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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: Umdenken und durchstarten
Gültig ab: 16.08.2005 00:00
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Umdenken und durchstarten

Bild: Blick in den Plenarsaal des Bundestages
Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt am 1. Juli die Vertrauensfrage im Parlament.

Bild: Uwe Schummer
Der Abgeordnete Uwe Schummer (CDU) mit seinen Mitarbeitern.

Bild: Gisela Piltz
Die Abgeordnete Gisela Piltz (FDP) bei der Arbeit.

Bild: Winfried Nachtwei
Der Abgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen) berät sich mit seinen Mitarbeitern.

Bild: Petra Merkel
Im Gespräch: Die Abgeordnete Petra Merkel (SPD).

Bild: Petra Merkel
„Direkt umgeschaltet im Kopf.“ Petra Merkel, SPD

Bild: Winfried Nachtwei
„Durchstarten gegen einen kräftigen Gegenwind.“ Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen

Bild: Gisela Piltz
„Ich laufe von Termin zu Termin.“ Gisela Piltz, FDP

Bild: Uwe Schummer
„Das bedeutet eine ungeheure Beschleunigung.“ Uwe Schummer, CDU

Bild: Otto Schily am Tisch vor Akten
Visa-Untersuchungsausschuss im Juli: Bundesinnenminister Otto Schily am Tag seiner Befragung.

Auf dem Weg zu vorgezogenen Neuwahlen

Seit dem 22. Mai scheint nichts mehr normal zu sein im Bundestag. Seit der Ankündigung des Kanzlers, über die Vertrauensfrage dem Bundespräsidenten den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen zu eröffnen, bereiten sich die Abgeordneten 17 Monate vor dem turnusmäßigen Ende der Wahlperiode auf den Schlussspurt vor: Von der einen zur anderen Minute herrscht Abschieds- und Aufbruchsstimmung. Über Wochen ist zudem unklar, ob es wirklich zu Neuwahlen kommt. Eine ungewöhnliche Situation, ähnlich einem Schwebezustand oder „Interregnum“, der Zeit zwischen zwei Regierungsphasen. Am Abend des 21. Juli schließlich gibt Bundespräsident Horst Köhler bekannt, dass er den Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt hat. Wie geht der Bundestag, wie gehen die Abgeordneten mit dieser spannenden Zeit um?

Es ist ein Wechselbad der Gefühle, in das viele Parlamentarier am Abend der NRW-Landtagswahlen gestürzt werden. Petra Merkel, SPD-Politikerin aus Berlin etwa, hat nur einen Gedanken, als sie die Neuwahlankündigung von ihrem Fraktionschef Franz Müntefering unterwegs im Autoradio hört: „Oh, jetzt erst mal rechts ran fahren und anhalten.“ Wie ein Schlag trifft es viele Mandatsträger. Winfried Nachtwei, Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen aus Münster, hat zuerst nur einen Verdacht: „Münte spinnt, das kann doch nicht wahr sein.“ Gisela Piltz, FDP-Politikerin aus Düsseldorf und über die Reserveliste nachträglich in den Bundestag eingezogen, weiß schnell, was diese Überraschung für sie persönlich bedeutet: „Später rein und früher raus, so hatte ich mir meine erste Wahlperiode im Bundestag nicht vorgestellt.

Für Uwe Schummer, CDU-Abgeordneter aus dem niederrheinischen Willich, gibt es jedoch einen spürbaren Nebeneffekt: „Das bedeutet eine ungeheure Beschleunigung.“ Zu diesem Zeitpunkt habe jeder mit dem Gefühl gelebt, noch gut ein Jahr Zeit zu haben, bevor es mit den Wahlkampfvorbereitungen losgehen würde. Doch nun ist mit einem Schlag „unheimlich viel Dynamik und Entwicklung in Berlin und in der Politik insgesamt“. Der Bundespräsident hat noch nicht über die Auflösungsempfehlung des Kanzlers entschieden, da ist Schummer bereits von den örtlichen Parteifreunden erneut als Kandidat aufgestellt. Besonders freut ihn das Ausmaß der Zustimmung an der Basis. „Mit knapp 95 Prozent nominiert – da sieht man doch, dass sich auch die Arbeit von drei Jahren gelohnt hat.“

