Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit (Anhörung)/Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit (Anhörung)
Berlin: (hib/SUK) Auch 20 Jahre nach der verheerenden
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind sich Experten uneins
über die Auswirkungen des Unglücks. Dies wurde bei einer
öffentlichen Sitzung des Umweltausschusses am Mittwoch
deutlich. Während Wolfgang-Ulrich Müller vom Institut
für Medizinische Strahlenbiologie und Melissa Flemming,
Sprecherin der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) in
Wien, von 4.000 Toten infolge der Bestrahlung sprachen, verwies
Angelika Claußen, Vorsitzende der Deutschen Sektion
Internationale Ärzte für die Verhütung des
Atomkrieges, auf Quellen, die von 8.000 bis 22.000 Toten ausgehen.
Der IAEA warf Claußen vor, in ihrem Bericht, den sie
gemeinsam mit anderen Organisationen erstellt hat, "viele Daten
manipuliert" zu haben und damit "keine redliche Wissenschaft" zu
betreiben. Aus Originalquellen, die auch der IAEA zugänglich
gewesen seien, gehe hervor, dass von den 600.000 bis 1.000 000
Aufräumarbeitern, die nach dem Unglück eingesetzt worden
seien, 90 Prozent schwer erkrankt seien. Dabei handele es sich
nicht nur um Krebserkrankungen, sondern auch um hirnorganische
Erkrankungen, Schädigungen der Sinnesorgane, der Atemwege und
Verdauungsorgane sowie psychische Krankheiten. Müller hingegen
war der Ansicht, man müsse die Strahleneffekte von anderen
Faktoren trennen. Es sei insbesondere in den hoch belasteten
Gebieten zu einem Anstieg der Schilddrüsentumore und
Leukämieerkrankungen gekommen. Man müsse jedoch in
Rechnung stellen, dass es zu einem Teil der Erkrankungen auch ohne
das Reaktorunglück gekommen wäre, zudem spielten Faktoren
wie das desolate Gesundheitssystem im Land, Alkoholismus und
Selbstmorde eine Rolle. Man dürfe den Menschen in der
betroffenen Region nicht immer wieder sagen, sie seien so
verstrahlt, dass es keine Hoffnung gebe - vielmehr müsse man
ihnen Hoffnung machen. Diese Einschätzung wurde von Melissa
Fleming geteilt. Sie betonte, man habe für die Region um
Tschernobyl auch im Bereich der Umwelt wieder "annehmbare Werte"
und müsse im Umgang mit den betroffenen Menschen "umdenken".
"Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Krankheiten" stellten
"größere Probleme als die Verstrahlung" dar. Nötig
seien heute in erster Linie Konzepte für die Lagerung des hoch
verstrahlten Abfalls und die instabile Schutzhülle des
Reaktors. Der deutsche Botschafter in Kiew, Dietmar Stüdemann,
machte darauf aufmerksam, dass es nicht allein um Zahlen gehe -
diese seien immer wieder Gegenstand von Manipulationen. Zudem gebe
es anders als in Deutschland in der Ukraine nach wie vor keine
öffentliche Diskussion um die Auswirkungen des
Reaktorunglücks. Die Menschen hätten zwar eine
"Überlebensstrategie" entwickelt, wüssten aber nicht,
"wie es weiter geht". Dass bereits seit einiger zeit wieder
Menschen in der 30-Kilometer-Sperrzone um Tschernobyl leben, sei
ein "Zeichen der Verzweiflung". Auch Wolfgang Faust,
Wirtschaftsattaché der Deutschen Botschaft in Minsk, warnte
davor, sich von Statistiken blenden zu lassen, denn damit reduziere
man in unzulässiger Weise "menschliche Einzelschicksale auf
Druckerschwärze und Zahlen". Das Problem sei "noch längst
nicht bewältigt". Im Zentrum Europas befinde sich ein riesiges
entsiedeltes Gebiet, das wirtschaftlich nicht nutzbar sei.
Insbesondere Weißrussland und die Ukraine könnten die
finanziellen Aufwendungen, die nötig seien, nicht aufbringen.
Daher sei die humanitäre Hilfe, die allein aus Deutschland
jährlich 20 Millionen Euro umfasse, weiterhin dringend
nötig. Faust betonte eindringlich, Technik sei "niemals
sicher" - daher müssten für die Energieversorgung "andere
Konzepte als Kernkraft" gefunden werden. Auch Dietrich von
Bodelschwingh, Vertreter der Organisation "Heim statt Tschernobyl"
und Angelika Claußen appellierten an die Abgeordneten, sich
gegen die weitere Nutzung von Atomenergie einzusetzen. Liesel
Hartenstein, ehemalige stellvertretende Vorsitzende des
Umweltausschusses, gab zu bedenken, es sei "gespenstisch", wie auch
20 Jahre nach der Katastrophe dieselben Argumente hin und her
gewendet würden - man "trete auf der Stelle". Experten
für Reaktorsicherheit betonten, man habe in Deutschland einen
hohen Sicherheitsstandard. Kurt Kugeler, Professor für
Reaktorsicherheit in Aachen, sagte, die Entwicklung einer
"ausgeprägten Sicherheitskultur" sei eine internationale
Aufgabe, in die "alle Fortschritte implementiert" werden
müssten. Umweltforscher Klaus Traube, selbst ehemaliger
"Atomkraftmanager", warnte vor zu großer Sorglosigkeit:
Leichtsinn, Unfälle und menschliches Versagen gebe es
überall. Doch weil die Atomkraftanlagen mit einem "hohen Grad
an Sicherheit" ausgestattet seien, rechne niemand damit. Dies sei
ein Fehler.
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