30.10.2007
Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert vor dem
rumänischen Abgeordnetenhaus
Es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist eine große Freude und Ehre zugleich, dass ich heute in
Ihrem Parlament das Wort ergreifen darf.
Als 1957, vor 50 Jahren, die Römischen Verträge
abgeschlossen wurden, hätte sich keiner vorstellen
können, dass 50 Jahre danach aus einer europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs westeuropäischen
Gründungsstaaten eine politische Union von jetzt 27
Mitgliedstaaten aus West-, Mittel- und Osteuropa entstanden sein
würde.
Und als vor 40 Jahren, 1967, Deutschland und Rumänien
diplomatische Beziehungen miteinander aufgenommen haben, wenige
Jahre nach dem Bau der Mauer in Berlin, auf dem Höhepunkt des
kalten Krieges, in einer Zeit der scheinbar irreversiblen Trennung
Europas in zwei Hälften, hätte kaum jemand vermutet, dass
wir jedenfalls noch erleben würden, dass Deutschland wie
Rumänien gleichberechtigte Mitglieder einer gemeinsamen
Europäischen Union sein würden.
Nun ist Rumänien seit zehn Monaten Mitglied dieser
Gemeinschaft. Ich bin froh, dass wir dies alle miteinander
gemeinsam erreicht haben: Die Rumänen, wie die Bulgaren, wie
andere Länder Mittel- und Osteuropas – durch
eindrucksvolle Veränderungen in ihren eigenen Ländern,
und die langjährigen Mitgliedstaaten dieser Europäischen
Gemeinschaft durch die Bereitschaft, diese große historische
Chance zu nutzen und damit die Einheit dieses Kontinents wieder
herzustellen.
Ich weiß, dass sich mit dieser Entwicklung nicht nur, aber
auch in Ihrem Land große Erwartungen verbunden haben. So, wie
Sie wissen, dass die Europäische Gemeinschaft große
Erwartungen an jedes neue Mitgliedsland hat, weil es sich bei
dieser Gemeinschaft ja nicht um einen besonders ehrenwerten Klub
handelt, dem man beitreten kann oder auch nicht und schon gar nicht
um eine besonders elitäre Veranstaltung, in die man sich
gewissermaßen einkaufen könnte, sondern wenn wir
über die Europäische Gemeinschaft reden, dann reden wir
über eine politische Gemeinschaft, die ausdrücklich mehr
sein will, als ein großer gemeinsamer Markt, was interessant
und wichtig genug ist, sondern die einen Beitrag leisten will zur
Beförderung der gemeinsamen Interessen aller ihrer
Mitgliedstaaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger und die
darüber hinaus einen Beitrag leisten will – und soll
– zur Lösung von Problemen auch außerhalb unseres
eigenen Kontinents, bei denen ein europäischer Beitrag immer
häufiger erwartet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Präsident hat mich vorhin
bei unserem ersten förmlichen Gespräch als einen
kritischen Geist begrüßt, der damals das
Beitrittsverfahren Rumäniens tatkräftig unterstützt
hat. Beides ist richtig.
Und manche von Ihnen werden wissen, dass das
Ratifizierungsverfahren im Deutschen Bundestag sorgfältiger
und deswegen möglicherweise auch aus rumänischer wie auch
aus bulgarischer Sicht zäher, langwieriger war, als das bei
manchen früheren Beitrittsverfahren zu beobachten war. Ich
will das keinen Augenblick bestreiten und füge auch gerne
hinzu: Vielleicht war das auch ein Stück parlamentarischer
Wiedergutmachung gegenüber dem Eindruck, dass wir in der
Vergangenheit vielleicht mit der Frage der Beitrittsbedingungen
für Mitglieder dieser Gemeinschaft eine Spur zu
oberflächlich umgegangen sind und dass es sich allemal eher
empfiehlt, wichtige, schwierige, auch kontroverse Anliegen und
Probleme vorher anzusprechen und möglichst vorher zu
klären, als eine auf Dauer angelegte Beziehung einzugehen, bei
der man dann anschließend von Problemen überrascht wird,
mit denen man eigentlich nicht gerechnet hatte. Es empfiehlt sich
ja auch im privaten Leben nicht, solche Risiken sehenden Auges
einzugehen. Für politische Gemeinschaften gilt das in einer
ähnlichen Weise.
