Im Bundestag geht es um die Kunst des Regierens, um die Kunst der Argumentation, um die Kunst der Gesetzesberatung und um die Kunst der Kontrolle. Eine weitere Kunst des Bundestages ist dagegen in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt: nämlich die Kunst selbst. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert hat das Parlament erkannt, wie wichtig Kunstwerke für die Gemeinschaft sind – und diese alte Erkenntnis hat der Bundestag beim Umzug nach Berlin konsequent umgesetzt. Das Ergebnis ist nach Einschätzung von Experten einzigartig auf der Welt.
Rückblende: Anfang 1950 bestimmen Not und Einschränkungen die politische Lage. Nicht die Zeit für große Sprünge. Jeder muss sich nach der Decke strecken, die dringendsten Bedürfnisse mit kargen Mitteln erfüllen. In dieser Situation kommt der Bundestag zu dem Ergebnis, dass bei den öffentlichen Bauten des Bundes mindestens ein Prozent der Bausumme für Werke bildender Künstler vorzusehen sind. Begründung: „Kunst gehört ins Volk, Kunst gehört dorthin, wo Menschen sind.“ Deshalb müssten Kunstwerke von hohem Rang überall dort sichtbar werden, wo tagtäglich tausende von Menschen vorübergingen. Diese Werke sollten „zum Erlebnis besonders der heranwachsenden Generation gemacht“ werden.
18 Jahre später, längst ist die Richtlinie „K 7 der RBBau“, die das Bild der öffentlichen Bauten prägt, von Ländern und Kommunen übernommen, ersetzt der Bundestag in Bonn sein jahrelanges Provisorium durch funktionelle Abgeordnetenbüros. Das neue Abgeordnetenhochhaus, vom Volksmund nach dem Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier „langer Eugen“ genannt, zeigt ein konsequentes Miteinander von Politik und Kunst. Denn Architekt Egon Eiermann bezieht bei der Gestaltung der Sitzungssäle bedeutende Künstler der Zeit mit ein: Norbert Kricke, Günther Uecker, Fritz König, Emil Schumacher, H.A.P. Grieshaber setzen neue Standards. Das weckt Lust auf zeitgenössische Kunst – auch für die Büros selbst. Der Abgeordnete Gustav Stein, zugleich Professor für Kunstsoziologie an der Düsseldorfer Kunstakademie, legt den Grundstein für eine „Artothek“. Das erste Ankaufsprojekt des Bundestages läuft unter der Vorgabe „500 x 500“ – es werden 500 Kunstwerke angeschafft, die jeweils inklusive Rahmung nicht mehr als 500 Mark kosten dürfen.
Repräsentative Werke
Bei der Auswahl achtet Stein darauf, „weniger Bilder mit bedeutender Vergangenheit als vielmehr solche mit Zukunft“ für die Büros anzuschaffen. Seine Überzeugung: Ein Abgeordnetenhaus unserer Zeit solle „die Kunst des 20. Jahrhunderts repräsentieren“. Aber keinem Mitglied des Bundestages wird vorgeschrieben, wie er sein Büro schmücken soll. Aus dem nach und nach erweiterten Bestand eines Kunstlagers kann er sich „seine“ Werke auf Zeit aussuchen.
Auf Initiative von Bundestagspräsidentin Annemarie Renger wird der Ankauf ab 1976 verstetigt und institutionalisiert. Es gibt nun einen eigenen Haushaltstitel, jährlich stehen 100.000 Mark für Kunstwerke bereit. Eine Kunstkommission, in der Abgeordnete aller Fraktionen vertreten sind, berät nun bei den Ankaufsentscheidungen die Präsidentin, die zugleich Vorsitzende des Gremiums ist. Anfang der 90er Jahre wird die Ankaufssumme auf Einwirken von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth in zwei Schritten auf 200.000 Mark aufgestockt; heute beträgt sie jährlich 175.000 Euro. Viele kleine oder wenige große Werke können davon angeschafft werden. Ziel ist es, „für das gegenwärtige Kunstschaffen repräsentative Werke“ zu erwerben und junge Künstlerinnen und Künstler zu fördern.
Neben der Kunstkommission entsteht 1990 auch ein Kunstbeirat, der sich um ein Kunst-am-Bau-Konzept für den neuen Bonner Plenarsaal kümmert. Der ist noch nicht bezogen, da ist der Umzug nach Berlin bereits beschlossen. Und die beiden Gremien fusionieren: Seit 1995 berät und beschließt der Kunstbeirat unter dem Vorsitz des jeweiligen Bundestagspräsidenten sowohl über Kunst-am- Bau-Projekte als auch über den Ankauf von Werken für die „Artothek“.
