Eine Laborantin mit Stammzellkulturen,
die in einer Nährlösung in Petrischalen aufbewahrt
werden, im Krebsdiagnostikzentrum der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
© epd/Steffen Schellhorn
Bioethik im Deutschen Bundestag
Anders als bei den meisten
fachpolitischen Entscheidungen sind die Parlamentarier bei
bioethischen Fragestellungen ihrem Gewissen überlassen und
müssen sich an keine mehrheitliche Entscheidung der Fraktion
halten. Das ist spannend und anstrengend zugleich. Denn nach
welchem Maß soll man entscheiden? Auf ethische
Maßstäbe berufen sich fast alle — doch auch diese
unterliegen der individuellen Interpretation. So absurd es klingt,
aber keine Ethik bewahrt die Politik davor, selbst festzulegen, wo
die Grenzen zwischen Leben und Tod verlaufen.
Die Fortschritte der Naturwissenschaften
stellen die Politik vor enorme und vollkommen neue
Herausforderungen. Denn mitunter schreitet die Forschung so schnell
voran, dass dazu verabschiedete Gesetze kurz nach Inkrafttreten
schon fast wieder obsolet sind und nachgebessert werden
müssen. Das gilt bei Datenschutz im Internet ebenso wie in der
Biomedizin und Gendiagnostik. In Deutschland ist das etwa bei der
Forschung an embryonalen Stammzellen der Fall. Erst 2002
eröffnete der Gesetzgeber vorsichtig einen Weg, wie deutsche
Forscher an embryonalen Stammzelllinien forschen konnten —
durch den Import solcher im Ausland hergestellter Zellen, begrenzt
durch einen Stichtag. Im Jahr 2008 entschied der Bundestag erneut
darüber, den Stichtag zu verschieben, um die zur
Verfügung stehende Zahl der Stammzelllinien zu
vergrößern. Einige Forscher hatten jahrelang auf diese
Lösung gedrängt.
Organtransplantationen können
Leben retten — aber ab wann ist ein Mensch tot, sodass man
ihm Spenderorgane entnehmen darf?
© Picture-Alliance/Jan-Peter Kasper
Zur Regelung des Gemeinwesens gehört schließlich nicht
nur das Steuer und Rentensystem, sondern auch die verbindliche
Festlegung, welche Eingriffe ins menschliche Leben und in die
Privatsphäre erlaubt oder verboten sind. Die
Präimplantationsdiagnostik (PID) etwa ist in Deutschland
untersagt, in Belgien jedoch legal. In Deutschland gilt ein
vergleichsweise restriktives Embryonenschutzgesetz. Es untersagt
die Herstellung und Nutzung eines menschlichen Embryos zu einem
anderen Zwecke als dessen Erhalt und Entwicklung zum Menschen. Es
verbietet die Herstellung von überzähligen Embryonen,
Leihmutterschaft und das Klonen in allen Formen. Die PID fällt
unter dieses Verbot, da ihr Ziel eine Selektion, eine Einteilung in
„gute” und „schlechte” Embryonen, wäre
und die nicht erwünschten zerstört würden. Die
grundsätzliche Möglichkeit des Klonens beschäftigte
die Zellbiologie schon lange, bevor einer breiten
Öffentlichkeit das Thema durch die Erzeugung des Klonschafs
Dolly 1996 bekannt wurde. „Soll alles erlaubt sein, was
möglich ist?” lautet seither die Leitfrage für die
Politik. Eine Gratwanderung sondergleichen. Denn sie muss immer
wieder neu Zielkonflikte entscheiden. Das Grundgesetz garantiert
schließlich Forschungsfreiheit, genauso aber den Schutz der
Menschenwürde. Zugleich werden Selbstbestimmungsrechte
berührt: das Recht des Nichtwissens bei der Diagnose von
Erbkrankheiten ebenso wie das Recht, bestimmen zu können, wie
lange man als Schwerstkranker lebenserhaltende Maßnahmen in
Anspruch nehmen will.
In den 70er-Jahren zeichnen sich die künftigen
Forschungsschritte und -erfolge der Zellbiologie bereits ab. 1975
findet eine erste große internationale Konferenz zu den
Fortschritten der Gentechnologie in Asilomar (Kalifornien) statt,
bei der Wissenschaftler schon ein Moratorium für bestimmte
gentechnische Experimente fordern und erste Handlungsrichtlinien
erarbeiten. Das erste Retortenbaby aus künstlicher Befruchtung
kommt 1978 auf die Welt, 1983 wird das erste Patent auf eine
gentechnisch veränderte Pflanze erteilt.