Ich weiß, dass viele in diesem Hause und außerhalb
dieses Parlaments sich sehr engagiert darum bemühen, die
Vereinbarungen umzusetzen, die mit Blick auf notwendige
Veränderungen im eigenen Land Bestandteil der
Beitrittsverträge gewesen sind. Und sie wissen wie ich, dass
diese Bemühungen noch nicht im vollen Umfang erfolgreich
gewesen sind. Der Fortschrittsbericht der Europäischen
Kommission vom Sommer dieses Jahres dokumentiert sowohl die
Fortschritte, die in der Zwischenzeit erreicht sind, wie auch
manche Defizite, die nach wie vor gelöst werden müssen.
Und es entspricht wieder der Ernsthaftigkeit dieser Gemeinschaft,
dass wir neben dem Dank für geleistete Arbeit auch auf der
Erledigung der noch nicht vollständig erfüllten
Vereinbarungen bestehen müssen, wenn diese Gemeinschaft den
Ansprüchen genügen soll, die alle ihre Mitglieder im
Verhältnis zueinander geltend machen.
Dabei werden die allermeisten Beobachter, jedenfalls die
allermeisten parlamentarischen Beobachter, mit den Erfahrungen von
Veränderungen und der Schwierigkeit von Veränderungen im
jeweils eigenen Lande ausgestattet, Verständnis dafür
haben, wenn manche Veränderung, die man sich vorgenommen hat,
schwieriger ist und länger dauert, als das vielleicht
zunächst einmal beabsichtigt war. Aber was eben nicht als
Ausweg bei einer solchen Problemlage in Frage kommen darf, ist die
Reduzierung der Ansprüche, um die Distanz zwischen dem, was
man erreichen will und dem, was man erreicht hat, kleiner und den
Weg damit bequemer zu machen. Die Ansprüche müssen so
hoch bleiben, wie wir sie gemeinsam festgesetzt haben.
Und sie wären ja nicht so definiert worden, wenn es nicht die
gemeinsame Überzeugung gegeben hätte, dass diese da
beschriebenen Veränderungen auch und gerade im Bereich eines
unabhängigen, leistungsfähigen Justizwesens mindestens so
sehr im Interesse dieses Landes liegen wie im Interesse einer
Europäischen Gemeinschaft.
Ich sage das als Vertreter eines Landes, das sich ganz gewiss nicht
einbilden kann, die Demokratie erfunden zu haben und das auch nicht
mit einer ungebrochenen stabilen, ungefährdeten demokratischen
Tradition aufwarten kann, sondern wir haben bis in die jüngste
Vergangenheit auch und gerade unter den Bedingungen der Teilung
Europas Erfahrungen gemacht, mit der Labilität von
demokratischen Strukturen und den besonderen Problemen, die sich
aus autoritären Verhältnissen ergeben, für die
Freiheit eines Landes und für die
Entfaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger.
Und vielleicht sind wir gerade deswegen an der Stelle auch durch
eigene historische Erfahrungen motiviert, besonders ehrgeizig und
gleichzeitig besonders interessiert an einer solchen untereinander
vereinbarten Entwicklung.
Und so verbinden sich sicher auch für die Strecke, die wir nun
gemeinsam vor uns haben, manche Hoffnungen und vielleicht auch
manche Besorgnisse. Ich bin außerordentlich froh, dass mein
Besuch in Ihrem Land und mein Besuch heute hier in Ihrem Parlament
nicht gewissermaßen die protokollarische Ausnahme von einer
nicht vorhandenen Regel ist, sondern dass – ganz im Gegenteil
– es seit den Monaten vor und in den zehn Monaten nach dem
Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union intensive
parlamentarische Kontakte gibt: Mindestens acht Fachausschüsse
des Deutschen Bundestages sind inzwischen in Rumänien gewesen
und haben Kontakt mit Ihnen in den jeweiligen Fachbereichen
aufgenommen. So stelle ich mir das Europa vor, das auch und gerade
eine lebendige parlamentarische Basis haben muss.
Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist historisch eher aus dem
Zusammenwirken von Regierungen entstanden als aus dem
Zusammenwirken von Parlamenten. Aber das Europa, das jetzt mit
einem Reformvertrag ins 21. Jahrhundert geht, muss ganz wesentlich
auch von Parlamenten bestimmt werden, und zwar sowohl von einem
zurecht in diesem Vertragswerk gestärkten europäischen
Parlament als auch von einer stärkeren europäischen Rolle
der nationalen Parlamente, denn wenn diese Europäische
Gemeinschaft, was unser gemeinsamer Wille ist, Zuständigkeiten
für alle Mitgliedstaaten gemeinsam wahrnehmen soll, die
eigentlich zu den nationalen Souveränitätsrechten
gehören, dann kann die Wahrnehmung dieser Zuständigkeiten
nicht – statt in nationalen Parlamenten – von einer
Europäischen Kommission oder von europäischen Regierungen
wahrgenommen werden, sondern dann muss die Zuständigkeit
für europäische Gesetzgebung mit der gleichen
Selbstverständlichkeit parlamentarisch legitimiert werden, wie
wir das für nationale Gesetzgebung in allen unseren
Mitgliedsstaaten für eine schiere Selbstverständlichkeit
halten.
Und deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommt in dieser neuen
Phase der europäischen Entwicklung, die ja nicht nur durch
mehr Mitglieder, sondern durch ein völlig neues
Verständnis dieser Gemeinschaft gekennzeichnet ist, auf uns
alle eine große Verantwortung zu. Und ich finde es im
Übrigen geradezu beruhigend, jedenfalls unverzichtbar, dass
diese Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen, unter den
Augen einer kritischen Öffentlichkeit stattfindet. Die uns
zurecht, wenn auch vielleicht nicht immer in jedem einzelnen Fall,
aber grundsätzlich zurecht immer wieder mit einer
möglichen Lücke zwischen den selbst gesetzten
Ansprüchen und unseren tatsächlichen Leistungen
konfrontieren wird.
Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Und wir
müssen es, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, um so dringender tun, als die Erwartungen an diese
Europäische Gemeinschaft außerhalb Europas fast noch
größer sind als in Europa selbst. Jeder von Ihnen, der
in Asien, in Südamerika oder in Afrika unterwegs ist, wird
immer wieder auf eine wachsende Erwartung an die Rolle Europas in
der Welt des 21. Jahrhundert stoßen. Und viele erwarten von
uns, dass wir in einer Welt, die so verfasst ist, wie sie verfasst
ist, ein Gegengewicht sowohl gegenüber den dominierenden
Einfluss der einzigen, verbleibenden Weltmacht als auch
gegenüber manchen nur schwer kontrollierbaren
ökonomischen und politischen Entwicklungen in manchen
Ländern darstellen, was kein europäisches Land je einzeln
leisten könnte, aber Europa als Ganzes. Und wir werden dieser
Aufgabe nur gerecht werden können, wenn wir uns eben als mehr
verstehen als einen Markt, als mehr verstehen als eine
Wirtschaftsgemeinschaft, sondern wenn wir dieses Verständnis
von Europa als eine politische Union entwickeln, die mit kulturell
begründeten gemeinsamen Überzeugungen von Demokratie und
Rechtstaat ihren Beitrag zu Frieden und Fortschritt in der Welt
leistet.
In diesem Sinne freue ich mich auf die weiter Zusammenarbeit
zwischen unseren Parlamenten und die gemeinsame Rolle Deutschlands
und Rumäniens in der Europäischen Union.