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Gültig ab: 28.02.2006 15:35
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Neue Liebe zum Kind?

Bild: Jörn Wunderlich (Die Linke.) und Nicolette Kressl (SPD)
Jörn Wunderlich (Die Linke.) und Nicolette Kressl (SPD)

Bild: Im Gespräch: Nicolette Kressl ...
Im Gespräch: Nicolette Kressl ...

Bild: ... und Jörn Wunderlich.
... und Jörn Wunderlich.

Streitgespräch: Familienpolitik

Familienpolitik ist wieder „in“. Aufgeschreckt durch eine immer drastischer sinkende Geburtenrate haben alle Parteien die Förderung von Familien und Kindern auf ihre Fahnen geschrieben. Gerade hat sich die Koalition auf eine bessere steuerliche Förderung der Kinderbetreuung geeinigt.

Und für die Zukunft sind ein neues Elterngeld und kostenlose Kindergartenjahre im Gespräch. Luftschlösser oder bittere Notwendigkeit? Darüber diskutieren im Streitgespräch mit BLICKPUNKT BUNDESTAG die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Nicolette Kressl, und, für die Fraktion Die Linke., Jörn Wunderlich, der auch Obmann seiner Fraktion im Familienausschuss ist.

Blickpunkt Bundestag: Ist das, was Union und SPD nach schweren Wehen beschlossen haben – berufstätige Eltern wie Alleinerziehende können künftig für Kinder bis zu 14 Jahren zwei Drittel ihrer Betreuungsausgaben bis maximal 4.000 Euro pro Kind und Jahr von der Steuer absetzen – ein großer Wurf oder ein kleiner Anfang?

Nicolette Kressl: Es war ein wichtiger Baustein im Rahmen der gesamten familienpolitischen Debatte, auch wenn die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten – auch Eltern mit nur einem Alleinverdiener sind übrigens mit einbezogen – sicher nicht der zentrale Punkt ist. Deshalb werden wir auch weitere Vorhaben anpacken. Vergessen Sie überdies nicht, dass wir wichtige Schritte dahin, dass Eltern sich ihre Kinderwünsche erfüllen können, schon in der letzten Legislaturperiode gegangen sind. Zum Beispiel mit dem Ausbau der Kinderbetreuungsangebote.

Blickpunkt: Herr Wunderlich, ich vermute, dass Sie und Ihre Partei das anders sehen. Warum?

Jörn Wunderlich: Es ist zwar richtig, dass manche Familie durch die bessere steuerliche Absetzbarkeit in Zukunft finanziell etwas besser da steht, aber unterm Strich bekommen wir neue soziale Ungerechtigkeiten. Eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von monatlich 1.500 Euro hat relativ wenig von der Neuregelung. Denn die begünstigt wieder einmal diejenigen, die höhere Einkommen haben und entsprechende Steuern zahlen.

Kressl: Einspruch, so ist es ja nicht. Entgegen ursprünglichen Plänen, Alleinerziehende zunächst einen Sockel von 1.000 Euro Betreuungskosten selbst tragen zu lassen, können sie jetzt schon den ersten Euro geltend machen. Natürlich wirkt auch hier die Steuerprogression. Uns war vor allem wichtig anzuerkennen, dass bei Erwerbstätigkeit von Eltern Kosten für die Kinderbetreuung entstehen, die steuerlich abgemildert werden müssen. Dazu hat uns auch das Bundesverfassungsgericht verpflichtet. Dass Familienpolitik aus mehr bestehen muss – darüber sind wir uns hoffentlich einig.

Blickpunkt: Angesichts von 36 Milliarden Euro Kindergeld, die der Staat im Jahr an Familien überweist, und 25 Milliarden Euro, die die Kommunen für Kindergärten ausgeben, wirken die jetzigen Erleichterungen von 460 Millionen Euro eher wie Peanuts. Warum ist die Koalition so hasenfüßig bei diesem großen Thema?

Kressl: Ich warne davor, bei unserer Diskussion nur die Steuerabzugsfähigkeit im Auge zu haben. Sie ist einer von vielen Bausteinen unserer Familienpolitik. Natürlich sind andere Systemumstellungen – etwa Elterngeld und intensiver Ausbau der Betreuungsangebote – bedeutsamer. Das wird politisch wie finanziell auch der Schwerpunkt in den nächsten Jahren sein.

Wunderlich: Ich finde den Vorwurf der Hasenfüßigkeit berechtigt. Hier wird gekleckert, statt geklotzt. Natürlich muss eine bessere Familienpolitik finanziert werden, aber die Koalition macht sich ja noch nicht einmal Mühe, über neue Einnahmen nachzudenken.

Blickpunkt: Woher sollte denn das Geld kommen?

Wunderlich: Durch eine grundlegende Steuerreform, die wir schon lange fordern. Zum Beispiel durch eine Vermögenssteuer, durch eine Anhebung der Erbschaftssteuer.