Für Union und FDP ist die erste Hürde auf dem Weg zu Neuwahlen kein Problem: Es ist nicht ihr Kanzler, also wissen sie, wie sie auf seine Vertrauensfrage antworten. Die Koalitionsabgeordneten wühlt die Frage jedoch auf. Um ihrem Kanzler den Wunsch nach Neuwahlen zu erfüllen, sollen sie ihm nicht das Vertrauen aussprechen – jedenfalls nicht alle 304. Denn die Vertrauensfrage kann nur zu Neuwahlen führen, wenn die Kanzlermehrheit von 301 Ja-Stimmen verfehlt wird. Für alle ist das eine komplizierte Gewissensentscheidung.

„Direkt umgeschaltet im Kopf.“ Petra Merkel, SPD

Viele ringen mit sich, wie Nachtwei: „Am Tag nach der Ankündigung konnte ich diese Neuwahlankündigung für zwölf Stunden als letzten Disziplinierungsversuch des Kanzlers gegenüber der SPD-Fraktion nachvollziehen. Danach ist mir das Verständnis jedoch wieder abhanden gekommen.“ Wochenlang empfindet er, „dass da von Seiten des Kanzlers denjenigen die Loyalität aufgekündigt wurde, die ihm sieben Jahre lang Loyalität entgegengebracht haben“.

Ein Hauch von Wehmut

Die Fraktions- und Koalitionsspitzen setzen sich in diesen Tagen zusammen, um jedes geplante Gesetzesvorhaben abzuklopfen: Schaffen wir es noch, das durch den Bundestag zu bringen? Wie weit sind die Vorarbeiten? Ist anderes wichtiger? Am Ende bleiben wenige Dutzend Vorhaben übrig. „Das lief nicht alles schmerzlos“, erinnert sich Petra Merkel. Auch Winfried Nachtwei spricht von einem „Schlag ins Kontor“ angesichts der vielen Absichten auf den verschiedenen Feldern der Sachpolitik. Jeder Abgeordnete hatte wichtige Ziele – auch solche, die nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen.

Zum Beispiel bei Uwe Schummer: Sein Vorhaben zum Bildungssparen – auf Eis. Zum Beispiel bei Winfried Nachtwei: Mit dem Aktionsplan „zivile Krisenprävention“ stehe Deutschland zwar „einmalig“ da, aber es komme darauf an, „das gute Papier in viele gute Taten umzusetzen“. Aber auch für diese Taten heißt es vorerst „Stopp“. Der Grund: Kein Bundestag soll seinen Nachfolger vorbestimmen. Auch nicht beim Gang der Gesetzgebung durch die verschiedenen Schritte der Vor- und Detailberatungen. Jeder Bundestag ist vom Volk neu gewählt, und deshalb soll sich jeder Bundestag auch selbst neu auf den Weg machen. Daher fällt jedes Gesetzesvorhaben, das zum Ende einer Wahlperiode nicht in dritter Lesung verabschiedet ist, dem so genannten „Diskontinuitätsprinzip“ zum Opfer.

„Ich laufe von Termin zu Termin.“ Gisela Piltz, FDP

Viele Politiker wussten schon seit langem, dass sie nicht erneut antreten wollen. Für sie kommt der Abschied ein Jahr früher als geplant. Andere müssen sich schnell entscheiden, ob sie weitermachen. So bringen diese Wochen auch einen Hauch Wehmut. Die letzte Sitzung der Fachgremien, die letzte Ausschusssitzung, eine der letzten Fraktionssitzungen nach teilweise langer Zugehörigkeit zum Hohen Haus: „Das war schon ein Stück Abschiednehmen“, berichtet Petra Merkel. Aber die Stimmung ist geteilt. Die anderen, die bleiben möchten und wiedergewählt werden wollen, setzen sich ebenfalls zusammen, sprechen über mögliche Wahlkampfthemen, über Chancen und Strategien.

