10.04.2008
Rede des Bundestagspräsidenten anlässlich der
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages "Die Zerstörung der
Demokratie in Deutschland vor 75 Jahren"
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte
Repräsentanten der Verfassungsorgane unseres Landes! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Meine Damen und
Herren!
Als am 10. Mai 1933 mitten in der Hauptstadt unter staatlicher
Regie und Aufsicht 20 000 Bücher verbrannt wurden, darunter
die Werke der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und
Publizisten, direkt neben der Staatsoper Unter den Linden, vor der
Hedwigs-Kathedrale, gegenüber der Humboldt-Universität -
ein bizarres Staatsschauspiel in der unglaublichen Kulisse der
Berliner Repräsentationsbauten von Kunst, Kirche und
Wissenschaft -, war das sogenannte Tausendjährige Reich gerade
einmal 100 Tage alt. Damals hatte das neue Regime innerhalb weniger
Wochen nach einem legalen Regierungswechsel schon beinahe alles
durchdekliniert, was die nächsten zwölf Jahre bestimmen
sollte: Rechtsbruch, Verfassungsbruch,
Zivilisationsbruch.
Mit dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur vor 75 Jahren
verbindet sich eine Reihe bedeutsamer Gedenktage, an die wir in
dieser Stunde im Deutschen Bundestag erinnern. Die Zeit des
NS-Regimes hat am 30. Januar 1933 begonnen - die Auflösung der
Weimarer Republik zweifellos früher. Das eine ist aber ohne
das andere nicht erklärbar.
Am 10. April 1932, heute auf den Tag genau vor 76 Jahren, gewann
im zweiten Wahlgang der greise Paul von Hindenburg als Amtsinhaber
die Reichspräsidentenwahl. Um Hitler zu verhindern, hatten
sich alle demokratischen Parteien hinter diesen Mann gestellt, der
als bekennender Monarchist sieben Jahre zuvor gegen ihren
begründeten Widerstand mit den Stimmen der Republikfeinde ins
Amt gehoben worden war.
Dass die Republik von Weimar neben vielen anderen Problemen
gewiss zu wenig überzeugte und engagierte Demokraten hatte -
bis in die Spitzen der Verfassungsorgane hinein -, gehört zu
ihren größten Belastungen, unter denen sie
schließlich zusammengebrochen ist.
Die politische Kultur der Weimarer Republik litt von Beginn an
unter dem weitverbreiteten Zweifel über die Vorzüge und
die Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Diese Skepsis
war genährt von Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der
Repräsentation und vom Misstrauen in die
pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Das verbreitete
Unverständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen
stürzte 1930 die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit
getragene Reichsregierung. In der Auseinandersetzung um eine
Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge erwiesen
sich in der damaligen Großen Koalition aus SPD, Zentrum,
Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und
Bayerischer Volkspartei die jeweiligen Parteiinteressen
größer als die gemeinsame Verantwortung für stabile
politische und wirtschaftliche Verhältnisse. Schließlich
wurde das Scheitern der Regierung eher in Kauf genommen als der
Konflikt mit der eigenen Klientel. Die Republik ist deshalb
keineswegs nur an ihren vielen Gegnern, die es zweifellos gab,
zugrunde gegangen, sondern auch durch das Versagen ihrer
demokratischen Stützen. In einer beispiellosen Radikalisierung
der politischen Auseinandersetzung, mit der sich in Straßen-
und Saalschlachten zunehmend der Eindruck eines begonnenen
Bürgerkrieges verbreitete und Pöbeleien und
Prügeleien als Obstruktionsstrategie der Republikfeinde zum
parlamentarischen Alltag wurden, wuchs sich die Missachtung des
Reichstages zu einer Parlamentsverachtung breiter
Bevölkerungsschichten aus, die schließlich auch im
Parlament selbst immer hemmungsloser zum Ausdruck kam.
