Wolfgang Thierse ist Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und seit 1998 Mitglied des Bundestagspräsidiums. Mit allem, was er tut, möchte er andere in Politik einbeziehen.
Mit bunter Kreide wird auf den Steinplatten des Kollwitzplatzes für ein Schachturnier im Freien geworben. Daneben hat irgendjemand ein Mädchen mit Ringelzöpfchen und riesigen Füßen gemalt. Eine unabhängige Wählergemeinschaft bietet auf Aufklebern den Problembären als Spitzenkandidaten an: „Wähl mich!“ Der Bär sieht sorgenvoll aus.
Den Wolfgang Thierse haben sie hier in Prenzlauer Berg, das zum Berliner Bezirk Pankow gehört, schon oft gewählt. Kollwitzplatz, das ist ein Heimspiel und Heimat für ihn. Er wohnt seit einer kleinen Ewigkeit hier und die Menschen kennen den Mann mit dem rötlichen Vollbart, der oft schnellen Schrittes durchs Karree läuft, aber auch innehält, wenn ihn jemand erkennt, ihm einen Satz sagen will, der eine Ermunterung oder auch eine Kritik sein kann. Wolfgang Thierse weiß, wie wichtig es für einen Politiker ist, sich diese zwei, drei oder manchmal auch fünf Minuten zu nehmen. Sie werden sich auszahlen. Mit guter Politik, die Verständnis zeigt für das, was die Leute bewegt.
Wolfgang Thierse sitzt auf einem Stuhl des dänischen Stühledesigners Hans J. Wegner in der Sichtachse zu der bronzenen Käthe Kollwitz, die dem Platz Namen und Zentrum gibt und auf der im Sommer ständig Kinder turnen. Eine Familie aus Niedersachsen kommt vorbei, Großeltern und zwei kleine Enkelkinder. Der Mann gibt Wolfgang Thierse die Hand und sagt, das sei ja nun toll, dass man den Politiker ausgerechnet hier treffe. Und er solle mal weiter so machen. So läuft das also. Kurz und aufmunternd.
In den vergangenen zwei Wahlperioden war der 1943 in Breslau Geborene Präsident des Deutschen Bundestages. Er ist dies unter anderem auch geworden, weil er für den 1990 mit Trotz und Stolz gesagten Satz „Es gab ein richtiges Leben im falschen System“ steht. Seine Biografie konnte und kann als Beweis gelten. Er selbst hat sich stets geweigert, seinen Werdegang zu dramatisieren oder zu idealisieren: „Ich muss mich meiner Biografie nicht schämen und muss sie nicht ausstellen.“
Aber als Politiker ist man natürlich immer auch ein wenig ausgestellt. Die Menschen erwarten, dass man sich und seine Politik erklärt. Wolfgang Thierse ist bekannt dafür, dass er dies nachvollziehbar tut. Mit großer Beharrlichkeit sagt er immer wieder, dass ihm jener Teil seiner Arbeit, der mit Kommunikation zu tun habe, am besten gefalle und am wichtigsten sei.
Miteinander reden, das kann nicht von Routine aufgeweicht oder klein gedacht werden. Das ist immer neu. Vielleicht ist diese Lust am miteinander Reden auch der Grund, dass Wolfgang Thierse es überall, wo er war, immer auch lange aushielt und aushält. Im Bundestag sitzt er seit 1990. 13 Jahre hat er als Kulturwissenschaftler an der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet, als „fast Privatgelehrter in einer geräumigen Nische“, 15 Jahre war er nach der Wiedervereinigung stellvertretender Parteivorsitzender der SPD. „Man braucht einen Sockel von Vertrautem und Gewohntem, um neue Themen anpacken zu können. Ich hadere nicht mit der notwendigen Routine, auch in der Politik. Sie hat etwas Beruhigendes, wenn zugleich Neues entstehen kann.“
„Man kann Politik nicht auf dem Silbertablett servieren. Politische Leidenschaft entsteht aus der Erfahrung, mit etwas nicht einverstanden zu sein, an etwas zu leiden.“
Wolfgang Thierse sagt, dass Demokratie Langsamkeit brauche. Und er sagt immer wieder: Politik sei nicht dazu da, die Menschen zu unterhalten. Aber faszinieren, das wäre doch möglich?
Natürlich. Wolfgang Thierse erzählt eine Geschichte: Wie er als Kind schon eine Faszination für Nachrichten entwickelte. Kaum konnte er lesen, buchstabierte er die Zeitungen. „Und die waren in der DDR wahrlich nicht sonderlich interessant.“ Besonders faszinierend fand er die Reden, die im Bundestag gehalten wurden. Thierse sagt, dass er als Kind den Egon Bahr gar nicht mochte. Weil der Vater immer, wenn im RIAS ein Kommentar von Egon Bahr angekündigt wurde, Ruhe am Tisch befahl. Und dann musste man schweigen. Das konnte einem Kind nicht gefallen. Also verknüpfte sich der Name Egon Bahr vorerst mit „Mundhalten“. Und erst später mit intelligenter Politik.