Forscher in Newcastle klonen 2005
erstmals menschliche Embryonen. In Deutschland streng
verboten
© Picture-Alliance/Jan-Peter Kasper
Komplizierter Lernprozess
Die Sorge um unbeherrschbare Folgen aus
kommerzieller Verwertung und Anwendung gentechnischer Methoden
gehört zum Gründungsthema der Grünen. Die gesamte
Politik beginnt Anfang der 80er- Jahre zu reagieren: Bis heute ist
das ein langsamer, komplizierter Entscheidungsund Lernprozess des
Gesetzgebers, der sich mit diffizilen Fragen konfrontiert sieht.
Dürfen Eltern bei künstlicher Befruchtung über das
Geschlecht des Kindes entscheiden? Warum soll die PID verboten
bleiben, wenn sie verhindern kann, dass Kinder mit schweren
Erbkrankheiten auf die Welt kommen? Besitzen embryonale Stammzellen
bereits die vollkommene verfassungsrechtlich garantierte
Menschenwürde? Das Grundgesetz äußert sich nicht
dazu, wann menschliches Leben beginnt. Aber auch nicht, wann genau
es endet.
Einer der aktuellsten, politisch noch nicht gelösten
Entscheidungskonflikte betrifft die Organentnahme eines
Verstorbenen zum Zwecke der Transplantation an einen
lebensbedrohlich Erkrankten: Ab wann erklärt man einen
Menschen für tot? Ab dem Hirntod? Und wer soll darüber
entscheiden? Ein Arzt? Zwei, drei? Oder noch die Ethikkommission
der Klinik? Der Deutsche Ethikrat? Was gilt, wenn die
Angehörigen dagegen sind, die lebensverlängernden
Apparate bei einem Sterbenden abzuschalten, der Hirntote zu
Lebzeiten jedoch eine Patientenverfügung unterschrieben
hat?
Anfang der 80er-Jahre setzte der Bundestag die erste
Enquetekommission „Chancen und Risiken der
Gentechnologie” ein. Eigentlich sollte sie
„gesellschaftliche Folgen der Gentechnologie”
heißen — wäre es allein nach der SPD gegangen
— und „ökologische, ethische und soziale Probleme
als Folge der Gentechnik”, wäre der Antrag der
Grünen durchgekommen. Damit waren die bis heute vorhandenen
Lager im Bioethikdiskurs vorgezeichnet. Die einen betonen eher die
Chancen und die Forschungsfreundlichkeit und argumentieren gern mit
einer „Ethik des Heilens”, die anderen stellen die
Risiken und unerwünschten Nebenfolgen in den
Vordergrund.
© DBT/Marc
Mendelson
Der Philosoph Volker Gerhardt, Mitglied im ersten Nationalen
Ethikrat der Bundesrepublik, kritisiert beide: als politische
Moralisten und rhetorische Anwälte der Menschenwürde die
einen, die anderen als stumpfe Pragmatiker. „So haben wir
denn auf der einen Seite das moralisch Gute mit den Idealen der
Humanität und auf der anderen Seite den alles verrechnenden
Nutzen mit den schäbigen, wenn auch vielleicht angenehmen
Vorteilen der Utilität”, schreibt Gerhardt in seiner
2001 erschienenen „Kleinen Apologie der
Humanität”.
An der Wortwahl lässt sich erkennen, wie tiefgreifend,
zuweilen erbittert und sehr oft emotional gekämpft wird in
diesen Fragen von Leben und Tod — die angesichts der
Fortschritte der Medizin immer öfter im Plenum des Bundestages
diskutiert werden müssen. Schließlich geht es auch um
Hoffnungen auf Heilung schwerstkranker Menschen. Die erste
Bioethik- Enquete hatte nach längerer Pause in den 90er-Jahren
noch zwei Nachfolger zu Zeiten der rot-grünen Koalition, wobei
sich eine interessante Schwerpunktverschiebung von „Recht und
Ethik” hin zu „Ethik und Recht” in der modernen
Medizin im Jahr 2003 ergab: Man erkannte, wie schwierig, aber
zugleich elementar ethische Fragestellungen für Politik und
Gesellschaft wurden. Spannungsfrei war diese Debatte nie —
und immer auch innerhalb der Parteien und Fraktionen höchst
umstritten. Ein Grund, weswegen Bundeskanzler Gerhard Schröder
(SPD) 2001 den Nationalen Ethikrat aus der Taufe hob. Das Parlament
und die eigene Bundestagsfraktion waren Kanzler und
Forschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) etwas zu
forschungsskeptisch besetzt. 2008 beginnt eine neue Phase der
Beziehung zwischen Politik und Forschung: Statt zeitlich
befristeter Enquetekommissionen gibt es seit April dieses Jahres
zwei feste Gremien: den Parlamentarischen Beirat und den Deutschen
Ethikrat als Nachfolger des Nationalen Ethikrates (siehe S. 8). Das
ist sicher richtig angesichts des weiter zu erwartenden schnellen
Fortschritts wissenschaftlicher Erkenntnisse, der permanente
Beobachtung und Diskussion durch die Politik erfordert. Denn noch
immer gilt, was 1975 im Abschlussdokument der Asilomar-Konferenz
stand: „Die neuen Techniken bringen uns in einen Bereich der
Biologie mit vielen Unbekannten.”
