Einführungsrede des Historikers Prof. Dr. Wolfram Siemann zur Eröffnung der Robert-Blum-Ausstellung
Prof. Dr. Wolfram Siemann ist Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Es gilt das gesprochene Wort
"Ich weiß, dass ich einem Gedanken diene, auf dem die Zukunft, auf dem das Glück Europas beruhen wird"
Die deutsche Geschichte ist nicht reich an Freiheitskämpfern, die ihr Leben zugleich für Demokratie, Parlamentarismus und Nation aufs Spiel gesetzt haben - kein deutscher George Washington, Abraham Lincoln, Tadeus Kościuszko oder Giuseppe Garibaldi hat das kollektive Gedächtnis der Nation erobert. Auch fehlt uns Deutschen der ungebrochene Einklang mit einem historisch verankerten nationalen Selbstbild, wie es etwa Amerikanern, Franzosen, Italienern oder Polen als selbstverständlich erscheint.
Das liegt nicht unbedingt nur an den Irrwegen des Nationalismus in bestimmten Phasen der deutschen Geschichte. Auch die föderative Gestalt schwächte den ungehemmten nationalen Einklang. Die Einzelstaaten erzeugten unter dem Dach der einen Kulturnation eigene Loyalitäten; aus ihnen erwuchs der frühe moderne Parlamentarismus in Deutschland. Die Einzelstaaten waren Schule und Forum der frühen Demokratie, nicht die Gesamtnation.
Einmal allerdings - in einer historischen Extremsituation - bündelten sich auf dem Weg zur Demokratie die föderativen Antriebe zu einem nationalen Kraftakt: in der deutschen und zugleich europäischen Revolution von 1848/49.
Will man aus diesem Laboratorium der Demokratie und Nationsbildung von 1848 eine Person herausheben, die charismatische Ausstrahlung mit einer solchen politischen Konfession verband, wie sie uns Heutige noch trägt, dann rückt einer unter den Führungsfiguren in den Mittelpunkt - nicht der prominente Parlamentspräsident Heinrich von Gagern, denn Gagern wollte den Fortbestand der Monarchie, nicht der populäre Revolutionär Friedrich Hecker, denn Hecker verschmähte von vornherein den parlamentarischen Weg. Es muss Robert Blum sein.
Ich will Ihnen im Folgenden einige Seiten Robert Blums andeuten und sie in europäische Zusammenhänge stellen, um zu erklären, warum Blum es wert ist, an ihn zu erinnern.
Auffällig ist seine Herkunft aus einfachen Kreisen, als Sohn eines Fassbinders, und sein Leben war bis zu seinem Tod geprägt von der täglichen Sorge um Geld und Brot. Als Theaterkassier in Köln, als Kulturmanager im Theater in Leipzig und schließlich als freischaffender Buchhändler und Journalist rang er ununterbrochen um den Lebensunterhalt. Weil die Geldmittel es nicht erlaubten, das Gymnasium abzuschließen und zu studieren, wurden ihm Theater und Buchhandel Ersatzuniversität, wo er seinen Bildungshunger stillen konnte.
Diese Herkunft prägte das Gefühl sozialer Verantwortung, der er auch treu blieb, als er in der großen Politik auftrat; er wusste um die Not der Weber Schlesiens; er suchte die Hungernden in Thüringen auf. Noch vor dem Weberaufstand schrieb er an seinen Stiefvater: "Doch leben wir hier [in Leipzig] im Paradiese gegen unser armes Gebirge, wo alle Fabriken brachliegen, ganze Gemeinden nur von so genannten Knollen, Moos, Baumrinde und ähnlichen Dingen leben. Holz stehlen sie sich natürlich, und niemand ist so grausam, sie deshalb zur Verantwortung zu ziehen. Gebe der Himmel den Armen ein fruchtbares Jahr."
Einem befreundeten Journalisten riet er im August 1848: "Was ich Dir vor allem ans Herz lege, ist die Beziehung zum Lande [gemeint ist: zur Landbevölkerung]. Du weißt, mit welch unendlicher Mühe sie begründet und mit welchem furchtbaren Aufwande von Kraft und Zeit sie erhalten worden ist. Wenn ich auf irgendetwas stolz bin, so ist es darauf, dass ich dazu nicht unwesentlich mitgearbeitet habe". Blum hatte ein Gespür für die Basis, ihr fühlte er sich verpflichtet und sie dankte es ihm; in seinen Worten war es das "Vertrauen im Volke".