Keine Ferien für Mitarbeiter

Die vorgezogenen Neuwahlen sieht Petra Merkel deshalb schnell auch als „neue Chance“, als „guten Weg, über ein neues Votum für klare Verhältnisse in der Bundespolitik zu sorgen“. Insofern hat die Berlinerin „direkt umgeschaltet im Kopf“ – und da mit viel Energie weitergemacht, wo sie im vergangenen Sommer auch Punkte im Wahlkreis sammeln konnte: Als damals der SPD im Zusammenhang mit „Hartz IV“ der Wind ganz kräftig ins Gesicht blies, hat Petra Merkel den Gedankenaustausch mit den Bürgern gesucht. „Da stellt sich die Meinung ganz anders dar, als man in den Zeitungen liest, im TV sieht oder im Radio hört. Das fand ich gut.“ Und so läuft es auch in diesem Sommer. Nur noch intensiver.

Mit speziellen Aussichten gehen die nordrhein-westfälischen Bundestagskandidaten unmittelbar nach dem NRW-Wahlkampf in den Bundestagswahlkampf: „Wir haben die Perspektive, danach erst einmal drei Jahre zu haben, in denen keine Wahlen sind“, unterstreicht Schummer. Das motiviert, sofort noch einmal von vorn zu beginnen. Auch Winfried Nachtwei hat einen Stimmungsumschwung erlebt. „Am 1. Juli kam bei der Kanzlerrede eine Stimmung von Abschied hoch. Aber in weniger als zwei Stunden kam der Umschwung: Bei der Fischer-Rede entstand das Gefühl von Durchstarten. Durchstarten gegen einen ganz kräftigen Gegenwind, gegen eine mächtige Gegenströmung.“

Genauso gehen die Mitarbeiter der Abgeordneten statt in die Ferien nun „aufs Ganze“. Schließlich steht auch ihr eigener Job auf dem Spiel. Über 3000 persönliche Mitarbeiter der Abgeordneten haben nur befristete Verträge, die bis zum Ende der Wahlperiode reichen. Wird der „eigene“ Abgeordnete wieder gewählt, ist man selbst in der Regel auch wieder für vier Jahre mit von der Partie. Scheidet er aber aus, scheitert er an der parteiinternen Nominierung, schafft er den Sprung ins Parlament nicht, dann bleibt auch für seine Mitarbeiter nur der Weg, bei anderen Abgeordneten unterzuschlüpfen oder sich beim Arbeitsamt zu melden.

„Durchstarten gegen einen kräftigen Gegenwind.“ Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen

Insofern ist die Stimmung im Team von Uwe Schummer „sehr entspannt“: Die Wiederwahl ist sehr wahrscheinlich. Selbst sein Praktikantenprogramm („meine Art von Talentförderung“) geht jedenfalls weiter. „Die Praktikanten erleben die Atmosphäre im Paul-Löbe-Haus, und das macht ihnen sehr viel Spaß.“ Das Einzige, was derzeit fehlt: das typische Flair einer Sitzungswoche. Schummer hat den Praktikanten zugesagt, das nachzuholen, sobald das normale parlamentarische Geschäft wieder läuft.