Es ist seit Beginn des jüngsten großen politischen
Ethikdiskurses in den Jahren 2000/2001 eine kleine Truppe von
Bioethikexperten unter den Parlamentariern, die äußerst
beständig und engagiert um diese Fragen ringt. Margot von
Renesse (SPD) gehörte als Vorsitzende der ersten Bioethik-
Enquete unter Rot-Grün lange als herausragende Kämpferin
dazu, bevor sie aus Altersgründen abtrat. Ebenso Andrea
Fischer und Christa Nickels bei den Grünen sowie Maria
Böhmer (CDU/ CSU). Bis heute gehören Ilja Seifert (Die
Linke), Ulrike Flach (FDP) und Carola Reimann (SPD), René
Röspel (SPD) als Vorsitzender der zweiten Bioethik- Enquete
und Hubert Hüppe (CDU/CSU) zu den langjährigen
Protagonisten. Röspel sitzt nun dem neu gegründeten
Ethikbeirat des Parlaments vor.
Hubert Hüppe (CDU/CSU)
© DBT/Werner Schüring
Für Hüppe ist das Thema ein Herzensanliegen, dem er in
manchen Facetten in seinem eigenen, privaten Leben begegnet ist. Er
gehört zu denen, die sich ganz und gar gegen die Forschung an
embryonalen Stammzellen wehren. In seiner christlich orientierten
Partei ist er damit zwar nicht allein, findet jedoch in der
Fraktion keine Mehrheit. Bei der Abstimmung über vier
Anträge zur Änderung des Stammzellgesetzes am 11. April
2008 hatte fast die Hälfte der anwesenden Unionsabgeordneten
für einen Kompromiss gestimmt. Hüppe begegnet mit seiner
Position immer wieder dem Vorurteil, rein religiös zu
argumentieren. Wobei selbst die beiden Kirchen in der Frage nicht
mehr eindeutig positioniert sind. Hüppe wehrt sich gegen den
Vorwurf vehement: „Die Debatte ist nicht religiös
geführt worden. Es ist rational, wenn man beweisen kann, dass
embryonale Stammzellforschung für die Heilung des Menschen
nichts beigetragen hat, dass es weltweit nach zehn Jahren noch
nicht einmal irgendeine klinische Studie dazu gibt.” Wenn man
trotzdem so viel Zeit für diesen kleinen Forschungsbereich
investiere, sei das wesentlich irrationaler als sein
Standpunkt.
Für den 51-jährigen Westfalen sind diese Abstimmungen die
persönlichsten überhaupt. „Weil sie mit dem eigenen
Menschenbild zu tun haben.” Er hat sich festgelegt:
„Menschenwürde und Forschungsfreiheit sind für mich
nicht abwägbar”, sagt er. „Eine solche
Bundestagsabstimmung ist natürlich besonders problematisch,
wenn man meinen Standpunkt hat”, räumt er ein. Weil dann
der Kompromiss als Hauptinstrument der Politik ausfällt.
„Man muss ja meinen Standpunkt nicht teilen, dass es sich
beim Embryo um einen Menschen handelt — aber wenn, dann
fühlt man sich als Verräter gegenüber denen, die man
schützen will.” Das seien Entscheidungen, die einem den
Schlaf rauben können. So etwas hört man selten von
Politikern.
Persönliche Kompromisse
Wirklich besonders an den Ethikdebatten und
-entscheidungen ist daher auch für die Parlamentarier, dass
sie ihre Gewissensentscheidung ohne Anbindung an einen
Mehrheitsbeschluss ihrer Fraktion treffen können, aber auch
müssen. Man kann sich das leicht machen. Viele machen es sich
jedoch alles andere als leicht. Und trotzdem darf man unterstellen:
Die meisten schlafen auch bei solchen Entscheidungen gut.
