"DAS PARLAMENT": Präsident des Bundesverfassungsgerichts für Verlängerung der Legislaturperiode
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, regt eine Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre an. Im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 5. Februar) sagte Papier: „Man könnte durchaus auf Bundesebene über die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre nachdenken. Damit könnte auf jeden Fall wieder mehr Ruhe in das politische Geschäft gebracht werden.“
Derzeit neige die Politik dazu, bei jedem wirklichen oder vermeintlichen Problem die Gesetzesmaschinerie anzuwerfen. Die Gesellschaft werde „von einem unüberschaubaren Normengeflecht überzogen“, sagte der Verfassungsgerichtspräsident. Er fügte hinzu: „Gleichzeitig bemerken die Menschen, dass der Staat die Einhaltung all dieser Normen nicht hinreichend sichern kann. Das bestärkt die Politikverdrossenheit und führt überdies zu einem schleichenden Verlust von Rechtsbewusstsein.“ Der Gesetzgeber sollte sich nach seiner Ansicht auf das Wesentliche konzentrieren. „Regierung und Parlament müssen sich durch verlässliche Sachpolitik auszeichnen und nicht durch taktische Politikscharmützel“, betonte Papier.
Papier unterstrich, das Grundvertrauen eines Teils der Bevölkerung in das demokratisch-parlamentarische System und die politisch Verantwortlichen sei „in der Tat beeinträchtigt. Das sollte Anlass zum Nachdenken sein.“ Schließlich sei das Parlament das einzige Verfassungsorgan der Bundesrepublik, das unmittelbar vom Wähler legitimiert ist. Papier verwies darauf, dass die politischen Talkshows im Fernsehen „in den Augen einiger – nicht zuletzt einiger Politiker – die Funktion eines Ersatzparlaments“ erfüllten. Gelegentlich habe man in der Vergangenheit den Eindruck gehabt, „mancher Politiker ziehe die Erörterung neuester politischer Ideen in Talkshows der parlamentarischen Debatte vor“.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hält zudem eine Änderung des Wahlrechts für denkbar. „Man könnte den Einfluss der Wähler stärken, beispielsweise durch die Möglichkeit, innerhalb der Landeslisten mehrere Stimmen für einen Kandidaten abzugeben oder die Reihenfolge der Kandidaten zu verändern“, betonte Papier. Dagegen sprach er sich gegen eine Begrenzung der Amtszeit auf zwei Legislaturperioden aus. „Es kann durchaus zum Wohle eines Landes sein, dass ein bewährter Regierungschef in die dritte Amtsperiode geht“, unterstrich Papier.
Eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre kommt hingegen für ihn nicht in Frage. Mit der 18-Jahre-Grenze „sind wir gut bedient“, sagte der Verfassungsgerichtspräsident. Er lehnte auch ein so genanntes Kinderwahlrecht ab. Es würde eine „Abweichung vom klassischen demokratischen Grundprinzip der Wahlrechtsgleichheit bedeuten, wenn bestimmte Personen – namentlich die Eltern noch nicht wahlberechtigter Kinder – mehrere Stimmen beziehungsweise ein höheres Stimmengewicht erhielten“. Papier bekräftigte seine Auffassung, dass der Ausbau plebiszitärer Elemente in der Bundesverfassung nicht zur notwendigen Stärkung des parlamentarischen Systems beitragen würde.
Diese Vorabmeldung sowie Zitate aus der folgenden Wortlautfassung des Interviews mit Hans-Jürgen Papier stehen den Medien bei Nennung der Quelle zur sofortigen Veröffentlichung frei.
Quelle: „Das Parlament“ Nr. 6/2007 vom 5. Februar 2007
Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier
DAS PARLAMENT: Herr Präsident, das Bundesverfassungsgericht meldet einen Verfahrens-Höchststand. Wie fühlt man sich als „Kummerkasten der Nation“?
HANS-JÜRGEN PAPIER: Als Kummerkasten fühlen wir uns nicht. In der Tat beobachten wir aber einen deutlichen Zuwachs an Verfahrenseingängen. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 6.000. Das ist ein Plus von etwa 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Das Verfassungsgericht hat kein Glaubwürdigkeitsproblem – wohl aber der Bundestag. Glaubt man Umfragen, ist die Bevölkerung mit dem Funktionieren des parlamentarischen Systems unzufrieden.
Das Grundvertrauen eines Teils der Bevölkerung in das demokratisch-parlamentarische System und die politisch Verantwortlichen ist in der Tat beeinträchtigt. Das sollte Anlass zum Nachdenken sein. Das Parlament ist schließlich das einzige Verfassungsorgan der Bundesrepublik, das unmittelbar vom Wähler legitimiert ist.
Wer ist für dieses negative Image verantwortlich: die Große Koalition, der Bundespräsident oder die Medien?
