09.11.2007
Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert
anlässlich der Verleihung des Internationalen
Brückepreises der Europastadt Görlitz/Zgorzelec an den
estnischen Komponisten Arvo Pärt am 9. November 2007 in
Görlitz
Es gilt das gesprochene Wort.
Verehrter Herr Pärt,
sehr geehrte Frau Pärt,
sehr geehrte hohe Repräsentanten Polens, Estlands und
Deutschlands,
meine Damen und Herren.
Gäbe es im Jahreskalender so etwas wie einen "deutschen Tag",
es wäre ganz sicher der 9. November. Kein anderes Datum
markiert in vergleichbarer Weise herausragende Ereignisse,
Höhepunkte und Tiefpunkte der deutschen Geschichte. Von der
Ausrufung der Republik 1918 nach dem I. Weltkrieg über die
staatlich organisierten Judenprogrome 1938 bis zum Fall der Mauer
1989. Es gibt kein geeigneteres Datum für die Verleihung eines
Internationalen Brückepreises und es gibt wohl auch keinen
geeigneteren Ort dafür als diesen.
Brücken spielen in der Geschichte der beinahe
tausendjährigen Europastadt Görlitz/Zgorzelec seit je her
eine große Rolle. Sieben Neißebrücken verbanden
den Westteil mit dem Ostteil ein und derselben Stadt. Sie wurde im
Mai 1945 gesprengt und nicht oder nur teilweise wieder aufgebaut,
nachdem die Stadt im Ergebnis des II. Weltkriegs in einen deutschen
und einen polnischen Teil getrennt und geteilt wurden.
Seit der großen politischen Wende der späten 80er und
frühen 90er Jahre wurden dann nach und nach viele neue,
zunächst menschliche Brücken errichtet und seit Oktober
2004 verbindet auch die wieder aufgebaute Altstadtbrücke an
historischer Stelle nach fast 60-jähriger Unterbrechung wieder
die beiden Neißeufer.
Die Stadt hat sich verändert, weil Europa sich verändert
hat. Als in Berlin die Mauer fiel, am 9. November 1989, war der
deutsche Regierungschef Helmut Kohl in Polen zu einem offiziellen
Besuch beim ersten frei gewählten polnischen
Ministerpräsidenten seit 1945, Tadeusz Mazowiecki. Er musste
aufgrund der buchstäblich unglaublichen Ereignisse in Berlin
seinen Besuch unterbrechen und hat seinen Besuch dann nach zwei
Tagen in Polen fortgesetzt.
Die beiden Regierungschefs waren sich damals sehr bewusst, dass die
einmalige historische Situation nach einer besonderen politischen
Geste verlangte. Spontan sind die deutsche und die polnische
Delegation nach Kreisau gereist. Auf dem dort gelegenen, zum
damaligen Zeitpunkt völlig zerfallenen Gut der Familie Moltke,
auf dem seinerzeit die Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises
zusammengekommen war, haben sie gemeinsam eine katholische Messe
besucht, die ein Signal der Verständigung und Versöhnung
zwischen beiden Ländern sein sollte.
Den 18. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer heute am 9. November
2007 habe ich ganz in der Früh weit nach Mitternacht mit Musik
von Arvo Pärt begonnen. Mit zwei Werken, von denen ich meine,
dass sie zu diesem Datum und seiner Ambivalenz in einer besonderen
Weise passen. "De Profundis", den berühmten Klageruf aus den
Psalmen und seiner "Berliner Messe", die er nicht irgendwann,
sondern 1989/90 geschrieben hat. Ich habe die Musik von Arvo
Pärt nicht nur deshalb aufgelegt, weil ich wusste, dass ich
den heutigen Abend mit ihm würde verbringen dürfen,
sondern weil seine Biografie, seine Musik und sein Lebenswerk in
ganz besonderer Weise für die neuen Brücken stehen, die
Europa braucht und glücklicherweise wieder oder erstmals hat:
physische und mentale Brücken, politische und kulturelle,
ökonomische und wissenschaftliche.
In dieser, erst im zeitlichen Abstand wirklich begreifbaren Zeit
der großen Wende, als Polen nach vielen bitteren Jahrzehnten
seine Freiheit fand und Deutschland seine Einheit wieder erhielt,
als dieser über Jahrzehnte geteilte Kontinent seine
Zusammengehörigkeit wieder herstellte, wurde immer deutlicher,
dass das eine ohne das andere nicht zu haben war. Die Deutsche
Einheit nicht ohne die Wiederherstellung der Einheit Europas und
die Einheit Europas nicht ohne die Wiederherstellung der Einheit
Deutschlands. Damals wurde ein Konzept Wirklichkeit, von dem die
Gründerväter und -mütter dieses Gedankens sich
schwerlich zugetraut hätten, dieses Ergebnis verbindlich
zuzusagen und schon gar nicht Termine dafür anzugeben.