Hüppe war enttäuscht. Noch beim Bundesparteitag der Union
hatte eine große Mehrheit die Position beschlossen, dass der
Mensch schon mit Verschmelzung von Ei und Samenzelle entstanden und
daher zu schützen sei. Er hatte sich als Antragsteller
für ein totales Forschungsverbot an embryonalen Stammzellen
eingesetzt. Doch prominente Unionsvertreter unterstützten eine
andere Position: die Kanzlerin und die Forschungsministerin. Das
zeigt, wie wenig sich Politiker in diesen Fragen per
Grundsatzentscheidung festlegen lassen.
René Röspel (SPD)
© DBT/Werner Schüring
Kennzeichnend sind für Bioethikfragen ungewohnte
überparteiliche Koalitionen. Im April 2008 etwa stimmten
Politiker der Fraktion Die Linke mit Unionsabgeordneten für
einen von der FDP mehrheitlich unterstützten Antrag der
völligen Freigabe embryonaler Stammzellforschung — dem
jedoch nur eine Minderheit der Abgeordneten zustimmte. René
Röspel wiederum war derjenige, dessen Antrag mit großer
Mehrheit gewann. Er hatte den Kompromiss mitformuliert, den
Stichtag einmalig zu verschieben — für den auch die
Kanzlerin und Forschungsministerin waren. Um den Preis, dass viele
Forschungsgegner in Röspel einen Wendehals sahen. Er war in
der ersten großen Stammzelldebatte 2002 — einer der
Sternstunden des Parlaments — als vehementer Gegner
aufgetreten. Sechs Jahre später schien ihm die einzige
Möglichkeit, den damals durchgekommenen Stammzellimport, der
die Forschung durch die Stichtagsregelung beschränkt, zu
erhalten, indem man für eine einmalige Verschiebung
stimmte.
Andernfalls wäre es aus seiner Sicht zur völligen
Freigabe gekommen. Das war seine Güterabwägung.
„Man trifft auch für sich selbst schon eine
Kompromissentscheidung”, sagt er. Selten sei es so eindeutig,
dass man hundertprozentig hinter einer Entscheidung stehe. Auch
beim Thema „Patientenverfügung” gehe es ihm so. Da
gehe es um individuellste Einzelfälle —
„schwierig, das in einem Gesetz zu fassen”. Er wirkt
nachdenklich. Auch bei der PID könne er Gefühle und
Schicksale der betroffenen Hundert Elternpaare nachvollziehen.
„Die andere Seite ist, wie man das regelt, ohne dass es
ausufert und Dämme einreißt.” Man schwanke immer
zwischen individuellem, nachvollziehbarem Leid und Verantwortung
für die Gesellschaft, betont der 44-jährige
Molekularbiologe, der in der Tumorforschung gearbeitet hat.
„Das klingt jetzt hochtrabend, aber meine Auffassung ist,
dass das Parlament Regelungen für die ganze Gesellschaft
finden muss.”
Keine leichte Frage, nach welchem Maß man als Abgeordneter
solche Fragestellungen bemisst. Nur danach, wie man selbst denkt
— oder man zieht die Argumente und Interessen anderer in
Betracht, sodass sie am Ende die eigene gefährMeinung
beeinflussen. Röspel versucht, sich die Folgen der Regelungen
vorzustellen. Wenn sich etwa eine weitreichende Möglichkeit
der Patientenverfügung durchsetze — etwa festzulegen, ab
dem Alter von 80 Jahren keine medizinische Behandlung mehr haben zu
wollen —, „dann wird der Druck höher werden, als
alter Mensch keinem zur Last zu fallen und nicht kosten zu
dürfen”. Dass Menschen, unterstützt von politischen
Regelungen, derart ihren Ausstieg aus der Gesellschaft vorbereiten,
„das ist nicht mein Gesellschaftsbild”.
Aber auch hier gilt die Frage, woher Abgeordnete ihr
gesellschaftliches Leitbild nehmen, nach dem sie urteilen.
„Da bin ich sicher nicht unabhängig von der Umgebung, in
der ich aufgewachsen bin”, sagt Röspel spontan.
Andererseits öffne er sich bewusst möglichst vielen
gesellschaftlichen Realitäten. „Abgeordnete sind
Transmissionsriemen der Gesellschaft — sie kommen viel mehr
herum, als die meisten Menschen glauben.” Er rede mit
Pflegepersonal ebenso wie mit Ärzten, besuche Heime und habe
Betroffene in der Bürgersprechstunde. Er sehe alle Facetten
des Lebens, vom gut situierten Facharbeiter bis zum Obdachlosen.
„Ich sehe vor allem, wie viel Solidarität es in dieser
Gesellschaft braucht.” Da müsse man sich dann halt
entscheiden, welches politische Konzept man habe.
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Text: Corinna Emundts
Erschienen am 18. Juni 2008