Das Ende der Weimarer Demokratie war weder zufällig noch
zwangsläufig. Dies ist bei allen offenen Fragen über die
tieferen Ursachen des Siegeszuges der Nationalsozialisten ein
fundiertes historisches Urteil. Am 30. Januar 1933 wurde an die
Spitze der ersten deutschen Republik ein Mann gestellt, der diese
nicht nur öffentlich verhöhnte, sondern auch geschworen
hatte, sie zu vernichten. "Ich prophezeie feierlich",
äußerte sich nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten ein prominenter Zeitgenosse, der über
persönliche Erfahrungen mit Hitler verfügte, "dass dieser
unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere
Nation in unfassbares Elend bringen wird." Es war General Erich
Ludendorff, der nur zehn Jahre zuvor noch maßgeblich an
Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München und am damals
missglückten Umsturzversuch beteiligt gewesen war.
Illusionen über die künftigen Verhältnisse
hätte niemand haben dürfen. Adolf Hitler hatte nie einen
Zweifel daran gelassen, was er mit der Macht anstellen würde,
wenn er sie nur bekommen würde. Im sogenannten Ulmer
Reichswehrprozess hatte er 1930 nicht zum ersten und nicht zum
letzten Mal offen erklärt, die NSDAP werde, sollte sie an die
Macht kommen, die Weimarer Verfassung auf legalem Wege in eine
völlig andere staatliche Grundordnung umformen.
Viel Zeit hat er sich dafür nicht genommen. Mit seinem
Einzug in die Reichskanzlei begann die systematische
Zerstörung einer Demokratie, der seine Partei
unmissverständlich den Kampf angesagt hatte.
In dieser Republik, der es erkennbar an Demokraten fehlte, war
der Anspruch auf politische Teilhabe des Volkes bereits seit 1930
unterlaufen. Mit den Präsidialregierungen auf der Grundlage
des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung war die parlamentarische
Demokratie weitgehend ausgeschaltet. Die präsidialen
Notverordnungen hatten immer häufiger die Gesetzgebung unter
parlamentarischer Kontrolle verdrängt. Nach den Juliwahlen
1932 tagte der Reichstag gerade noch zweimal - Hermann Göring
war inzwischen Reichstagspräsident -, nach den Neuwahlen vom
November dreimal.
Vor diesem Hintergrund entwirft die vom NS-Regime geprägte,
bis heute oft wiederholte Behauptung, die Nationalsozialisten
hätten 1933 in einer Demokratie mit demokratischen Mitteln die
Demokratie besiegt, ein allzu simples Bild der politischen
Realitäten am Ende der Weimarer Republik. Ebenso ist der
zeitgenössische zynische Kommentar Oswald Spenglers, die
Machteroberung der Nationalsozialisten sei kein Sieg gewesen, denn
es hätten die Gegner gefehlt, schlicht falsch. Vielmehr wurde
unmittelbar mit dem Machtantritt am 30. Januar unter Berufung auf
die erlassenen Notverordnungen mit beispiellosem politischem Terror
der Weg in die Diktatur eingeschlagen. 500 bis 600 Regimegegner
wurden bereits damals ermordet. Allein in Preußen kam es im
März/April zu Festnahmen von annähernd 30 000 politischen
Gegnern, die Mehrzahl von ihnen Kommunisten.
Der Reichstagsbrand am 27. Februar und in dessen unmittelbarer
Folge die Außerkraftsetzung der Grundrechte durch die
sogenannte Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, die
Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Antrag der
Reichsregierung schon am folgenden Tag erließ, bot das Mittel
zur verschärften staatlichen Verfolgung politischer Gegner,
zur brutalen Zerschlagung jeder Opposition, in den Parteien, den
Gewerkschaften, den Kirchen und unter den Intellektuellen. Sie
wurden politisch kaltgestellt, verfolgt, in Gefängnisse
verschleppt, aus dem Land getrieben, ermordet.
