Der CDU-Verteidigungspolitiker Karl A. Lamers vertritt Deutschland seit 1997 in der Parlamentarischen Versammlung der Nato. Als überzeugter Transatlantiker ist er sich sicher: Nach 60 Jahren Nato ist das Bündnis wichtiger denn je.
Als am 20. Januar die ganze Welt eine Party feierte und nach Washington blickte, saß Karl Lamers in seinem Hotelzimmer und telefonierte. Als einziger deutscher Abgeordneter war Lamers bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten eingeladen, war dabei, als Barack Obama den Amtseid als 44. Präsident der USA ablegte und auf den Stufen des Kapitols seine erste Rede als Präsident hielt. „Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind ernsthaft, und sie sind zahlreich”, sagte Obama. „Sie werden nicht leicht oder kurzfristig zu meistern sein. Aber wisse, Amerika: Wir werden sie meistern.” Natürlich erinnert sich Lamers gut an diese Worte, die um die Welt gingen. „Das waren emotional bewegende Momente”, sagt er heute. In mehreren Telefoninterviews ließ er im Januar deutsche Radiohörer an dem geschichtsträchtigen Tag teilhaben.
Wenn Karl Lamers Geschichten wie diese erzählt, hält die weite Welt Einzug in sein enges Abgeordnetenbüro im sechsten Stock des Paul-Löbe-Hauses. Wie eine Mischung aus Ideenschmiede und Organisationszentrale wirkt sein Bundestagsbüro. Auf den prallgefüllten Schreibtischen der Mitarbeiter ist eine Espressomaschine gequetscht. Ein Bild mit Ban Ki-moon erinnert an das halbstündige Treffen mit dem UN-Generalsekretär in New York. Rote Nadeln auf einer Weltkarte zeugen von Lamers Reisen – von Taiwan bis Washington. „Ach Taiwan”, sagt Lamers, auch da sei er erst vergangenes Jahr gewesen, auch da zur Amtseinführung eines Präsidenten. „Ich kenne ihn aus meinen Tagen bei der Jungen Union, da war er zu Gast in Deutschland”, erinnert sich Lamers an Ma Ying-jeou, damals ein junger Politiker der Kuomintang, der Chinesischen Nationalpartei in Taiwan.
Lamers, das zeigt also schon die Ankunft in seinem Büro, ist in der Welt bestens vernetzt. Wahrscheinlich sitzt kaum ein Mitglied des Bundestages in mehr Parlamenten und Ausschüssen als der 58-jährige Abgeordnete aus Heidelberg. Im Bundestag ist Lamers stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und stellvertretendes Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Weitere Verpflichtungen bringt der Job als Vorsitzender des Politischen Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung (PV) der Nato mit sich und der als Leiter der Deutschen Delegation zur Nato-PV.
Funktionen sind das, die Lamers zum idealen Gesprächspartner für eine Diskussion über die Zukunft der Nato machen, des transatlantischen Bündnisses, das am 4. April seinen 60. Geburtstag feierte; für eine Unterhaltung, die trotz des engen Büroraums von den Stufen des Kapitols in Washington bis in die Bergschluchten des Hindukusch führt.
Sinnsuche lautet der Marschbefehl für die Nato an ihrem Festtag. Über Jahrzehnte war das Bündnis Deutschlands Lebensversicherung. Heute aber liefert kein klarer Feind mehr den klaren Auftrag. Daher konnten die Staats- und Regierungschefs der 26 Nato-Mitglieder, die Anfang April zu den Feierlichkeiten in Straßburg, Kehl und Baden-Baden zusammenkamen, nicht allein auf eine erfolgreiche Vergangenheit blicken. Sie müssen weiterhin klären, wofür das Bündnis in Zukunft stehen soll. Einerseits wie bisher für Landes- und Bündnisverteidigung, auf der anderen Seite muss sich die Nato auf neue Bedrohungen wie internationaler Terrorismus, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Klimawandel einstellen. Dabei muss sich die Nato Gedanken machen über eine enge Zusammenarbeit mit Staaten wie Australien, Japan und Neuseeland, die sich zu den gleichen Werten bekennen.