Mit dem Umzug des Bundestages nach Berlin steht ein gewaltiges Stück Arbeit an. Ein vier Häuser umfassendes Konzept wird entwickelt, eine Serie von Kunstwettbewerben veranstaltet, eine Vielzahl von Aufträgen vergeben. „Ein gewisses Risiko war dabei“, erinnert sich Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Bundestages. Denn die renommierten Künstler, die der Bundestag einlädt, sich künstlerisch mit dem Reichstagsgebäude zu befassen, hätten ja in eine Schublade greifen und irgendein Werk präsentieren können. Sie tun es nicht.
Anspruchsvoller Auftrag
Gerhard Richter etwa, mit der Bitte konfrontiert, sich mit dem nördlichen Bereich des Westportals auseinander zu setzen, erinnert sich: „Die erste Idee war die: Da geht gar nichts. Das Gebäude war viel zu politisch belastet und viel zu bedeutsam. Und dann diese unmögliche Wand mit 28 Metern Höhe – ich habe ein Jahr lang versucht, Bilder dafür zu entwickeln. Das hat alles nicht geklappt.“ Dann kehrt er zu einem Entwurf zurück, den er zunächst nicht ernst genommen hatte: „die Flagge“. Sechs farbemaillierte Glasflächen von je 1,50 mal 7 Metern ergeben „Schwarz Rot Gold“ – ein Werk, das nur auf den ersten Blick allein die Bundesflagge zitiert. Schon das Format weist über sie hinaus, dazu nehmen die Spiegelungen die Umgebung mit auf, darunter auch die draußen flatternde „echte“ Fahne. Das Werk ist Gegengewicht zur Architektur und Ruhepunkt im besonders quirligen Betrieb des Eingangsbereiches.
Auch Sigmar Polke fühlt sich durch die Anfrage des Bundestages herausgefordert, Neues zu wagen. Er wählt fünf Leuchtkästen, die er wie ein Band auf der anderen Seite der Eingangshalle drapiert. Er nimmt Fotografien in lebendige Bildcollagen hinein und schafft es mit spezieller Oberflächenbehandlung, dass sich die Bilder beim Vorübergehen des Betrachters in dessen Wahrnehmung bewegen, dass beim „Hammelsprung“ tatsächlich ein Mann springt. Doch nicht nur Ironie bestimmt die Aussage. Polke setzt sich auch mit dem Drahtseilakt in der Politik auseinander, mit dem Kräftemessen zwischen Regierung und Opposition und nicht zuletzt mit der Neigung zu „Traumtänzereien“, versinnbildlicht in einer blau umwölkten „Germania“.
Wie der britische Architekt Norman Foster für den Umbau des alten Reichstagsgebäudes gewonnen wird, sollen Vertreter auch der anderen drei Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im neuen Bundestag zu Wort kommen. Aus Frankreich ist das Christian Boltanski. Er nimmt 4.781 Metallkästen, jeweils einen für jeden der seit 1919 bis 1999 frei gewählten deutschen Abgeordneten, und stapelt sie zu zwei Mauern im Untergeschoss des östlichen Zugangs zum Reichstagsgebäude. Wohl ist ihm dabei nicht, auch die Namen der nationalsozialistischen Abgeordneten aus der Weimarer Zeit mit aufzunehmen. Doch er entscheidet sich dafür. „Ich glaube, dass damit die Gefährdung der Demokratie gezeigt werden kann. Auch die beste Staatsform kann, wie hier, zur Diktatur führen.“ Schwarze Bänder an manchen Kästen weisen auf ermordete Abgeordnete hin, eine schwarze Box für die Jahre 1933 bis 1945 auf die Zeit, in denen die nationalsozialistische Diktatur demokratisches Leben unmöglich machte. Boltanskis „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ mahnt zur Wachsamkeit und zeigt die demokratischen „Grundmauern“, die das aktuelle Geschehen tragen.
Auf Missverständnisse in der Wahrnehmung des Reichstagsgebäudes als Symbol weist der russische Künstler Grisha Bruskin in seinen 115 Einzelbildern für den Clubraum des Parlamentes hin. Seine Personen ähneln den Volkshelden der Sowjetpropaganda, hier werden sie ironisiert verwendet. Etwa der Junge, der eine Bombe in der Hand hält, auf der „zum Reichstag“ steht. Bruskin: „Die Russen dachten, Hitler und die Nazis säßen im Reichstag – für sie war der Reichstag ein Symbol des Faschismus, was natürlich völlig falsch ist.“ Und auch die USKünstlerin Jenny Holzer schafft etwas „ganz Spezifisches“ für den Bundestag, lässt im Parlament gehaltene Reden mitsamt blinkender Zwischenrufe als Leuchtschrift auf einer Stahlstele vom Boden zur Decke laufen.