Blum war ein politisches Naturtalent, denn er besaß ein Gespür für politische Stimmungen, aufkommende Bedrohungen und Augenmaß für Kräfteverhältnisse konkurrierender Gegner und Phantasie für Kompromisse in Konfliktsituationen. Er durchschaute die Machtmechanik. 1843 bekannte er: "Wir sind schwächer, als wir selbst glaubten, und hätte man noch die Verwegenheit, 100 Menschen in Deutschland einzustecken - ich glaube, man würde wieder auf 5-6 Jahre Ruhe haben."
Angesichts dieser zutreffenden Einschätzung muss man feststellen: Blum hatte Zivilcourage, denn als Autor riskierte er, hinter Gitter gesetzt zu werden, was auch geschah. Geradezu erbost wies er seine Schwester zurück, als diese ihn mahnte, als Einzelner könne man ohnehin nichts ausrichten: "Glaubst Du etwa, es sei ein Spiel, dieser Kampf gegen die Übergriffe und unrechte Stellung der Staatsgewalten, aus der man sich zurückzieht, wenn es keinen Spaß mehr macht? Oder glaubst Du, man beginne diesen Kampf leichtfertig und leichtsinnig, ohne das Bewusstsein, dass die Staatsgewalten die furchtbare Waffe eines Gesetzes, welches sie meist allein und für ihre Zwecke gemacht haben, gegen uns schwingen und wir fast unbewehrt sind? Allerdings gibt es der fischblutigen Amphibien sehr viele, die recht sehr freisinnig sind, solange es Volkstümlichkeit und Beifall einbringt, die aber sehr klug sind und sagen: <Ich ändere doch nichts!>, sobald ein unfreundlicher Wind geht. Willst Du mir raten, mich mit diesem Lumpengesindel in eine Reihe zu stellen? Dann wirst Du Dir hoffentlich zu gleicher Zeit die verwandtschaftlichen Beziehungen verbitten".
Er war lebhaft beteiligt am Aufbau des halb konspirativen Netzwerkes, das die Vormärzopposition in Erwartung ihrer Stunde zu spannen begann.
Sein politisches Talent machte ihn zu einem gefragten Schlichter - schon vor der Revolution, als er nach einem blutigen Exzess des Militärs an der Zivilbevölkerung 1845 im Leipziger Schützenhaus die versammelten Menschenmassen erfolgreich beschwor: "Verlasst den Weg des Gesetzes nicht". Auch in der Frühphase der Revolution vermittelte er zwischen aufgebrachten Arbeitern und städtischen Obrigkeiten. Als das Parlament über der Frage zu zerbrechen drohte, ob ein Präsident oder monarchisches Oberhaupt Deutschland führen solle, appellierte Blum - der Republikaner - erfolgreich an den demokratischen Grundkonsens und erntete Beifall von allen einander bekämpfenden Fraktionen.
Blum war politischer Visionär. Das zeigte sich besonders in der berüchtigten Polendebatte. Hier erklärte er: "Ich weiß, dass ich einem Gedanken diene, auf dem die Zukunft, auf dem das Glück Europas beruhen wird." Damit gab Blum als einer der Wenigen zu erkennen, dass die vielgeliebte Nation nicht der höchste Wert für ihn war, sondern der Friede unter den befreiten Völkern. Deshalb stimmte er mit der Minderheit auch für die Wiederherstellung eines unabhängigen Staates Polen. Er bewahrte in der national aufgeheizten Atmosphäre die Vision von einer "europäischen Staatengesellschaft" gleichberechtigter Völker. Er beschwor die Zuhörer, "dass es in Europa keinen Frieden, kein Völkerglück, keine Sicherheit der Zustände, keine auf der Gerechtigkeit fußende Zukunft und keine Freiheit geben könne, bis die Schuld gesühnt sei, die man an Polen begangen habe." Und er gab zugleich seine Grundüberzeugungen zu erkennen, "dass die Gewissensfreiheit nirgends so geschützt war als in Polen und dass selbst die verachteten und von der ganzen Welt zurückgestoßenen Juden eine Heimat dort fanden."
Blum war ein persönlich beeindruckender Mensch, der selbst im größten politischen Erfolg bescheiden blieb. Er spürte die Versuchung, welcher von dem Applaus der Massen ausging, der "wie Champagner" wirkte, wie er selbst bekannte. Sein rhetorisches Talent und seine unbezweifelbare Glaubwürdigkeit begeisterten die Zuhörer und - mehr noch - die Zuhörerinnen, und auf die zweifelnden Briefe seiner Frau, ob er nicht in Versuchung gerate, schrieb er offenherzig:
"Als ich jüngst über die Zentralgewalt sprach und am Schlusse sehr ernst und feierlich wurde, schwamm das Frauenauditorium in Tränen, und schluchzend streckte man mir hundert Hände entgegen, als ich herabkam. Das ist ein schönes Zeichen, aber vor Eitelkeit, d.h. persönlicher bewahrt mich
- jeder Blick in den Spiegel, der mir sagt, dass ich nicht schön und 40 Jahre alt bin;
- das klare Bewusstsein, dass es nicht dem Manne, sondern dem Parteiführer gilt und ich also stets mit meinen Getreuen teilen muss, wobei mir sehr wenig bleibt.