Im März dieses Jahres haben wir das 50. Jubiläum der
Römischen Verträge in Berlin gefeiert und damit an ein
Vertragswerk erinnert, mit dem zunächst sechs
westeuropäische Staaten eine Wirtschaftsgemeinschaft
begründet haben, ihre ökonomischen Interessen in einer
neuen Weise miteinander verbunden und ihre Märkte nicht
sofort, aber von der erklärten vertraglichen Absicht her
zunehmend füreinander geöffnet haben. Damals hätte
niemand sich vorstellen können, dass diese Gemeinschaft ihren
50. Geburtstag nicht als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern als
politische Union von inzwischen 27 Staaten aus Westeuropa, aus
Mittel- und aus Osteuropa würde begehen können.
Wenn solche Jubiläen über den statistischen Reiz einer
runden Jahreszahl hinaus überhaupt Sinn haben, dann sind sie
besonders gute und im Alltag nicht allzu häufige Gelegenheiten
zur Besinnung über das, was da stattgefunden hat und zur
Selbstverständigung über das, was man sich für die
Zukunft gemeinsam vornimmt.
Und gerade das neue Europa, das mit den 27 Mitgliedsstaaten ganz
gewiss noch nicht am Ende seiner Entwicklung angekommen ist, hat
besonderen Grund darüber nachzudenken, als was es sich
eigentlich versteht. Als einen politischen Club, als einen
großen gemeinsamen Markt oder als eine gemeinsame Idee. Ich
bin fest davon überzeugt, dass die einzig
identitätsstiftende Perspektive das Verständnis Europas
als Idee ist. Das nimmt der politischen Organisation der
Zusammenarbeit dieser Staaten und auch ihrer ökonomischen
Kooperation nichts von ihrer Zweckmäßigkeit, aber als
Grundlage der Identifikation von Menschen mit einer Gemeinschaft
reicht weder der Charme der Brüsseler Bürokratie noch der
Reiz großer gemeinsamer Märkte und damit verbundener
wirtschaftlicher Interessen.
Der Kern des Selbstverständnisses Europas ist eine große
gemeinsame Idee. Die Idee vom Menschen als einer für sich
selbst verantwortlichen Persönlichkeit mit einer nicht
antastbaren Würde - eine gedankliche Figur, von der sich
übrigens mühelos erkennen lässt, dass sie die durch
die Aufklärung erfolgte Säkularisierung der christlichen
Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen
darstellt - und die daraus hergeleiteten Überzeugungen vom
unaufgebbaren Anspruch auf Freiheit, auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit, auf Mitwirkung, auf Demokratie, auf
Rechtstaat, auf Toleranz, auf soziale Gerechtigkeit. Wenn
überhaupt irgendetwas den inneren Zusammenhalt dieses Europas
ausmacht, dann ist es diese Idee. Und der Kern dieser Idee ist
Kultur. Nicht Politik hält eine Gemeinschaft zusammen, sondern
Kultur: Überzeugungen, Prinzipien, Orientierungen, die man
für richtig und unaufgebbar hält. Und deswegen ist gerade
ein Jubiläumsjahr der Europäischen Gemeinschaft eine
besonders gute Gelegenheit, nicht nur mit Respekt für ein
halbes Jahrhundert, das hinter uns liegt, mit Stolz auf die
Errungenschaften zurückzublicken, die schon gar im Lichte
einer in aller Regel zuvor völlig anders verlaufenen
europäischen Geschichte außergewöhnlich
eindrucksvoll sind, sondern sich über das zu
verständigen, was man eigentlich für die weitere
Wegstrecke gemeinsam vor hat.
Ich verstehe den Internationalen Brückepreis als einen Beitrag
zu genau dieser Selbstverständigung und als den nicht nur gut
gemeinten, sondern notwendigen Beitrag, regelmäßig
Persönlichkeiten auszuzeichnen, die zu genau dieser
Selbstverständigung Europas über sich selbst einen ganz
persönlichen Beitrag geleistet haben, und die im Sinne des
Namens dieses Preises "Brücken" gebaut haben: zwischen der
Vergangenheit und der Gegenwart, aus der Gegenwart in die Zukunft,
zwischen dem Osten und dem Westen, zwischen dieser und jener
großen kulturellen Tradition dieses gemeinsamen
Kontinents.