Von insgesamt 1 583 damals noch lebenden amtierenden oder
ehemaligen Reichstagsabgeordneten mussten nach dem 30. Januar 1933
über 300 massive Behinderungen und soziale Einbußen
hinnehmen, wurden aus ihren Berufen verdrängt und um ihr
Vermögen gebracht. Wenigstens 416 Mandatsträger wurden
von der Justiz verurteilt und von SA oder SS inhaftiert, wobei
mindestens 73 während dieser Haft ums Leben kamen. Nicht
weniger als 167 ehemalige Parlamentarier waren ab 1933 zur Ausreise
gezwungen. Von sechs Parlamentariern ist bekannt, dass sie in den
Selbstmord getrieben wurden.
Unter den noch am 28. Februar 1933 in sogenannte Schutzhaft
genommenen Literaten und Publizisten befanden sich Carl von
Ossietzky, Erich Mühsam und Egon Erwin Kisch. Noch am selben
Tag verließen Bertolt Brecht und Alfred Döblin Berlin.
Mit der Machtübernahme war bereits Lion Feuchtwanger von einer
Vortragsreise im Ausland nicht mehr zurückgekehrt, ebenso
Albert Einstein. Am 11. Februar ging Thomas Mann ins Exil. Viele
prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und
Kultur, aber auch Betroffene aller Bevölkerungsschichten,
insbesondere deutsche Juden, folgten diesem Beispiel. Die
Emigration aus Deutschland nach 1933 umfasste annähernd eine
halbe Million Menschen; schätzungsweise 30 000 davon sind als
aktive Regimegegner geflohen.
Unter diesen Bedingungen fanden die Hitler zugesagten Neuwahlen
zum Reichstag am 5. März 1933 statt, die den politischen
Behinderungen und dem massiven Straßenterror zum Trotz der
NSDAP dennoch mit 44 Prozent weniger und den Parteien der Linken
mit einem Drittel der Stimmen mehr als erwartet
einbrachten.
Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das als
Ermächtigungsgesetz in die Geschichte einging, zementierte am
23. März 1933 die nationalsozialistische Diktatur. Es wurde in
einem Parlament verabschiedet, in dem die Mandate der KPD in einem
offenen Verfassungsverstoß als nichtexistent behandelt
wurden, einem Parlament, in dem die neuen Machthaber die
Geschäftsordnung handstreichartig geändert hatten, um der
NSDAP die nötige Mehrheit zu sichern, die sie selbst unter den
Bedingungen der Wahl vom März 1933, die weder frei noch fair
war, alleine nicht erzielt hatte.
Weder die breite Öffentlichkeit noch die meisten Vertreter
der Parteien und Verbände hatten die ganze Dimension und die
weitgehenden Folgen dieses Gesetzes erkannt, das an Tragweite alle
Ermächtigungen übertraf, die das Parlament jemals einer
Regierung bewilligt hatte. Ohne jede parlamentarische Kontrolle war
den Befugnissen der Reichsregierung künftig keine rechtliche
Schranke mehr gezogen. Die Regierung, nicht das Parlament, war
künftig befugt, Gesetze zu "erlassen", die auch von der
Verfassung abweichen konnten - und sollten. Dies bedeutete das Ende
des Rechtsstaates mit Folgen nicht nur für die staatliche
Ordnung, sondern auch für das Leben jedes einzelnen
Bürgers.
Ich bin Ihnen, Herr Kollege Vogel, außerordentlich
dankbar, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, die Bedeutung
dieses Ereignisses im Kontext der Geschichte der Weimarer Republik
und für dieses Land in dieser gemeinsamen Gedenkstunde in
besonderer Weise zu würdigen.
Meine Damen und Herren, im Völkischen Beobachter lieferte
zu dieser Zeit eine kleine Meldung eine Vorahnung dafür, was
in einem nie gesehenen Terrorsystem enden sollte. Sie kündigte
die Errichtung eines ersten Konzentrationslagers mit einem
Fassungsvermögen für 5 000 Menschen in der Nähe von
Dachau an, wo "ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken" die
kommunistischen, aber auch sozialdemokratischen Funktionäre
untergebracht werden sollten.