- Kommt der Mangel an Zeit dazu".
In keinem Brief versäumte er, sich nach dem Ergehen der vier Kinder zu erkundigen und seiner Frau zu beteuern, wie sehr er sie vermisse. Er behandelt sie als gleichberechtigte Partnerin, mit der er sich in hochpolitischen Fragen austauschte. Die sehnlich gewünschten Heimfahrten scheiterten an den finanziellen Mitteln. Liest man in seinen Briefen, ist man bestürzt, wie ein so talentierter Mann Monat für Monat um den Lebensunterhalt bangen musste; dass er eine Heimfahrt davon abhängig machen musste, sie vom Honorar für eine Rede auf einer Schillerfeier zu bestreiten. "Wenn nur das verfluchte Geld nicht wäre! Es ist traurig, dass man von diesen Klumpen abhängt. Aber für so eine Reise, die mit dem Diätenverlust über 70 Taler kostet, muss man monatelang schmachten, ehe man sich wieder erholt." Daraus sieht man, dass es Diäten nur bei Präsenz gab. Die Reise für sich kostete 32 Taler.
Blum war bis in den Herbst hinein konsequenter Parlamentarier. Aus der Sicht seiner Parteifreunde schrieb er: "Es wird uns sehr sauer, und oft schrumpfen die Erfolge zu nichts zusammen. Aber das ist in politischen Kämpfen einmal nicht anders, die Waage geht hoch und niedrig, wie auf dem Meere, und der Kahn der Partei schwebt bald in der Luft, bald im Abgrunde. Das ist einmal Naturgesetz, und die Stellung wechselt. Deshalb sei unbesorgt, wir stehen seit Anbeginn unseres Wirkens in der Minderheit."
Warum verließ Blum den parlamentarischen Weg? Er war kein konsequenter Revolutionär wie Friedrich Hecker; Blum ordnete sich Mehrheitsbeschlüssen unter, so schwer ihm dies mitunter fiel. Er kalkulierte mit der psychologischen Macht der Volksbewegung auf die Fürsten, und diese Volksmacht sah er diskreditiert und verspielt durch die chancenlosen Aufstände Heckers, die ihm wie revolutionärer Aktionismus vorkamen.
Andererseits erkannte er das Voranschreiten der Reaktion, so dass manche seiner Mahnungen sich verzweifelt ausnahmen, und im Vertrauen schrieb er am 29. Juni seiner Frau, was eigentlich Not täte, was er aber nie öffentlich als Argument einsetzte: "Hoffentlich bricht der Krieg in einigen Tagen aus. Ehe Preußens Verrat nicht klar ist, kommen wir auch nicht zum Ende; deshalb habe ich nichts dagegen, wenn die Russen auch bis nach Berlin kommen. Hoffentlich wird F[riedrich] Wilh[elm] IV. das Schicksal Ludwigs XVI. haben."
Als im Oktober 1848 sich die Revolutionswende in Wien abzeichnete, deren Vorboten Blum schon längst wahrgenommen hatte, schritt er zu der nicht unüblichen Tat politischer Aktivisten damals: Im Auftrag seiner Fraktionskollegen wollte er den kämpfenden Wienern mit einer persönlich überbrachten Solidaritätsadresse Mut machen.
Am Ort des Geschehens wurde er geradezu überrumpelt. Nach einer flammenden Rede nahm ihn die Akademische Legion in Wien in ihre Reihen auf und überreichte ihm - dem Zivilisten durch und durch, der wohl noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte - die Waffen zum revolutionären Kampf.
Blum hatte in der Paulskirche Reden gehalten, in denen er immer wieder beteuerte, im nötigen Falle sei es geboten, auch "Gut und Blut" einzusetzen. Schon im August offenbarte er seiner Frau: "Unsere drohendste, Gefahr, der Krieg, wird unser einziges Rettungsmittel sein. Wie man jetzt noch halb, unentschieden, zweideutig sein kann, das ist mir unerklärlich. Es gilt nur siegen oder sterben, und wer das erstere will, muss zeigen, dass er zum Letzteren bereit ist." Nun, die Waffen in die Hand gedrückt, war es eine Frage der Ehre und der Glaubwürdigkeit, sich nicht zu entziehen. Er hatte nicht den revolutionären Kampf von vornherein angestrebt, als er nach Wien reiste. Jetzt aber konnte er sich ihm nicht mehr entziehen. "Wir werden sie [die Schlacht] mitmachen, denn wir sind heute Ehrenmitglieder der akademischen Legion und sofort bewaffnet worden. Wir müssen also mit unsern Kameraden, es wäre eine Schande, es nicht zu tun." Er rechnete mit einer kurz bevorstehenden Entscheidungsschlacht und kündigte an, noch in der Woche Wien zur Rückfahrt wieder verlassen zu wollen.