So selbstverständlich, auch darüber redet Wolfgang Thierse, stellt sich Interesse für Politik nicht ein. Die aber sei eine Voraussetzung für den Wunsch oder die Lust, sich einzumischen. „Man kann Politik nicht auf dem Silbertablett servieren. Politische Leidenschaft entsteht aus der Erfahrung, mit etwas nicht einverstanden zu sein, an etwas zu leiden. Daraus entstehen die Fragen: Warum ist das so? Wie und mit wem kann man das ändern?“ Ein Rezept gegen Gleichgültigkeit oder Resignation gibt es nicht. Aber Thierse sagt, die Politik könne und müsse ihre Verantwortung wahrnehmen, ihr Tun nachvollziehbar erklären. Auch oder gerade dann, wenn die Medien zu Verkürzungen oder Skandalisierung neigten. „Ich versuche immer, erst das Problem zu beschreiben, dann zu sagen, welche verschiedenen Lösungswege auf dem Tisch liegen, und zu erklären, warum ich den Lösungsweg B für besser halte als A oder C. Die Kategorien Sieg und Niederlage sind nicht die richtigen, um zu beschreiben und zu übersetzen, was Politik tut. Aber natürlich setzt das die Bereitschaft voraus, zuhören zu wollen.“
Die Freiheit des Denkens intelligent zu nutzen und die Freiheit der Rede zum miteinander Reden zu gebrauchen, das empfindet Wolfgang Thierse noch heute als den schönsten Zugewinn der Zeiten, die 1989 für ihn angebrochen sind. Auch wenn die Dinge und Angelegenheiten sich oft wiederholen. Manchmal ermöglicht die Wiederholung größere Gelassenheit.
„Ich versuche immer, erst das Problem zu beschreiben, dann zu sagen, welche verschiedenen Lösungswege auf dem Tisch liegen, und zu erklären, warum ich den Lösungsweg B für besser halte als A oder C.“
Wolfgang Thierse mischt sich ein. Das macht ihn aus und bleibt ihm wichtig. Als Mitglied des Ausschusses für Kultur und Medien ist er Berichterstatter für Themen wie Gedenkstättenkultur, Erinnerungsarbeit, Stasiunterlagengesetz. Er ist Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD, in der man sich mit der Frage befasst, welches die Normen sind, auf denen Gesellschaft aufbaut, welche Grundwerte wichtig sind. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität — das klingt zunächst einfach und ist im Kanon der Werte gesetzt. „Die kürzestmögliche Definition von Gerechtigkeit heißt: gleiche Freiheit. Aber wo beginnt das? Bei gleichen Bildungschancen? Welchen Begriff von Solidarität haben wir? Was ist die erfahrene Solidarität wert? Wie können wir ändern, dass in diesem reichen Land Kinder ein Armutsrisiko sind? Einen skandalösen Zustand abschaffen also.“
Offensichtlich ist, dass auch nach so vielen Jahren Politik mehr Fragen als Antworten im Raum stehen. Und dass sich daraus für einen wie Thierse die Kraft und die Lust schöpfen lassen, weiterzumachen und weiterhin anderen zu vermitteln, was man tut. Darin liegt ein Teil des Glücks, das man im Leben und an seinem Leben empfinden kann. Wolfgang Thierses Vorstellung von persönlichem Glück hat etwas mit den Momenten des Innewerdens zu tun. „So wie Walter Benjamin es beschrieb: Glücklich sein heißt, ohne Schrecken seiner selbst innewerden zu können.“
Ein schönes Bild, sich seiner selbst „innewerden zu können“. Auch wenn es geradezu den Moment beschreibt, da das Gelungene schon fast Vergangenheit ist. Und Neues angefasst werden muss, um wieder zu gelingen.
Das Kreidemädchen mit den Ringelzöpfen und den riesigen Füßen hat ein wenig unter dem Publikumsverkehr auf dem Kollwitzplatz gelitten. Das Kleid ist ramponiert und ein halber Zopf fehlt. Wolfgang Thierse macht sich schnellen Schrittes auf den Weg. Wahrscheinlich muss er noch ein oder zwei Mal Pause einlegen für ein kurzes Gespräch. Wahrscheinlich wird es ihm Spaß machen.
Wolfgang Thierse (SPD)
Vizepräsident des Deutschen Bundestages
Geboren
22. Oktober 1943 in Breslau
Wohnort
Berlin
Ausbildung
Lehre zum Schriftsetzer; Studium der Kulturwissenschaft und
Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin
Ehrenpromotion
26. Februar 2004 von der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster
Beruf
Kulturwissenschaftler, Germanist
Familie
verheiratet, zwei Kinder
Politischer Werdegang
Weitere Funktionen und
Mitgliedschaften
Text: Kathrin Gerlof
Erschienen am 31. Januar 2007