14 weitere Künstler bereichern das Reichstagsgebäude mit eindrucksvollen Beispielen zeitgenössischer Kunst. Darunter Günther Ueckers Andachtsraum, der sowohl eine Orientierung an Jerusalem als auch an Mekka möglich macht und die gemeinsamen Ursprünge von christlicher, jüdischer und muslimischer Kultur hervorhebt. Oder die großformatigen „Melancholie“- und „Abgrund“-Interpretationen Caspar David Friedrichs von Georg Baselitz, die auch in die Reden von Politikern Eingang finden.
Offenheit für Neues
„Es gibt sicher politisch wichtigere Gremien als den Kunstbeirat“, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert. Doch angesichts des herausragenden Stellenwertes von Kunst und Kultur für Gesellschaft, Politik und jeden einzelnen Menschen sieht er seine Aufgabe als Vorsitzender dieses Gremiums als „besonders schöne und auch besonders wichtige“ an. Neun Mitglieder zählt der Kunstbeirat in dieser Wahlperiode. Außer Lammert gehören dem Gremium aus der CDU/CSU die Abgeordneten Renate Blank und Siegfried Kauder, aus der SPD Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann und Angelika Krüger-Leißner, aus der FDP Jan Mücke, Lukrezia Jochimsen von der Fraktion Die Linke. und von Bündnis 90/Die Grünen Katrin Göring-Eckardt an. Eine Besonderheit ist, dass der Kunstbeirat nicht Vorschläge fürs Plenum erarbeitet, sondern in der Regel gleich selbst entscheidet.
Das führt oft genug zu leidenschaftlichen Diskussionen. Besonders bei den Ankaufssitzungen im Frühjahr und Herbst, wenn immer wieder auch schmerzlich auf Werke verzichtet werden muss, weil das Geld nicht mehr reicht. Doch die schönen Momente überwiegen eindeutig. „Ein Glück“ nennt Kaernbach den Bestand von 111 Werkgruppen in den Gebäuden des Bundestages und die rund 4.000 Exponate der Kunstsammlung. Der heute 48-jährige Kunsthistoriker ist 1989 zum Bundestag gekommen – zunächst zu den Wissenschaftlichen Diensten. Doch die parallele Aufgabe als Berater des Kunstbeirates hat sich immer stärker entwickelt, zunächst in Form einer Projektbetreuung für die „Kunst am Bau“ im Zusammenhang mit dem Berlinumzug, dann als Kurator für die gewachsene Kunstsammlung, nun auch in Form eines eigenen Referates für alle Belange der Kunst. Hier zeigt sich, dass die Bedeutung der Kunst im Bundestag inmitten der Kulturmetropole Berlin deutlich zugenommen hat.
Hat der Kurator selbst bestimmte Lieblingswerke? „Das wechselt immer wieder“, sagt Kaernbach, es hänge von der aktuellen Stimmung, aber auch von der eigenen Weiterentwicklung ab. Kaernbachs Kennzeichen ist die ständige Offenheit für Neues, auch Neues im Alten. So komme es oft vor, dass er sich über bestimmte Kunstwerke eine Meinung gebildet habe und glaube, mit den Aussagen „durch“ zu sein. Und dann erlebe er, wie bei einer Kunstführung ein Besucher eine völlig andere Interpretation entdeckt, und ist dann „von dieser Idee ganz hingerissen“. Nicht nur dann teilt er gern die Einschätzung von Professor Götz Adriani, einem von vielen prominenten Kunstberatern des Bundestages: Ein solches Parlament, das nicht museale Gemälde in seine Räume bringe, sondern ein derartiges Bekenntnis zur zeitgenössischen Kunst ablege, das gebe es „auf der Welt wohl kein zweites Mal“.
Text: Gregor MayntzJoseph Kosuth: Was ist das Leben?
Das Bild auf S. 21 zeigt den Hallenboden des Paul-Löbe-Hauses mit den eingelassenen Metalllettern von Joseph Kosuth. Die beiden dort zu lesenden Sätze lauten:
„Was war also das Leben? Es war Wärme, das Wärmeprodukt, formerhaltender Bestandlosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Prozeß unaufhörlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiweißmolekel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozeß von Zerfall und Erneuerung mit süß-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkt des Seins Balancierenden. Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem – T.M.“ Thomas Mann, „Der Zauberberg“, Roman (1924)
„Denn was ist das Leben des Menschen? Wie Regentropfen, die vom Himmel auf die Erde fallen, durchmessen wir unsere Spanne Zeit, vom Winde des Schicksals hin und her getrieben. Der Wind und das Schicksal haben ihre unabänderlichen Gesetze, nach denen sie sich bewegen; aber was weiß der Tropfen davon, den sie vor sich her fegen? Er rauscht mit den anderen durch die Lüfte, bis er im Sande versickern kann. Aber der Himmel sammelt sie alle wieder an sich und gießt sie wieder aus, und sammelt und vergießt wieder und wieder immer dieselben und doch andere. R.H.“ Ricarda Huch, „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“, Roman (1893)