Der Artikel erschien am 21. März 1933. An diesem
sogenannten Tag von Potsdam reichten sich in der Potsdamer
Garnisonskirche die Republikgegner über dem Grab Friedrich des
Großen und 62 Jahre nach der ersten Reichstagseröffnung
durch Bismarck die Hand. Es war die symbolische Versöhnung von
einer am Kaiserreich orientierten konservativ-reaktionären
Tradition mit der vermeintlich
"nationalsozialistisch-revolutionären Erneuerung". Diese
beinahe operettenhafte Potsdamer Inszenierung ging dem tragischen
Schauspiel in der Kroll-Oper am 23. März voraus. Hier folgte -
schon unter der demonstrativen, doppelt symbolkräftigen
Dekoration eines riesigen Hakenkreuzes auf der Stirnwand einer als
Parlamentssaal ausstaffierten Opernbühne - der Auslieferung
des Staates durch die konservativ-reaktionären Machteliten
Ende Januar die Selbstaufgabe des Parlamentes zugunsten der
Regierung, einer Regierung, deren Kanzler den Reichstag noch
unmittelbar vor der Abstimmung mit der unglaublichen Herablassung
düpierte, sie - die Regierung - behalte sich "auch für
die Zukunft vor, ihn von Zeit zu Zeit über ihre
Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen,
wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen." Das
deprimierende Protokoll dieser Reichtagssitzung kann heute auch und
gerade denjenigen als abschreckendes Beispiel für die
mutwillige Zerstörung einer Demokratie dienen, die die
damaligen Verhältnisse in Deutschland, wenn überhaupt,
nur vom Hörensagen kennen.
Staatshörigkeit und Legalitätsglaube, vage
Zusicherungen und Versprechen, politische Einschüchterung und
brutale Bedrohung brachten die Zustimmung der notwendigen
Zweidrittelmehrheit. Das Ermächtigungsgesetz war im
bürgerlichen Lager das Ergebnis von Erpressung, Täuschung
und Selbsttäuschung, sagt der Historiker Heinrich August
Winkler. Er hat den politischen "Mehrwert" dieses Gesetzes für
die Stabilisierung des Regimes pointiert in die Worte
gefasst:
Der Schein der Legalität förderte den Schein der
Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der
Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der
Beamten.
Bei der Abstimmung im Reichstag fehlten 107 Abgeordnete: die 81
Fraktionsmitglieder der KPD und auch 26 Abgeordnete der SPD, die
bereits in Haft saßen oder sich aus berechtigter Angst um ihr
Leben auf der Flucht befanden. Es ist das historische Verdienst der
94 verbliebenen sozialdemokratischen Abgeordneten, mit großem
persönlichem Mut der Repression widerstanden zu haben. Sie
weigerten sich, dem gewalttätigen Umsturz hinter der Fassade
einer scheinbaren parlamentarischen Normalität den Ausweis von
Legalität zu geben. Sie sind damit - die meisten von ihnen
damals wie heute der breiten Öffentlichkeit unbekannt - zu
stillen Helden der Demokratie und des Parlamentarismus in
Deutschland geworden. Einer von ihnen war Paul Löbe,
langjähriger Präsident des Reichstages, später
Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages; er wertete
das Ermächtigungsgesetz 1949 als einen "illegalen Akt" und den
Widerstand dagegen als "eine patriotische Tat". Als das wollen und
werden wir es in ehrendem Gedenken behalten.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Otto Wels, aus
dessen Rede wir gleich im Anschluss den zentralen Abschnitt
hören werden, sprach die letzten wirklich freien Worte im
Deutschen Reichstag, der damals in diesem Gebäude schon nicht
mehr zusammentreten konnte und nach dieser Sitzung auch nicht mehr
gebraucht wurde. Angesichts der Machtlosigkeit und des Verlustes an
Freiheit reklamierte er für alle im Widerstand stehenden
Deutschen nur mehr die Ehre, die offensichtlich mehr als eine
"Sekundärtugend" ist.