Seine viel zitierte Diagnose hieß: "In Wien entscheidet sich das Schicksal Deutschlands, vielleicht Europas. Siegt die Revolution hier, dann beginnt sie von neuem ihren Kreislauf; erliegt sie, dann ist wenigstens für eine Zeitlang Kirchhofsruhe in Deutschland". Er ging von der richtigen Annahme aus, erst mit einem Bruch des autokratisch-militaristischen Regiments im zaristischen Russland und in der Habsburgermonarchie könnten die Märzerrungenschaften in Deutschland bestehen.
Parlamentarier, Demokrat, Visionär, Europäer, Anhänger der Emanzipation der Juden, Repräsentant gleichberechtigter Partnerschaft zwischen den Geschlechtern, mutiger uneigennütziger Kämpfer - alle diese Eigenschaften dürfen aus heutiger Sicht nicht vergessen machen: Blum kämpfte aus einer Minderheitenposition heraus, in fast allem. Durchgängig fehlte seiner Politik in der Paulskirche die Mehrheit. Die Minderheitsfraktionen, obwohl sie zahlenmäßig gar nicht so unbedeutend waren, wurden verfemt als radikal oder - wie man damals sagte - ‚wühlerisch’, worauf Blum einmal entgegnete: Wenn wir nicht gewühlt hätten, säßen Sie jetzt nicht hier, gemeint: auf den Bänken der Paulskirche.
Das Andenken an Blum war sofort nach seinem Tode allgegenwärtig. Noch an seinem dritten Todestag konnte man an Häusern in Dresden lesen: "Robert Blum lebt noch" , was nur so viel heißen konnte wie: Sein politisches Erbe ist weiterhin verpflichtend. Wer aber so sprach, wurde in der nachfolgenden Reaktionspolitik unbarmherzig verfolgt: ins Exil vertrieben, eingesperrt, als Schriftsteller oder Journalist kaltgestellt. Um Gedenkveranstaltungen für die Gefallenen der Revolution zu vereiteln, ließ die preußische Regierung zum Beispiel die Zufahrtswege zu den Gräbern der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain mit Kartoffeln und Dornengestrüpp bepflanzen und mit Brettern verbarrikadieren.
Die Erinnerung an die demokratische Revolution spaltete sich fortan in den Mythos des Parlaments und den Mythos der Barrikade. Es gelang nicht, ein Credo des Eintracht zu finden. Heute an Robert Blum anzuknüpfen heißt deshalb, das Risiko dieser Politik und den nachfolgenden mühevollen Kampf zu ihrem Erfolg noch mit zu bedenken. Und der Erfolg lag nicht in dem Credo Hans Blums, des Sohnes, der in Otto von Bismarck den Vollstrecker der 1848er Politik erkannte.
Blums Vision erfüllte sich erst nach dem Zusammenbruch der Nation im Jahre 1945 - in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie hätte einen Ort auch in der Deutschen Demokratischen Republik finden können, die in den achtziger Jahren ebenfalls Blum für sich entdeckte und reklamierte, wäre sie dem "demokratisch" in ihrem Namen tatsächlich im Sinne Blums gerecht geworden. Aber letztlich waren beide Modelle noch keine Lösung in seinem Sinne, denn Blum kämpfte zugleich für die Einheit der Nation.
Die Gesamtnation konnte sich erst nach 1989/90 im Erbe Blums wieder finden.
Im Deutschen Dom gibt es eine Dauerausstellung des Deutschen Bundestags zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland; die Ausstellung gebraucht eine Formel, welche die gebrochene Richtung der Deutschen auf dem Weg zur Demokratie treffend beschreibt: "Wege, Irrwege, Umwege" . Vielleicht hatte deshalb Helmuth Plessner nicht ganz Unrecht, der von der "verspäteten Nation" sprach, als er über die Wege nachdachte, welche Deutschland in die Katastrophe geführt hatten.
Im Gegensatz dazu muss man Robert Blum als einen Demokraten ansehen, der seiner Zeit voraus war. Wir sind heute bei ihm angekommen. Ihm gebührt zu Recht eine Ausstellung zu seinem Andenken. Denn sich an ihn zu erinnern heißt zugleich, sich mit den besten Traditionen der deutschen Geschichte zu beschäftigen.