03.06.2008
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Prof. Dr.
Norbert Lammert zum 25jährigen Jubiläum der Grünen
im Bundestag im Goya-Club Berlin
Verehrte Honoratioren und Alternative,
liebe Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier aus dem Deutschen
Bundestag und aus anderen Parlamenten,
meine Damen und Herren,
damals vor 25 Jahren, als das begann, was wir heute feiern, der
grüne Parlamentarismus, jedenfalls der Einzug der Grünen
in das deutsche Parlament, war manches ganz anders und vieles schon
genauso wie heute. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war
dabei. Ich gehöre zu der wahrscheinlich überschaubaren
Minderheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der heutigen
Veranstaltung, die die damaligen Verhältnisse im Deutschen
Bundestag nicht nur vom Hörensagen kennen.
Nun eignet sich ein Grußwort, um das ich gebeten worden bin,
natürlich weder für eine historische Würdigung noch
für eine ernsthafte politikwissenschaftliche Analyse, aber es
reicht für einen qualifizierten Glückwunsch, der gleich
beiden gilt: Den Grünen und dem deutschen
Parlamentarismus.
Angefangen hat die parlamentarische Existenz der Grünen sehr
bunt, sehr alternativ, nicht immer sehr fröhlich, manchmal
auch sehr verbissen. Gestartet als Antiparteien-Partei, als
Bewegung, die mit "diesem ganzen Laden" nichts zu tun haben wollte,
dezidiert systemkritisch, aber den Vorzügen des
Parteiengesetzes - und insbesondere der steuerlichen
Parteienfinanzierung - auch damals durchaus aufgeschlossen. Die vom
Bundespräsidenten eingesetzte Sachverständigenkommission
zur Neuordnung der Parteienfinanzierung schrieb 1983 in ihrem
Bericht:
"Die Entstehungsgeschichte der Partei ‚Die Grünen'
stellt somit einen in der Geschichte der Bundesrepublik bisher
einmaligen Fall staatlich subventionierter Parteigründung dar,
der deutlich zeigt, wie problematisch eine ausschließlich am
Wahlergebnis orientierte Wahlkampfkostenerstattung sein kann."
Selbst die heftigen Bemühungen der Grünen-Fraktion,
diesem Skandal durch Änderung der gesetzlichen
Rahmenbedingungen abzuhelfen, haben ganz offenkundig die
erforderlichen Mehrheiten schon in der Fraktion nicht gefunden. Mit
der Geschäftsordnung des Bundestages standen die Grünen
nach meiner Erinnerung schon damals in einem - ich würde mal
sagen - dialektischen Verhältnis, das sich zunehmend
veränderte, nachdem man den eigenen finsteren Vermutungen zum
Trotz auch die bemerkenswerten Minderheitenrechte entdeckt hatte,
die die Geschäftsordnung des Bundestages nicht erst seit
dieser Zeit vorsieht, die deswegen auch nicht geändert wurden,
und die jedenfalls ausreichen, einer real existierenden Regierung
manche Mühen zu machen.
Im Übrigen, das kann ich jetzt im Rahmen des Grußwortes
leider nicht mit all den sorgfältig herausgesuchten Zitaten im
Einzelnen belegen, lässt sich schon für die allererste
Legislaturperiode, sogar schon für die erste Runde dieser
Legislaturperiode nachweisen, wie sehr doch zunehmend ein immer
beachtlicherer Teil dieser grünen alternativen Fraktion seinen
Frieden mit dem real existierenden deutschen Parlamentarismus
machte.
Da gibt es wunderschöne Zitate von Joschka Fischer aus dem
Jahre 1983, was die Fortschrittlichkeit des Parlamentarismus als
solchen betrifft. Von Antje Vollmer, die zerknirscht berichtet, sie
halte jetzt vom deutschen Parlament wesentlich mehr als vorher, als
sie ihm nicht angehört habe. Bis hin zu Hans Christian
Ströbele, der gesagt hat: "Wenn wir uns schon auf diese
seltsame Art von Demokratiespiel einlassen und wählen lassen,
ist es unsere erste Aufgabe, diesen Parlamentarismus beim Wort zu
nehmen." Was immer er darunter dann auch verstanden haben mag.
Jedenfalls sehe ich den Entwicklungen, die es in diesem
Vierteljahrhundert dann gegeben hat, mit einer Mischung aus Respekt
und Trauer hinterher, weil uns manche Aufschlüsse
natürlich nicht mehr in der Weise zugänglich sind, wie
das in den grandiosen Zeiten öffentlicher Fraktionssitzungen
der Fall war. Und die jetzige Art der Presseberichterstattung
über Gremiensitzungen ist ja doch nur ein bescheidener
Abklatsch der damaligen Transparenz, deren Abschaffung unter diesem
Gesichtspunkt natürlich dringend rechtfertigungsbedürftig
ist. Dazu werden wir ja sicher heute im Laufe des Abends noch
manches hören. Jedenfalls möchte ich denjenigen, die
damals noch nicht dabei waren, den verzweifelten Brief des
damaligen parlamentarischen Geschäftsführers Eberhard
Bueb zur Kenntnis bringen, der mit Datum vom 17. Oktober 1985 an
die Mitglieder der Fraktion unter Betreff "Miserabelste
Koordination in der Fraktion in den Sitzungswochen" folgenden Brief
geschrieben hat:
"Liebe Leute.
so geht es wirklich nicht!
Ich bin nicht länger bereit, diese chaotische Arbeitsweise in der Fraktion zu tolerieren. (...) Die Verwaltung des Bundestages, die uns äußerst loyal gegenübersteht, macht Überstunden um Überstunden, nur weil Ihr nicht in der Lage seid, Anträge etc. fristgerecht abzugeben! (...)