Arvo Pärt ist ein solcher Brückenbauer. Es ist heute
Abend weder nötig noch möglich, den Rang des Komponisten
Arvo Pärt für die zeitgenössische Musik zu
würdigen, aber niemand muss Sorge haben, dass das nicht
ohnehin erfolgt, wenn es nicht endlich heute Abend vorgetragen
würde. Seinen Platz in der Musikgeschichte des ausgehenden 20.
und beginnenden 21. Jahrhunderts ist längst unangefochten.
Ich will in meiner Laudatio ein paar Hinweise darauf geben, warum
und wie ausgerechnet mit musikalischen Mitteln ein Beitrag zu
dieser kulturellen Selbstverständigung, zur Stabilisierung
oder Wiedererrichtung von Brücken in Europa geleistet werden
kann. Und ich will damit unterstreichen, was die Gesellschaft zur
Verleihung des Internationalen Brückepreises für ihre
Entscheidung der Preisvergabe an Arvo Pärt selber vorgetragen
hat: "Arvo Pärt hat mit musikalischen Mitteln dazu
beigetragen, die spirituell prägenden Kräfte Europas
aufeinander zuzuführen. In seinem Schaffen treffen sich
Traditionen aus dem östlich-orthodoxen, dem
römisch-katholischen und dem protestantischen Europa und
bereichern sich wechselseitig. Es gelang ihm, eine Brücke
zwischen Ästhetik, Ethik und Spiritualität zu schlagen
und Elemente der Musiksprache des Ostens in die Konzertsäle
des Westens einzubringen und einem breiten Publikum zugänglich
zu machen."
Meine Damen und Herren, schon die biografischen Daten Arvo
Pärts sind ein Beleg für die Notwendigkeiten des
Brückenbauens in Europa, insbesondere in der Zeit, in der die
Teilung dieses Kontinents manifest war. Der Oberbürgermeister
hat in seiner Begrüßung bereits auf einige Stationen des
Lebens und auch des künstlerischen Wirkens von Arvo Pärt
hingewiesen. Ich darf vielleicht noch einmal ergänzen, wie
sehr sich auch im persönlichen Lebensschicksal die Folgen der
ideologischen Trennung und des drohenden kulturellen Bruchs dieses
Kontinents bemerkbar gemacht haben.
Sein 1968 komponiertes "Credo" war ein so überragender
musikalischer Erfolg, dass er schon bei der Uraufführung
sofort wiederholt werden musste, und zugleich eine so riesige
politische Provokation, dass es anschließend prompt verboten
wurde. Auf der Suche nach seiner eigenen Stimme in der kulturellen
Tradition dieses Kontinents und der Auseinandersetzung mit anderen
zeitgenössischen Komponisten hat Arvo Pärt sich damals
für beinahe acht Jahre aus jeder aktiven Kompositionsarbeit
zurückgezogen. Er hat später einmal gesagt, das war die
Zeit, in der ich "wieder gehen lernen" musste. Pärt hat mit
seiner intensiven Beschäftigung mit der kulturellen Tradition
jahrhundertelang zurückliegenden Formen und Sprachen der
musikalischen Tradition dieses Kontinents eine neue Begründung
für seine eigene kompositorische Handschrift gesucht und
gefunden.
Nach seiner Ausreise aus Estland zunächst nach Wien und dann
nach Berlin Anfang der 80er Jahre wurden seine Werke zunehmend auch
in Europa und in den USA bekannt. Von einem seiner bedeutenden
Werke aus den späten 70er Jahren "Tabula rasa" hat ein
amerikanisches Fachmagazin nach der Aufführung dieses Werkes
in den USA geschrieben, Arvo Pärts Musik müsse als der
Versuch verstanden werden "das 20. Jahrhundert mit dem 15.
Jahrhundert musikalisch zu verbinden und alles dazwischen zu
ignorieren". Nun glaube ich nicht, dass das geht. Und ich vermute,
dass er das auch nie vorhatte.
Das, was stattgefunden hat, kann man nicht ignorieren. Man kann es
verdrängen, was meistens nicht viel hilft, man kann es mehr
oder weniger vollständig verarbeiten, man kann sich um
Neuanfänge bemühen, aber nie kann man mit Aussicht auf
Erfolg so tun, als hätte es nicht stattgefunden. Das geht in
individuellen Biografien nicht, es geht in sozialen Gemeinschaften
nicht und es geht in Staaten und Nationen auch nicht. Aber die
Bedeutung des künstlerischen Schaffens von Arvo Pärt
besteht eben nicht in der Kunst des Ignorierens, sondern in dem
Genie, Brücken zu schlagen, zwischen dem
Ausdruckbedürfnis unserer Zeit und den Ausdrucksformen und
-möglichkeiten von Generationen, die Jahrhunderte vor uns,
hier, auf dem gleichen Kontinent gelebt haben.
