Trotz verbesserter Leistungen für die Familien wächst in Deutschland mittlerweile jedes zehnte Kind in Armut auf: Mehr als 1,5 Millionen in Deutschland lebende Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, vor allem die von Zuwanderern und Alleinerziehenden, gelten nach einer Definition der EU als arm. Im Vergleich zu anderen Industrienationen ist in den letzten Jahren in Deutschland die Kinderarmut besonders stark gestiegen. Blickpunkt Bundestag hat die Bundestagsfraktionen gefragt, wie dieser Trend gestoppt werden kann.
Wie eine Anfang März veröffentlichte Studie des Weltkinderhilfswerks UNICEF zeigt, ist die Kinderarmut aber kein rein deutsches Problem. In 17 von 24 Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in der die wohlhabenden Industriestaaten zusammengeschlossen sind, hat sich die Situation von Kindern in den neunziger Jahren verschlechtert.
In den OECD-Staaten insgesamt wachsen über 45 Millionen Kinder in einer Familie auf, die mit weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen muss. Diese Grenze gilt in der EU als die Grenze zur Armut. Armut wird also in einer Relation zum Durchschnittseinkommen definiert. Insofern wird auch von relativer Armut gesprochen. In Deutschland lag die so definierte Armutsgrenze im Jahre 2001 bei 8.700 Euro pro Jahr und Person, das sind 725 Euro monatliches Nettoeinkommen – inklusive aller Sozialleistungen.
Am niedrigsten ist die Kinderarmut in Dänemark und Finnland. In den beiden skandinavischen Ländern sind nur drei Prozent der Kinder arm. Dagegen gelten in den USA 20 Prozent aller Kinder als arm.
Unter den verglichenen 24 OECD-Staaten liegt Deutschland jetzt noch im Mittelfeld auf Platz zwölf. Sorgen bereitet aber der Trend. Denn in Deutschland ist die Kinderarmut seit 1990 um 2,7 Prozentpunkte auf 10,2 Prozent im Jahre 2001 gestiegen und damit deutlich stärker als in den meisten anderen Industriestaaten. Wenn man nur die Entwicklung seit 1990 vergleicht, ist Deutschland sogar auf Platz 18 zurückgefallen. Die Kinderarmut breitet sich hierzulande nicht nur schneller aus als in den meisten anderen vergleichbaren Staaten, sondern auch schneller als die Armut unter Erwachsenen.
Die Entwicklung in Deutschland hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen in einer Teilstudie für UNICEF genauer untersucht. Anfang der neunziger Jahre waren Kinder und Erwachsene noch im gleichen Ausmaß von relativer Armut betroffen. Seit 1994 verändern sich diese Proportionen. Kinder sind jetzt deutlich häufiger arm als Erwachsene: Über zehn Prozent der Kinder, aber nur 8,8 Prozent der Erwachsenen ohne Kinder, müssen als relativ arm eingestuft werden. Trotzdem sind Kinder an sich kein Armutsrisiko. So sind Paare mit bis zu zwei Kindern nur zu etwas mehr als drei Prozent von Armut betroffen.
Im krassen Gegensatz dazu steht die Situation Alleinerziehender. Sie – und ihre Kinder – sind am häufigsten von Armut betroffen: Fast 40 Prozent von ihnen sind relativ arm. Kinder Alleinerziehender sind nicht nur häufiger arm, sondern bleiben es auch über längere Zeiträume. Ihre Chance, der Armut wieder zu entkommen, liegt deutlich niedriger als bei allen anderen untersuchten Bevölkerungsgruppen.
Während die Kinderarmut bei Alleinerziehenden besonders weit verbreitet ist, hat sie bei Kindern aus Zuwandererfamilien am stärksten zugenommen. In dieser Bevölkerungsgruppe verdreifachte sich der Anteil armer Kinder in den neunziger Jahren von fünf auf 15 Prozent. Dieser Anstieg liegt weit über dem Durchschnitt und trägt maßgeblich zum Gesamtanstieg der Kinderarmut in Deutschland bei.
Ohne Kindergeld, Steuererleichterungen und andere sozialpolitische Maßnahmen für Familien wäre nach der RWI-Studie die Kinderarmut in Deutschland noch erheblich höher. Allerdings wendet zum Beispiel Schweden, das eine ähnliche Ausgangslage wie Deutschland hat, erheblich mehr für die Familien auf. Ohne staatliche Interventionen würde die Kinderarmut dort wie in Deutschland über zehn Prozent betragen. Die schwedische Sozialpolitik schafft es jedoch, Kinderarmut auf nur 4,2 Prozent zu senken.
Kinderarmut lässt sich aber nicht nur am Einkommen festmachen. Wie UNICEF betont, sind Kinder aus armen Familien in vieler Hinsicht benachteiligt und ausgegrenzt. Neben dem Mangel an materiellen Dingen fehlt es oft an Zuwendung, Erziehung und Bildung. Kinder aus armen Familien haben häufiger gesundheitliche Probleme – verursacht durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel. Sie können sich im Unterricht nicht konzentrieren und brechen öfter die Schule ab.
Bei Kindern ausländischer Eltern kommen Sprachprobleme hinzu. Sie leben häufiger in beengten Wohnverhältnissen, in vernachlässigten Stadtteilen mit schlechten Schulen und unzureichenden sozialen Angeboten. Mangelhafte Ausbildung und folglich schlechte Berufschancen sowie Teenagerschwangerschaften zementieren Armutsbiografien.
Text: Klaus Lantermann
Foto: Picture-Alliance
Erschienen am 04. April 2005
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