Und noch was, liebe Leute:
Schaut mal in Euer kleines grünes Buch hinein, das ist die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, da steht auch drin, wozu Ihr welche Antragsarten, Kleine u. Große Anfragen, schriftl., mündl., dringliche Fragen etc. machen könnt.
Wenn Ihr das nach gut 2 1/2 Jahren parlamentarischer Praxis noch nicht intus habt, na dann Gute Nacht!
Mit bedauerlichen Grüßen
Eberhard Bueb"
Meine Damen und Herren, es kann ja nun gar nicht übersehen
werden, dass es seit damals einen Professionalisierungsschub
gegeben hat, den die meisten sich damals nicht nur nicht
hätten vorstellen können, sondern vermutlich für
rufschädigend gehalten hätten. Deswegen bleibt
natürlich besonders bedauerlich, dass manche der
liebenswürdigen, geradezu programmatischen Absichten in diesen
25 Jahren schließlich doch auf der Strecke geblieben sind:
Dieses wunderschöne Rotationsprinzip, das den konkurrierenden
Parteien das Leben wirklich leichter gemacht hat, oder die
Öffentlichkeit von Fraktionssitzungen.
Auf der anderen Seite sind natürlich auch eine ganze Reihe von
nachhaltigen Wirkungen im deutschen Parlamentarismus festzuhalten:
Vollwertkost in sämtlichen Kantinen des deutschen Bundestages
gab es zu Beginn der 80er Jahre definitiv nicht.
Fahrradständer an Parlamentsgebäuden, die heute auch
nicht mehr so ganz intensiv genutzt werden, ebenfalls nicht.
Im übrigen hätte ich natürlich gerne gewusst, was
ich in Ermangelung der Live-Berichterstattung aus den
Fraktionssitzungen heute nicht mehr weiß, ob es immer noch
die Debatten über die Zulässigkeit der Benutzung von
Dienstfahrzeugen der Fahrbereitschaft des Bundestages zur Anreise
zu Demonstrationen gibt oder ob diese Frage nun ein für alle
mal einvernehmlich entschieden ist. Alles große Themen der
damaligen Gründerjahre einer grünen Parlamentsfraktion.
Also, meine Damen und Herren, sie werden bei dieser
Materialsammlung verstehen, dass ich es schon als ziemliche
Härte empfinde, nur ein Grußwort, nicht aber eine
fundierte Analyse vom unaufhaltsamen Aufstieg der Grünen im
Kontext des deutschen Parlamentarismus vortragen zu
dürfen.
Die heutige Veranstaltung findet nicht im Fraktionssaal der
Grünen statt, auch nicht in der Bundesgeschäftsstelle,
sondern im Goya-Club. Das war früher mal ein ebenso
renommiertes wie alternatives Theater, hätte sich damals
besonders gut für eine solche Veranstaltung geeignet, wurde
dann mit erheblichem Aufwand umgebaut und sollte nach den
Erläuterungen des Manager-Magazins - ausgerechnet des
Manager-Magazins! - "...der exklusivste Nachtclub der Hauptstadt
werden, mehr noch, das angesagteste Etablissement der ganzen
Republik." Das hat dann nicht ganz so geklappt. Jedenfalls habe ich
mich gefragt, wie wohl die Reaktion in der Grünen-Fraktion und
in der deutschen Öffentlichkeit gewesen wäre, wenn der
damalige parlamentarische Geschäftsführer Joschka Fischer
in seiner Begabung und Verpflichtung zu Visionen im
Gründungsjahr der Fraktion angekündigt hätte, er
plane unter anderem auch die Feierlichkeiten zum 25jährigen
Bestehen, und er habe sich zu diesem Zweck eine gediegene,
größere Veranstaltung vorgestellt, die im
unnachsichtigen Kampf gegen das Kapital im Goya-Club in Berlin nach
vollzogener Wiedervereinigung stattfinden sollte. Im Übrigen
spiele er mit dem Gedanken, zu dieser Veranstaltung notfalls auch
einen der Union angehörigen Parlamentspräsidenten als
Ehrengast einzuladen, den er im damaligen Tagesgeschäft
vorzugsweise als "Armleuchter" - mit Verlaub - zu bezeichnen
pflegte. Wir hätten das alle miteinander für eines dieser
berüchtigten, satirischen Kabinettstückchen gehalten, mit
denen er uns damals - nicht immer - aber doch immer wieder
fraktionsübergreifend viel Freude gemacht hat.
Und da er heute Abend ja glücklicherweise dabei ist und
manches nachher, wenn schon nicht korrigieren, so doch
präzisieren kann, will ich ihm noch eine wichtige
Veränderung mitteilen, die jedenfalls nach seinem Ausscheiden
aus dem Bundestag eingetreten ist. Für die Anfangsjahre der
Grünen, des grünen Wirkens im deutschen Parlament,
erklärt Joschka Fischer in einem Interview im Pflasterstrand
vom April 1983:
"Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die
teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt. Je länger die
Sitzung dauert, desto intensiver."
Lieber Joschka, das ist definitiv besser geworden. Jedenfalls
stinkt es nicht mehr so, was vielleicht auch damit
zusammenhängt, dass Holundersekt nicht den penetranten Geruch
entwickelt, der früher von dir in Sitzungen des Deutschen
Bundestages beobachtet worden ist.
Meine Damen und Herren, verehrte alternative Kolleginnen und
Kollegen, sage irgendeiner, in diesen 25 Jahren habe sich die
Republik nicht verändert. Sie hat sich verändert, ganz
offenkundig, und die Grünen insbesondere. Das eröffnet -
wie ich finde - für beide die schönsten Prognosen
für die Zukunft: Für die Grünen wie für das
Parlament. Und zu beidem gratuliere ich herzlich.