Es ist vorhin mit Recht hervorgehoben worden, dass die
Auseinandersetzung mit religiösen Themen einen, wenn nicht den
zentralen Stellenwert im musikalischen Schaffen von Arvo Pärt
darstellen. Dafür ließen sich viele Beispiele nennen.
Ich will nur zwei wenigstens als Titel nennen, seine bedeutende
"Johannes-Passion" Anfang der 80er Jahre und die Vertonung von
Gebeten des heiligen Johannes Chrysostomus, einen auf englische
Texte vertontes Werk, eine "Litanei", für deren Komposition er
sich übrigens auf den Berg Sinai zurückgezogen hat, um
die Inspirationen authentisch für sich zu gewinnen, die er
für diese Arbeit zu brauchen meinte. Das letzte Werk, das ich
beispielhaft für den Brückenbauer Arvo Pärt nennen
will, ist das als Auftragswerk der Berliner Festwochen 2000
entstandene Orchesterwerk "Orient & Occident". Der
Brückenschlag zwischen den ganz unterschiedlichen kulturellen
Traditionen zweier jeweils bedeutender Kulturkreise.
Meine Damen und Herren, Arvo Pärt schuf in der dramatischen
Epoche des Umbruchs Europas, die den eisernen Vorhang bei Seite
schob und ein freies, zusammenwachsendes Europa Wirklichkeit werden
ließ, eine Musik, die eine stolze musikalische Tradition
für das im Westen bisweilen in Vergessenheit geratene und das
im Osten über Jahrzehnte inkriminierte christliche Erbe
Europas wieder freilegt und fortführt. Arvo Pärt
genießt weltweite Geltung, obwohl oder vielleicht gerade weil
er manche irritierende Unverständlichkeiten gegenwärtiger
Kompositionsweisen, die gelegentlich auch mit dogmatischem Anspruch
an die Zuhörer herantreten, als sei es die einzige
Möglichkeit heute Musik zu schreiben, souverän hinter
sich gelassen hat.
Seine Musik will die alten Werte religiöser Musikerfahrung
für die Jetztzeit wieder hörbar machen. Er gibt dem
Erinnern und dem Wiederentdecken des kulturellen Erbes Europas eine
musikalische Form, in der sich das zusammenwachsende Europa auf
eindrucksvolle Weise seines Erbes versichert. Mit seinem
musikalischen Schaffen gelang und gelingt ihm der
Brückenschlag zwischen den geistigen Traditionen des
östlich-orthodoxen und dem römisch-katholischen und dem
protestantischen Europa für das europäische Publikum von
heute.
So etwas, meine Damen und Herren, ließe sich als Programm gar
nicht formulieren. Es würde zu Recht für aussichtslos
gehalten. Arvo Pärt ist einer der Glücksfälle in der
europäischen Musikgeschichte, denen ein solcher
Brückenschlag gelungen ist. Nach Victor Hugo drückt Musik
das aus, "was nicht gesagt werden kann und worüber es
unmöglich ist, zu schweigen". Dazu passt wunderschön eine
Beschreibung der Musik Arvo Pärts, die ich auf dem Cover einer
der zahlreichen CD's gefunden habe, die ich von meiner Musik im
Schrank stehen habe. Da wird Pärts Musik beschrieben, als "the
most beautiful sound next to silence". Der schönste denkbare
Klang nahe der Stille.
Die Musik von Arvo Pärt ist nicht ornamental, sondern
elementar. Sie ist nicht bombastisch, sondern schlicht. Sie ist
eher minimalistisch als aufwändig. Sie erreicht mit minimalem
Aufwand ihre maximale Wirkung. Auch deshalb, weil sie sich nicht am
Möglichen orientiert, sondern am Notwendigen.
Das wäre, meine Damen und Herren, kein übles Programm
für die Europäische Gemeinschaft für die
nächsten 50 Jahre. Nicht möglichst viel Verzierung,
sondern Konzentration auf das Wesentliche. Nicht so bombastisch wie
möglich, sondern so schlicht wie möglich und nötig,
nicht aufwändig, sondern mit der Souveränität, sich
auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Pärt, von Herzen zu dieser
Auszeichnung und ich schließe in diese Gratulation meinen
Respekt vor der Gesellschaft ein, die mit außerordentlicher
Klugheit in diesem Jahr einen besonders bemerkenswerten
Preisträger gefunden hat.
Herzlichen Glückwunsch!