Auf sie bezog sich auch der nach Österreich emigrierte
Schriftsteller Oskar Maria Graf, als im Mai 1933 in über 50
deutschen Städten - übrigens auf Initiative der Deutschen
Studentenschaft - die Bücher von mehr als 250 Autoren
verhöhnt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, darunter
die Werke der Gebrüder Mann, von Bertolt Brecht, Stefan Zweig,
Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Carl von
Ossietzky und Kurt Tucholsky. "Diese Unehre habe ich nicht
verdient!", hieß es in Grafs öffentlichem Aufschrei, als
er sich selbst auf der Liste verfemter Schriftsteller nicht
fand.
Joseph Roth hatte schon ein Jahr vor diesem Akt der Unkultur
gegenüber Freunden geäußert: "Sie werden unsere
Bücher verbrennen und uns damit meinen." In seinem Fall meinte
dies zweierlei: den Intellektuellen und den Juden. Nur eine knappe
Woche nach dem Ermächtigungsgesetz, am 1. April 1933, zeigte
sich die menschenverachtende Rassenideologie in einer von den neuen
Machthabern gesteuerten und reichsweit durchgeführten Aktion
gegen die deutschen Juden. Der Boykott jüdischer
Geschäfte, der von nackter Gewalt auf offener Straße
begleitet war, und das Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums, mit dem Beamte "nicht-arischer Abstammung" in
den Ruhestand versetzt wurden, bildeten das unübersehbare
Fanal einer brutalen Ausgrenzung, die in die Vernichtungslager
führen sollte. Den Frontalangriff der Nationalsozialisten auf
die Menschenrechte zeichnete Joseph Goebbels in seinem
Boykottaufruf in gewohnt großen historischen Linien. Seine
Parole, das Jahr 1789 aus der Geschichte zu streichen, machte
deutlich: In Abkehr von den westlichen Prinzipien - Toleranz,
individuelle Freiheit, Gewaltenteilung, Demokratie und Rechtsstaat
- meinte die Idee der Nation im NS-Verständnis die
Volksgemeinschaft in einem autoritär geführten Staat. Der
ausdrückliche Abschied von der unantastbaren Würde des
Menschen führte schließlich in den Holocaust als
beispiellosem Menschheitsverbrechen.
Das Jahr 1933 lässt sich ebenso wenig aus der Geschichte
streichen wie irgendein anderes davor oder danach. So weit reicht
der maßlose Anspruch auch von Despoten nicht. Aber er reicht
erschreckend weit:
Am 2. Mai, unmittelbar nach dem Tag der Arbeit, werden
überall in Deutschland die Gewerkschaftshäuser
gestürmt, am 22. Juni wird die SPD verboten, die anderen
Parteien lösen sich scheinbar freiwillig auf.
Schon Mitte des Jahres, nach gerade einmal fünf Monaten,
ist das Parteiensystem - wie angekündigt - beseitigt, die
NSDAP die einzig verbliebene selbstständige Organisation. Bis
dahin waren ihr mehr als 1,5 Millionen Menschen als Mitglieder
beigetreten - mehr als alle demokratischen Parteien in Deutschland
heute zusammen an Mitgliedern haben. Freie Wahlen haben danach
nicht mehr stattgefunden. Es fehlten dafür inzwischen auch
sämtliche Voraussetzungen.
Die Auflösung der Weimarer Demokratie hat nicht erst am 30.
Januar begonnen. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war
eben nicht der Anfang vom Ende, sondern der Abschluss einer langen
politischen Agonie, die als "nationale Erhebung" gefeiert in den
nationalen Untergang führte.
Zu dieser fast unbegreiflichen Entwicklung beigetragen hat nicht
zuletzt ein erschreckender Mangel an Einsicht und Zivilcourage auch
bei prominenten Vertretern der Wirtschaft, der Medien, der Kirchen
wie der Universitäten. Die Weimarer Zeit kennzeichnete in
Politik, Verwaltung, Justiz und Kultur ein gewiss facettenreiches,
in seinem Kern aber oft antidemokratisches Denken. Das machte auch
und gerade vor den Universitäten und der Wissenschaft nicht
halt. Im Gegenteil: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat
unlängst in einer Ausstellung hier in Berlin über die
eigene Vergangenheit dokumentiert, dass viele Wissenschaftler in
Deutschland keineswegs erst hätten gleichgeschaltet werden
müssen. Vielmehr habe sich "die Mehrheit geradezu
aufgedrängt, nationalsozialistische Politik zu gestalten, und
das häufig schon in den 20er Jahren, ganz ohne Not", so Dieter
Hüsken, der für die DFG die Ausstellung ausgerichtet
hat.
