Gesellschaft
Arme Kinder haben schlechtere Startchancen, warnen Wissenschaftler. Die Politik sucht nach Lösungen.
Armut macht krank. Besonders bedrückend daran: In Deutschland haben sich die Kinder zur am stärksten betroffenen Gruppe entwickelt. Jedes sechste Kind lebe inzwischen von Sozialhilfe, stellte der Frankfurter Armutsforscher Richard Hauser Anfang des Monats auf dem Kongress "Armut und Gesundheit" in Berlin fest. Von bis zu 2,5 Millionen armen Kindern und Jugendlichen gehen Wohlfahrtsverbände aus, die Bundesagentur für Arbeit weist 2,3 Millionen Kinder unter 18 Jahren aus, die in so genannten Bedarfsgemeinschaften, also von Hartz IV, leben. Dabei geht es nur als Spitze des Eisberges um die schlagzeilenträchtigen Fälle von Vernachlässigung und Misshandlungen mit Todesfolge. Weit breiter gestreut in sozial schwachen Familien sind körperliche und seelische Störungen, eine beeinträchtigte geistige Entwicklung und damit schlechtere Chancen für einen erfolgreichen Schulverlauf. Das wiederum verschärft den Teufelkreis von wenig materiellen Ressourcen, niedriger Bildung, sozialer Ausgrenzung und größerer Anfälligkeit für körperliche und seelische Krankheiten.
Die gesundheitliche Lebenslage von Kindern in benachteiligten Wohnvierteln unterscheide sich deutlich von denen in privilegierten Wohnvierteln, stellt beispielsweise die Bremer Studie "Gefährdete Kinder" fest. So sei der Anteil von Kindern mit Übergewicht zwischen 1998 und 2005 in den benachteiligten Gebieten überproportional angestiegen, berichtete Elisabeth Horstkotte vom Gesundheitsamt Bremen. Neben gesundheitlichen Problemen führe das vor allem zu Hänseleien und sozialer Ausgrenzung. Auch der überwiegende Anteil von Säuglingen mit einem Geburtsgewicht unter 2500 Gramm sei nachteilig für die Betroffenen aus den unterprivilegierten Stadtteilen. Dasselbe gelte für die geringere Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, in denen Entwicklungsstörungen erkannt und rechtzeitig vor Schulbeginn ausgeglichen und gemildert werden könnten.
Ähnlich problematisch für einen gelungenen Start in die Schule: der hohe Anteil von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten. Während beispielsweise in privilegierten Stadtteilen nur 29 Prozent der Schulanfänger Schwächen in Sprache, Motorik und Verhalten zeigten, seien es in den sozial schwachen Gebieten 34 Prozent. Die soziale Ungleichheit würde weiter wachsen, warnte Horstkotte. In Bremen sei 2004 jedes fünfte Kind unter 15 Jahren auf Sozialhilfe angewiesen gewesen, 2006 sei es bereits fast jedes dritte Kind gewesen. "Die Schere hat sich deutlich geöffnet."
Die Forderung nach einer Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze hält die Ärztin für "sehr berechtigt". Auch das Deutsche Kinderhilfswerk verweist darauf, dass von den gezahlten 2,55 Euro pro Tag für Verpflegung keine gesunde Ernährung möglich sei. Kindergeld und der an finanziell besonders schlecht gestellte Familien gezahlte Kinderzuschlag sind für Horstkotte allerdings eher Nebenschauplätze. "Strukturelle Veränderungen müssen sein", betonte sie. Dabei gehe es neben einer verbesserten Stadtplanung in Randgebieten um Verbesserungen bei der Betreuung und Bildung von Kindern, damit Kita und Schule ein ausgleichender Faktor von sozialer Ungleichheit sein könnten.
Die Bedeutung der Schule wird auch in der HBSC-Studie 2006 (Health Behaviour in School aged Children) deutlich. Dabei zeigte sich nämlich, dass Schulerfolg und Schultyp beim Tabak- und Alkoholkonsum von Elf- bis 15-jährigen Schülern ein viel ausschlaggebenderer Faktor als die soziale Herkunft waren. Jungen mit schlechten Noten hatten ein dreimal höheres Risiko zu rauchen, erläuterte Matthias Richter, Soziologe an der Universität Bielefeld. Zudem tranken sie öfter und suchten häufiger die Rauscherfahrung.
Familiärer Wohlstand und hoher sozialer Status wirkten sich zumindest in dieser Altersgruppe demnach nicht als immunisierender Faktor aus. Der eigene soziale Status des Jugendlichen hatte eine größere Bedeutung. Beim Alkohol war es sogar so, dass Jungen aus sozial schlechter gestellten Familien weniger häufig zur Flasche griffen. Die Rolle, die die Schule beim Ausgleich sozialer Ungleichheiten spielen kann, müsse stärker genutzt werden, appellierte Richter an die Politik: "Schule muss zu einer gesundheitsfördernden Institution werden."