Dafür gibt es viele Ursachen. Wir haben es unbestreitbar mit einer Politikverdrossenheit weiter Teile der Bevölkerung zu tun. Das zeigt sich unter anderem in der sinkenden Wahlbeteiligung und einem Rückgang der Mitgliedzahlen der politischen Parteien. Unsere parlamentarische Demokratie hängt aber nicht zuletzt von der Vitalität und Akzeptanz der politischen Parteien ab.
Wie könnte man das erschütterte Vertrauen wieder herstellen?
Weite Teile der Bevölkerung neigen dazu, sich in eine passive Betrachterrolle zurückzuziehen. Nicht von ungefähr ist von einer Zuschauerdemokratie die Rede. Die politischen Talkshows im Fernsehen erfüllen in den Augen einiger – nicht zuletzt einiger Politiker – die Funktion eines Ersatzparlaments. Gelegentlich hatte man in der Vergangenheit den Eindruck, mancher Politiker ziehe die Erörterung neuester politischer Ideen in Talkshows der parlamentarischen Debatte vor.
Was sollte die Politik selbst tun?
Politik neigt – auch unter dem Einfluss der modernen Medienwelt – dazu, bei jedem wirklichen oder vermeintlichen Problem die Gesetzesmaschinerie anzuwerfen. Das vermittelt der Bevölkerung den Eindruck, als könne der Staat alle Konflikte auf dem Weg neuer Gesetze lösen. Die Gesellschaft wird von einem unüberschaubaren Normengeflecht überzogen. Gleichzeitig bemerken die Menschen, dass der Staat die Einhaltung all dieser Normen nicht hinreichend sichern kann. Das bestärkt die Politikverdrossenheit und führt überdies zu einem schleichenden Verlust von Rechtsbewusstsein. Der Gesetzgeber sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Regierung und Parlament müssen sich durch verlässliche Sachpolitik auszeichnen und nicht durch taktische Politikscharmützel.
Fehlt Ihnen in der Politik der gute Stil?
Einen grundlegenden Wandel im Stil der politischen Auseinandersetzung hin zum Negativen kann ich nicht feststellen. Das Erstaunliche ist nur, dass viele in unserem Lande an dem gegenwärtigen politischen System eigentlich noch das eher Unpolitische besonders schätzen. Wohl nicht zuletzt deshalb genießt das Bundesverfassungsgericht ein hohes Ansehen. In ähnlicher Weise gilt dies für den Bundespräsidenten. Es ist bezeichnend, dass diejenigen Verfassungsorgane, die tatsächlich oder auch nur vermeintlich die Dinge in unpolitischer Art und Weise betrachten und über sie entscheiden, über ein besonderes Ansehen verfügen. Diejenigen aber, die von der politischen Auseinandersetzung leben, stoßen eher auf Ablehnung. Man kann nur hoffen und muss darauf hinarbeiten, dass auf mittelfristige Sicht die Deutschen in stärkerem Maße am politischen System auch das Politische, also die politische Auseinandersetzung, schätzen.
Sie haben neulich von einem real existierenden Lobbyismus in unserem Land gesprochen. Sind die Interessengruppen zur fünften Gewalt im Staat geworden?
Lobbyismus an sich ist nichts Schlechtes: Schließlich bringen die Verbände ein gewisses Know-how in die Gesetzesberatungen ein. Andererseits muss man darauf achten, dass Gesetzgebung und Politik nicht von Einzelinteressen geleitet werden. Das Gemeininteresse muss im Vordergrund stehen – und dessen Hüter sollte das Parlament sein. Die Summe von Partikularinteressen ergibt noch nicht das Gemeinwohl.
Häufig werden Änderungsvorschläge für das politische System diskutiert. Was halten Sie etwa von einer Begrenzung der Amtszeit auf zwei Legislaturperioden?
Ich bin kein Anhänger dieser Idee. Es kann durchaus zum Wohle eines Landes sein, dass ein bewährter Regierungschef in die dritte Amtsperiode geht.
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen würde Volksbegehren und Volksentscheid auch auf Bundesebene begrüßen. Was halten Sie davon?
Ich glaube nicht, dass der Ausbau plebiszitärer Elemente in der Bundesverfassung zur notwendigen Stärkung des parlamentarischen Systems beitragen würde. Die Gesetzgebungsmaterien sind hochkomplex und können nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden. Auf dieses einfache Ja-Nein-Schema ist der Volksentscheid aber nun einmal ausgerichtet. Wie sollte man sich eine moderne Gesetzgebung etwa zur Reform des Gesundheitswesen oder der Rentenversicherung in der Form des Volksentscheids vorstellen?
Wozu raten Sie?