Kressl: Sie lesen offensichtlich keine Urteile des Bundesverfassungsgerichts! Das legt uns nämlich enge Grenzen auf. Und: Eine Vermögenssteuer würde an die Länder fließen, also den Bund nicht finanzkräftiger machen.

Blickpunkt: Worum geht es eigentlich bei der neuen Förderung? Steht die Kinderbetreuung im Vordergrund oder die Schaffung von Arbeitsplätzen in privaten Haushalten, wie die Bundeskanzlerin betont hatte, oder geht es um eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie? In der Argumentation ging das häufig ziemlich durcheinander...

Kressl: Da hilft ein Blick in den Koalitionsvertrag. Denn darin steht, dass zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine bessere steuerliche Absetzbarkeit von Betreuungskosten anzustreben ist.

Wunderlich: Ich glaube, die Koalition wollte etwas ganz anderes: Die Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen im Niedriglohnsektor. Boshaft gesagt: Hier soll eine neue Kaste von modernen Leibeigenen herangezogen werden.

Kressl: Herr Kollege, das ist nun wirklich Unsinn, an den Sie doch selber nicht glauben.

Blickpunkt: Ist unsere Familienförderung nicht viel zu kompliziert? Viele Menschen schauen zwischen Transferleistungen, Abschreibungsmöglichkeiten und Zuschüssen gar nicht mehr durch!

Kressl: Mehr Transparenz wäre in der Tat sehr wichtig. Die unterschiedlichen Zuständigkeiten in unserem föderalen System machen uns die Sache zusätzlich schwer. Bei den Kitas sind die Länder oder die Kommunen zuständig, bei den steuerlichen Regelungen ist es der Bund. Es wäre eine gute Aufgabe für die Große Koalition, hier für mehr Klarheit und Transparenz zu sorgen.

Wunderlich: Richtig! Das System ist viel zu aufgesplittert, wir sitzen in der Föderalismusfalle. Die vielen unterschiedlichen Zuständigkeiten müssen dringend zusammengefasst werden.

Blickpunkt:Herr Wunderlich, Ihre Partei ist besonders im Osten stark. Dort gab es in der DDR-Zeit mit dem Kindersegen keinerlei Probleme. Und zwar deshalb, weil der Staat für eine flächendeckende, ganzzeitliche und kostengünstige Kinderbetreuung gesorgt hatte. Wäre das nicht ein Vorbild auch für das vereinte Deutschland?

Wunderlich: Ja, sicher. Ich selbst habe zwar nicht in der DDR gelebt, aber die DDR hat in der Kinderbetreuung durchaus eine Vorbildfunktion. Ich hätte mir gewünscht, dass man aus den positiven Erfahrungen sowohl der alten Bundesrepublik wie auch der DDR die besten Sachen herausgenommen und flächendeckend transferiert hätte.

Kressl: Leider stimmt es, dass die meisten alten Bundesländer immer noch die Schlusslichter beim Angebot der Kinderbetreuung sind. Das zeigt, dass wir vielleicht fälschlicherweise die Erfolge der Kinderbetreuung in der DDR tabuisiert haben. Im Übrigen: Nicht nur die Politik ist bei der Kinderbetreuung gefragt, genauso sind es Wirtschaft und Unternehmer. Auch die müssen mit in die Pflicht genommen werden.

Blickpunkt: An Sie beide, Frau Kressl und Herr Wunderlich, die Frage: Wäre alles nicht viel einfacher, wenn man Steuererleichterungen, ja sogar das Kindergeld für eine bestimmte Zeit streichen, dafür aber für alle Kinder Im Gespräch: Nicolette Kressl ... ... und Jörn Wunderlich. kostenlose Krippen- und Kitaplätze anbieten würde?

Wunderlich: Eine sehr gute Überlegung! Sie sollten in die Politik gehen!

Kressl: Klingt gut, ist aber realitätsfern. Denn das Verfassungsgericht hat unwiderruflich auf Kinderfreibeträge im Steuerrecht bestanden. Wenn wir das Kindergeld streichen würden, wäre das eine besondere Belastung für die Niedrigverdiener, denn die Gutverdiener könnten weiterhin von den Freibeträgen profitieren. Wir Sozialdemokraten wollen das nicht. Und ich nehme an, Herr Kollege, dass gerade auch Ihre Partei das nicht will.

Wunderlich: Mit einer Grundsicherung würden auch Niedrigverdienende deutlich entlastet.

Blickpunkt: Wird die Politik zu sehr vom Verfassungsgericht eingeengt?

Kressl: Ich möchte keine generelle Kritik üben. Aber es gibt sicherlich einige Entscheidungen, die wir Sozialdemokraten für falsch oder problematisch gehalten haben. Spitz gesagt, hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass wir einige dieser Urteile Herrn Kirchhoff zu verdanken haben. Ich hätte mir vom Bundesverfassungsgericht manchmal ein anderes Familienbild gewünscht.

Das Gespräch führte Sönke Petersen.

Fotos: Photothek
Erschienen am 7. März 2006

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E-Mail: nicolette.kressl@bundestag.de
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