ein Europa das sein soll." Genau das hatten die 140 Jugendlichen da schon fünf Tage lang getan - und dabei offenbar als Minimalkonsens zunächst entdeckt, dass es nicht das Europa sein soll, das sie zurzeit entstehen sehen.