Lamers betrachtet diese Debatte weniger unter geografischen Gesichtspunkten, auch weil die Frage nach dem Einsatzgebiet der Nato im Grunde entschieden ist. Bereits heute stehen 80.000 Soldaten des Bündnisses in Missionen – und zwar vom Kosovo bis nach Kandahar. Bereits heute lassen sich Konflikte nicht mehr an den Grenzen von Nationalstaaten festmachen. Vom Krieg im Weltraum bis zu den handgebastelten Bomben von Terroristen reicht die Bedrohung. Nach Ansicht Lamers′ leiten sich Auftrag und Sinn der Nato im 21. Jahrhundert daher von den Werten und Überzeugungen ab, die das Bündnis verteidigt. „Es geht darum, wofür wir einstehen”, sagt er. „Die Nato vertritt Werte, die alle Bündnispartner einen.” Der erste Krieg, in den die Nato zog, zeigt beispielhaft, von welchen Werten die Rede ist. Bei ihrem ersten Einsatz außerhalb des Bündnisgebietes griffen Nato-Truppen 1999 in Serbien ein, um ethnische Säuberungen an den Kosovo-Albanern zu stoppen.
Fast lässt sich sagen, Lamers hat darauf studiert, sich mit Fragen wie diesen auseinanderzusetzen. Der Jurist promovierte in Münster mit einer Studie über das Wahlrecht in den Staaten der EG. Später wechselte er zum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht nach Heidelberg und kam somit an den Ort, den er heute im Bundestag vertritt. Schon in der Jungen Union war Außenpolitik sein Steckenpferd, als „Außenminister der JU” bezeichneten ihn damals viele.
Lamers ist ein Politiker, wie es ihn heute nur noch selten gibt. Verwurzelt in seiner Heimat Heidelberg, aber in der Welt zu Hause. Einer, der die Sorgen im Wahlkreis mit Debatten über den Atlantik hinweg vereinbaren kann, das Heringsessen in Heddesheim am politischen Aschermittwoch mit dem Besuch der Amtseinführung Obamas, die Autogrammstunde an der Grundschule Rippenweiler mit Gesprächen am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, etwa mit dem neuen US-Vizepräsidenten Joe Biden, das ganz Kleine eben mit dem ganz Großen. „Er kennt die Familie Kennedy und Bill Clinton”, sagt Bernd Siebert, ebenfalls ein versierter Verteidigungsexperte der CDU und zudem Lamers Freund seit gemeinsamen JU-Tagen. Ein bisschen Bewunderung schwingt da mit. „Gestern Gesangsverein, heute Washington”, fasst Lamers sein politisches Leben selbst zusammen – schmunzelnd.
Prägend ist die Beschäftigung mit Afghanistan. Der Ort, von dem die Terrorgruppe Al Kaida ihre Attentate für den 11. September 2001 plante. Das Land, in dem die Bundeswehr mit bald 4.500 Soldaten in ihrem gefährlichsten Auslandseinsatz steht. Ein Name, längst zur Chiffre für die Fähigkeit der Nato geworden, als Bündnis auch unter schwierigen Umständen zusammenzuhalten.
Vor über zwanzig Jahren musste hier die Sowjetunion ihr Scheitern eingestehen, heute ist die Nato weit von einem Erfolg entfernt. Präsident Hamid Karzai beherrscht wichtige Teile des Landes nicht – und die rund 60.000 internationalen Soldaten sind zu wenig, um das große Gebiet dauerhaft zu befrieden. Das Ergebnis: Während Hochglanzbroschüren der Regierungen und Internetseiten der Nichtregierungsorganisationen von der Reichweite des Mobilfunks erzählen und von der wachsenden Zahl der Mädchen, die nun zur Schule gehen können, sind ganze Landstriche im Süden oder an der pakistanischen Grenze weiterhin Kriegsgebiet. Wenn US-Präsident Obama jetzt moderaten Taliban ein Gesprächsangebot macht, ist das auch ein Eingeständnis, dass das Militär an seine Grenzen kommt.
Lamers leugnet diese Schwierigkeiten nicht, sieht darin aber eher einen Beleg für den Sinn der Mission. „Ich möchte, dass in Afghanistan nie wieder Terror produziert und von dort exportiert wird”, sagt er. So versucht er, auch die Menschen in seinem Wahlkreis von dem Einsatz zu überzeugen. Lamers mahnt, die Ziele nicht zu hoch zu hängen. Eine Demokratie wie in Berlin oder Washington werde die Nato nicht an den Hindukusch verpflanzen können. Aber einen Staat, der mit eigenen Soldaten und Polizisten selbst dafür sorgen kann, dass seine Gebirgsregionen nicht mehr Brutstätte für Terroristen werden, das sei ein Ziel, für das es sich zu streiten lohne. „Wenn Afghanistan selbst für seine Sicherheit sorgen kann, können wir abziehen”, fasst Lamers diese „Exit-Strategie” zusammen. Der Zeitrahmen für dieses „nation building”, den Aufbau staatlicher Strukturen von Grund auf, ist dabei wohl eher in Jahren als in Monaten zu messen. Das weiß auch Lamers, aber öffentlich mag er nicht über ein Abzugsdatum spekulieren.