Man könnte durchaus auf Bundesebene über die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre nachdenken. Damit könnte auf jeden Fall wieder mehr Ruhe in das politische Geschäft gebracht werden.
Und das Wahlsystem?
Das Wahlrecht ist eine entscheidende Grundlage für die Auswahl des politischen Personals. Man könnte den Einfluss der Wähler stärken, beispielsweise durch die Möglichkeit, innerhalb der Landeslisten mehrere Stimmen für einen Kandidaten abzugeben oder die Reihenfolge der Kandidaten zu verändern.
Demokratie ist nicht vererbbar. Österreich geht einen neuen Weg und will das Wahlalter auf 16 Jahre senken.
Ich bin kein Anhänger einer Senkung des Wahlalters. Will man dann etwa auch das passive Wahlalter entsprechend senken? Ich meine, mit der 18-Jahre-Grenze, die zugleich die Volljährigkeit markiert, sind wir gut bedient. Ich spreche mich auch nicht für ein so genanntes Kinderwahlrecht aus. Es würde eine Abweichung vom klassischen demokratischen Grundprinzip der Wahlrechtsgleichheit bedeuten, wenn bestimmte Personen – namentlich die Eltern noch nicht wahlberechtigter Kinder – mehrere Stimmen beziehungsweise ein höheres Stimmengewicht erhielten.
Halten Sie es für verfassungsgemäß, dass ein heute 25-Jähriger deutlich mehr einzahlt, als er im Laufe seines Lebens zurückbekommt?
Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zu konkreten verfassungsrechtlichen Fragen, mit denen sich das Bundesverfassungsgericht möglicherweise befassen muss, nicht äußern kann.
Abgesehen von Verfassungsfragen: Sie haben selbst zwei Kinder. Haben Sie Angst um deren Altersversorgung?
Eine gewisse Sorge bereitet mir die Vernachlässigung der zeitlichen Komponente unseres Sozialstaatsprinzips. Ein sozialer Ausgleich ist nicht nur innerhalb einer Generation herzustellen, vielmehr geht es auch um eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen. Wenn ich mir etwa die Staatsverschuldung anschaue, habe ich große Bedenken, ob letzterem in hinreichendem Maße Rechnung getragen wird. Das Gleiche gilt auch für die sozialen Sicherungssysteme. Fernab aller verfassungsrechtlichen Bewertungen habe ich die Sorge, dass heutige und künftige Beitragszahler ein Rentensystem finanzieren, das auf der Lohnersatzfunktion der Rente – orientiert am aktuellen Lohnniveau – basiert, während sich selbst trotz jahrzehntelanger Beitragszahlungen möglicherweise nur noch eine Grundversorgung erhalten werden. Das ist unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit höchst fragwürdig.
Was wäre denn gerechter?
Ich bin kein Rentenfachmann. Aber der Gesetzgeber wird das System sorgfältig beobachten und gegebenenfalls rechtzeitig umbauen müssen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf eigener Beitragsleistung beruhende Rentenpositionen erworbene Rentenpositionen den Eigentumsschutz des Grundgesetzes genießen – was natürlich nicht heißt, dass die Verfassung eine bestimmten Rentenhöhe oder Rentenformel garantierte.
Wird das Erziehen von Kindern in unserem Sozialsystem genügend gewürdigt?
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen zu dieser Problematik Stellung genommen. Gerade im Sozialversicherungsrecht hat es unter Hinweis auf den verfassungsrechtlich garantierten Schutz von Ehe und Familie und den Gleichheitssatz klargestellt, dass die Kindererziehung im Sozialversicherungssystem angemessen berücksichtigt finden muss, entweder auf der Leistungsseite oder – wie bei der Pflegeversicherung – auf der Beitragsseite.
Kommen wir zu einem anderen Thema: Altbundespräsident Roman Herzog hat vor einer immer weiter gehenden Übertragung nationaler Kompetenzen an Brüssel gewarnt.
In der Grundtendenz kann ich ihm nur zustimmen. Man muss darauf achten, dass der einzelne Mitgliedstaat der Union noch über substanzielle Eigenstaatlichkeit verfügt. Derzeit beobachten wir aber immer noch eine „Hochzonung“ von Aufgaben von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union. Dies wird fast wie ein Naturgesetz hingenommen. Aufgaben wandern ohne größere Reflexion vielfach auf die nächst höhere Ebene ab. Wir kennen dieses Phänomen auch im Bund-Länder-Verhältnis. Das widerspricht dem Grundsatz der Subsidiarität.
Herr Papier, bereuen Sie es eigentlich manchmal, dass Sie nicht in die Politik gegangen sind?
Nein. Ich habe nie das Bedürfnis verspürt, mich in der aktiven Politik zu engagieren. Ich bin von ganzem Herzen Staatsrechtswissenschaftler.
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