Dass Berlin nicht Weimar ist, so wie Bonn nie Weimar wurde,
manifestiert sich nicht zuletzt in dem großen Konsens, mit
dem wir heute im deutschen Parlament - und nicht nur hier - auf das
Jahr 1933 und seine Lektionen zurückblicken. Der deutsche
Parlamentarismus ist auch heute nicht unangefochten, aber er
erweist sich auch am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts als
robuster und vitaler als gemeinhin vermutet - vielleicht nicht ganz
so stark, wie er sein könnte, und nicht immer so
selbstbewusst, wie er gelegentlich sein sollte. Doch wo hatten und
haben im internationalen wie im historischen Vergleich Parlamente
ähnlich viel oder gar mehr Einfluss auf die Bildung und die
Kontrolle von Regierungen, auf die Gesetzgebung und die
öffentliche Meinung als in Deutschland heute?
Aus der Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und der
nationalsozialistischen Diktatur begründete sich der den
westlichen Werten verpflichtete Geist des Grundgesetzes: der Schutz
der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung des Bürgers
in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten
parlamentarischen Demokratie und die Verhinderung einer
verselbstständigten Staatsgewalt. Vor 60 Jahren wollten die
Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen
Rat als Lehre von Weimar nicht allein die Funktionsfähigkeit
des Regierungssystems verbessern. Sie leitete in ihren
Verfassungsberatungen vor allem das Ziel einer wehrhaften
Demokratie, in der sich demokratische Freiheiten nicht für die
Zerstörung der freiheitlichen Demokratie missbrauchen lassen
sollten. Während in der Weimarer Reichsverfassung die
Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze galten, sind sie im
Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht
und damit verbindliche Orientierung für die
Gesetzgebung.
Die Weimarer Verfassung hatte bei ihrer durchaus ehrgeizigen
Formulierung naturgemäß noch nicht die Erfahrung ihres
späteren Scheiterns, die wiederum zur prägenden
Orientierung der Schöpfer des Bonner Grundgesetzes
führte, die neue politische Ordnung in ihrem rechtsstaatlichen
Kern durch den berühmten Art. 79 Abs. 3 mit den Grundrechten
und den Strukturprinzipien der Republik, der Demokratie, des
Rechtsstaates, des Sozialstaates und des Bundesstaates unter
besonderen, verfassungsrechtlich irreversiblen Schutz zu stellen.
Bis heute ist das gelungen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 75 Jahre
sind inzwischen seit der Auflösung und Zerstörung der
ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland vergangen. Sie
wurde keine vierzehn Jahre alt. Nach grausamen, unvorstellbaren,
entsetzlichen zwölf Jahren war die Nazi-Herrschaft zu Ende -
und mit ihr das Deutsche Reich als selbstständiger Staat
zerstört, politisch und militärisch gescheitert,
wirtschaftlich ruiniert und moralisch diskreditiert.
Im nächsten Jahr können wir das 60-jährige
Bestehen der Bundesrepublik Deutschland feiern. Ihre politische
Stabilität und ihr großes Ansehen in der Welt war wie
das Scheitern der Weimarer Demokratie weder zufällig noch
zwangsläufig.
Zur demokratischen Erinnerungskultur gehört, das eine
genauso wenig für selbstverständlich zu halten wie das
andere. Für beides gibt es Ursachen und gibt es
Verantwortliche, nicht nur in den Parlamenten, aber hier ganz
besonders.
Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur, und unser besonderer und dankbarer Respekt gilt all denen, die während und nach der brutalen Zerstörung der ersten deutschen Demokratie den politischen, sozialen und moralischen Wiederaufbau unseres Landes möglich gemacht haben.