Kontinuierliche Kontrolle

Dass es derzeit nicht normal läuft, bedeutet nicht, dass überhaupt nichts läuft. Ganz im Gegenteil. Der Wahlkampf hat nur die Art der Arbeit verschoben. Die Pressestellen der Fraktionen arbeiten auf Hochtouren. Jeder Vorstoß der einen Seite führt zu einer Reaktion der anderen. Der Wahlkampf schärft die Konturen. „Da staune ich selbst drüber“, stellt Nachtwei fest: „Jetzt werden auch in Bereichen, wo wir bislang im Verteidigungsausschuss nur Konsens vermuteten, doch mehr Unterschiede deutlich. Da driftet einiges auseinander.“

Trotz der Neuwahlen: Im Bundestag wird weitergearbeitet. Es gibt noch zwei Sitzungstage Anfang September und die Abgeordneten gehen weiter ihren politschen Aufgaben nach. Gisela Piltz zum Beispiel hat gerade wieder zwei schriftliche Fragen an die Bundesregierung auf den Weg gebracht. Und auch für Nachtwei geht die parlamentarische Kontrollaufgabe weiter. Gerade sein Feld – die Auslandseinsätze der Bundeswehr – erforderten „ein ständiges Stand-by“.

Wochen nach dem scheinbaren Ende der parlamentarischen Arbeit bekam auch eine größere Öffentlichkeit mit, dass tatsächlich vieles weiter läuft. 15 Stunden dauerte etwa die Befragung des 55. Zeugen im Visa-Untersuchungsausschuss. Der Auftritt von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) vom frühen Morgen bis in die späte Nacht wurde live vom Parlamentsfernsehen übertragen. Die Arbeit des Untersuchungsausschusses zeigt deutlich die noch ausstehenden Aufgaben auf: Bis zum vorgezogenen Ende der Wahlperiode muss noch ein detaillierter Bericht über die Ergebnisse seiner Aufklärungsarbeit vorgelegt werden, über den der Bundestag wahrscheinlich Anfang September noch einmal beraten wird. Berichte haben auch die Enquete-Kommissionen vorzulegen.

Ein Mandat auf Zeit

Sie sind beauftragt, einen Blick über den Tellerrand der Tagespolitik hinaus zu werfen und Hinweise und Anregungen für die künftige Gesetzgebung zu geben. Da soll jahrelange Arbeit nicht im Sande verlaufen. Auch in diesen Büros heißt es: intensive Arbeit statt Ferienstimmung.

Das Gegenteil von Ausklang erlebte auch Gisela Piltz unmittelbar nach der Konstituierung der NRW-Landesregierung. Ihr Fraktionskollege Andreas Pinkwart wurde Landesminister, verließ deshalb den Bundestag – und hinterließ damit eine Vakanz in der Führung der NRW-Landesgruppe innerhalb der FDP-Fraktion. Piltz trat die Nachfolge an, bekam also noch eine wichtige Koordinierungsaufgabe hinzu. Daneben häufen sich in allen Abgeordnetenbüros Anfragen nach Positionierungen, nach Besuchen, Podiumsdiskussionen, Vorträgen. „Ich laufe hier von Termin zu Termin“, berichtet Piltz.

„Das bedeutet eine ungeheure Beschleunigung.“Uwe Schummer, CDU

Übergangsgefühle auch in der Bundestagsverwaltung. Wer wann wo künftig arbeiten wird – darüber kann in diesen Wochen nur spekuliert werden. So werden sich die Ausschüsse erst konstituieren, wenn sich die Bundesregierung aufgestellt hat. Dann wird klar, welche Fachkräfte an welcher Stelle benötigt werden. Vom Ausgang der Wahlen hängt schließlich ab, wie stark die Fraktionen werden – und damit auch, welchen Mitarbeiterstab sie sich leisten.

Für Petra Merkel hat die stürmische Entwicklung einen weiteren Aspekt: „Es ist immer wieder gut zu sehen: Das ist brüchiges Eis, auf dem wir arbeiten. Alles kann auch schnell zu Ende sein. Wir arbeiten mit einem Mandat auf Zeit. So ist das eben.“

Text: Gregor Mayntz
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 17. August 2005


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