Ein besonderes Problem: Gerade die Betroffenen aus den sozial benachteiligten Schichten werden von Präventionsprogrammen oftmals nicht erreicht. Die Angebote müssten gezielter auf sozial Benachteiligte zugeschnitten werden, forderte deshalb die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Elisabeth Pott. Es bestehe eine erhebliche Angst vor Kontrolle durch staatliche Institutionen, betonte Raimund Geene, Wissenschaftler an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Diese Ängste blieben oftmals unberücksichtigt. Ärzte und Berater aus dem Bildungsbürgertum könnten sich nicht genügend einfühlen und sprächen auch nicht die Sprache der Betroffenen, rügte Geene. "Es ist wichtig, sich in Augenhöhe mit den Eltern zu beraten und sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen", fügte Horstkotte hinzu.
Die Lösungen, auf die die Wissenschaftler setzen: niedrigschwellige Hilfs- und Beratungsangebote, die schon während der Schwangerschaft ansetzen, beispielsweise der erweiterte Einsatz von Familienhebammen und später von Familienhelfern. Damit könnten Problemlagen frühzeitig erkannt werden und die Chancen, sie zu beheben, seien größer.
Auf Skepsis stieß die momentan vielfach geäußerte Forderung, die Vorsorgeuntersuchungen bundesweit verpflichtend zu machen. "Wir Kinderärzte sind da sehr zurückhaltend", sagte Horstkotte. Allerdings sei eine Weiterentwicklung der Untersuchungen nötig, die der Tatsache Rechnung trage, dass Kinder heute weniger an akuten, sondern an chronischen und psychosomatischen Krankheiten sowie an Verhaltensauffälligkeiten litten. "Dem werden die Vorsorgeuntersuchungen nicht gerecht", sagte Horstkotte.
Das Problem Kinderarmut wird auch zunehmend von der Politik als dringlich erkannt. Die SPD setzte im November eine Kommission zur Kinderarmut ein, die bis Ende 2008 ein Konzept entwickeln soll. "Das Problem Kinderarmut hat sich in den vergangenen Monaten und Jahren verschärft", sagt auch der Kommissionsvorsitzende Wolfgang Jüttner. Während die Union ihre Priorität eher auf direkte Hilfen wie die Erhöhung des Kindergeldes und Ausweitung des Kinderzuschlags legt, setzen Sozialdemokraten Schwerpunkte bei einer Verbesserung der Infrastruktur, beispielweise durch mehr Kita-Plätze und Ganztagsschulangebote. Wenn er wählen müsste, würde er sich gegen eine Kindergelderhöhung entscheiden, sagt Jüttner. "Bei zehn Euro mehr wären das rund zwei Milliarden Euro für die Infrastruktur - damit lässt sich schon was machen."
Auch für die Grünen-Politikerin Ekin Deligöz liegt die Priorität auf einer Verbesserung der Infrastruktur. "Wir müssen erkennen, dass Familie nicht alles auffangen kann, dass sie Unterstützung braucht", sagt die stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsfamilienausschusses. Sie fordert den aufsuchenden Einsatz von Familienhelfern, die Ausweitung der Betreuung durch die Hebammen, mehr Kita-Plätze und Ganztagsschulangebote. Erst an nächster Stelle stehen für sie finanzielle Mittel, die gezielter an die sozial Benachteiligten verteilt werden müssten. Diana Golze von der Fraktion Die Linke fordert einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz vom ersten Lebensjahr an und mehr Ganztagsschulen, die auch ein gebührenfreies Mittagsessen anbieten.
Die Linke plädiert zudem ebenso wie die Grünen für eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes für Kinder und Jugendliche. Auch im Kabinett sorgt das Thema derzeit für Diskussionsstoff: Die Koalitionsparteien beraten über einen vorläufigen Bericht des Arbeitsministeriums zu den Hartz-IV-Sätzen. Zwar gibt es noch keine abschließende Entscheidung, dem Vernehmen nach tendiert die Regierung allerdings eher dazu, es bei den bisherigen Sätzen zu lassen.
Die FDP setzt besonders auf ein stärker ausdifferenziertes, flexibleres Betreuungs- und Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche. "Die Politik hat die privaten Anbieter bislang vom Markt ausgegrenzt", sagt die familienpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Ina Lenke. Sie fordert die Einführung von Bildungsgutscheinen, mit denen sich jeder zusätzliche Betreuungs- und Bildungsangebote aussuchen können soll.
In der Union stoßen besonders Forderungen zu mehr staatlicher Betreuung auf Skepsis. Der generelle Ansatz, die Eltern möglichst von der Erziehung fernzuhalten, sei "völlig falsch", sagt der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Johannes Singhammer. Die Familien würden unter den Generalverdacht der Überforderung gestellt. "Die Begründung, man brauche mehr Ganztagsschulen, weil es die Eltern nicht packen, lehne ich ab", sagt der CSU-Politiker. Stattdessen setzt die Union auf mehr direkte finanzielle Hilfen für Familien: ein höheres Kindergeld, die Ausweitung der Zielgruppe für den Kinderzuschlag und das Betreuungsgeld, für den Fall, dass die Kinder zu Hause betreut werden. Einen Missbrauch der Gelder befürchtet Singhammer nicht. Das geschehe nur in Einzelfällen. "Die Mehrzahl der Eltern legt sich doch krumm, um das Fortkommen ihrer Kinder zu fördern." Ulrike Schuler z