Die Parlamentarische Versammlung der Nato, kurz PV genannt, ist das natürliche Forum für diese Debatten. Das Gremium besteht seit 1955. Mit Vertretern aus den Parlamenten der Mitgliedsländer ist sie eine Art euroatlantisches Parlament, in dem Abgeordnete aus Europa mit ihren Kollegen aus den USA diskutieren, zudem eine Art Bindeglied zwischen den nationalen Parlamenten und der Nato. Von den 248 Mitgliedern stammen zwölf aus dem deutschen Bundestag und sechs aus dem Bundesrat. Die PV hat keine eigenen Entscheidungsbefugnisse, aber sie ist ein wichtiger Gradmesser für die Stimmung in den Mitgliedsstaaten. Oft wird der Versammlung daher ein „Mauerblümchendasein” bescheinigt, eine Einschätzung, die Lamers nicht teilt. „Die Nato-PV hat nicht die Befugnisse eines nationalen Parlaments”, sagt er, „aber ungeheure psychologische Bedeutung.”
Wirklich Schlagzeilen machen ihre Zusammenkünfte nur selten. Im November 2006 etwa war dies der Fall, als im kanadischen Quebec britische und kanadische Parlamentarier ihre deutschen Kollegen scharf angriffen, wegen der Beschränkungen, die Deutschland der Bundeswehr in Afghanistan auferlegt hat. „Was gab es damals für Missverständnisse! Die meisten unserer Verbündeten wussten gar nicht genau, was die Bundeswehr in Afghanistan alles leistet”, sagt er. Schon 2003, als sich der Irakkrieg abzeichnete, seien diese Unterhaltungen „extrem hilfreich” gewesen. Das Amerika George W. Bushs spaltete den Kontinent zeitweise erfolgreich in ein „altes” und ein „neues” Europa. Während zwischen den Hauptstädten in Europa und den USA Funkstille herrschte, „haben wir noch gesprochen”, erinnert sich Lamers.
Freunde wie der politische Gegner bescheinigen Lamers die Fähigkeit, mit Fleiß und Geduld verschiedene Meinungen zusammenzufassen. Eine Gelegenheit, dies zu beweisen, war der sogenannte Kurnaz-Untersuchungsausschuss. Lamers war Vorsitzender dieses Gremiums, das aufklären sollte, ob zwei Soldaten der KSK-Elitetruppe der Bundeswehr den aus Bremen stammenden Türken Murat Kurnaz in einem Lager in Afghanistan mit Schlägen misshandelt hatten. „Als Vorsitzender war er sehr gut vorbereitet, hat sich sehr kooperativ verhalten und die Rechte des Parlaments gewahrt”, sagt Rainer Stinner, Verteidigungsexperte der FDP und somit im Untersuchungsausschuss eigentlich aufseiten der Opposition.
Die Vorwürfe gegen die Bundeswehr konnten weder bestätigt noch widerlegt werden. Wie die Staatsanwaltschaft in Ulm, die in dieser Sache zweimal ermittelt hatte, kam auch der Ausschuss im September 2008 zu diesem Ergebnis. Für Lamers war dies eine schwierige Zeit. Auf der einen Seite fand er Kurnaz′ Aussagen „authentisch”, andererseits mochte er sich nicht vorstellen, dass an den Vorwürfen etwas dran war. Heute sagt er über den Ausschuss: „Es ist gut, dass wir das gemacht haben.” Das Parlament machte deutlich, dass auch die Arbeit der Spezialkräfte der Bundeswehr nicht ohne Kontrolle ablaufen kann.
Kein schlechtes Ergebnis für einen wie Karl Lamers, einen Verteidigungspolitiker aus Überzeugung, einen Parlamentarier aus Leidenschaft.
Text: Peter Müller
Erschienen am 5. Mai 2009
Karl A. Lamers, wurde 1951 in Duisburg geboren. Seit 1994 gehört der promovierte Jurist dem Deutschen Bundestag an. Sein Feld ist die Außen- und Sicherheitspolitik: Er ist stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und vertritt den Bundestag als Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der Nato. Seit 2008 ist Lamers Präsident der Atlantic Treaty Association, des Dachverbandes aller Atlantischen Gesellschaften weltweit.
E-Mail:
karl-a.lamers@bundestag.de
WWW:
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