Mit geschlossenen Augen ertasten sie das Parlament. Zwei Dutzend
Händepaare befühlen Wände und Giebel, wandern
über das Dach und die Statuen darauf. Die Miniaturausgabe des
Reichstagsgebäudes ist eigentlich für Blinde gedacht. Der
vierten Klasse der St.-Paulus-Grundschule in Berlin-Tiergarten
verschafft sie zum Anfang ihrer Tour durch das Parlament aber einen
guten Überblick.
Es ist Kindertag, und im Bundestag herrscht die Akustik von drei
Grundschulen und vier Freibädern gleichzeitig. Mehr als
eintausend Kinder sind an diesem 6. Oktober zu Gast im Parlament.
Die Führungen sind speziell für 6- bis 14-Jährige
konzipiert. Vier Kindertage pro Jahr gibt es – und der
Andrang ist groß.
Klara notiert das Wichtigste auf dem Klemmbrett. Zahl der
Abgeordneten: 612. Höhe der Kuppel: 50 Meter. Sitze im
Plenarsaal: blau. Michael Kresin vom Besucherdienst nimmt Klara und
ihre Klasse mit auf eine Geschichtsreise. Er zeigt Graffiti
russischer Soldaten, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs zeugen.
Die Schüler machen Handyfotos, und eine Lehrerin,des
Russischen mächtig, übersetzt die kyrillische
Schrift.
Nächste Station ist der Andachtsraum, die Klasse stürmt
ihn wie einen Schulbus. Trotz ihrer multikulturellen Anmutung sind
alle Kinder der St.-Paulus- Schule getauft. Thy, deren Eltern aus
Vietnam kommen. Leonard, dessen Vater im Kongo geboren wurde. Und
Winfried, halb Serbe, halb Russe. Routiniert erkundigen sie sich,
wo das Weihwasser steht und ob hier auch geheiratet wird. Das
nicht, erläutert der Besucherführer, dafür
könnten aber ganz verschiedene Religionen den Andachtsraum
nutzen. Eine Steinkante weist nach Mekka, die Orgel steht auch
für den jüdischen Gottesdienst bereit. Ein
Neunjähriger weist sich als Kunstkenner aus und identifiziert
den Künstler Günther Uecker als Gestalter des
Andachtsraums.
Beim Stand der Kinderkommission (KiKo) informiert sich die Klasse
über die Rechte von Kindern. Die KiKo-Vorsitzende Diana Golze
(Die Linke) betont die Bedeutung des Kindertages. „Kinder
begreifen dieses Haus und seine Bedeutung ganz anders als die
Großen. Für sie ist zum Beispiel wichtig, wie schwer der
Adler im Plenarsaal ist oder wie man sich so einen Tag als
Politiker praktisch vorstellen muss.”
Auf der Besuchertribüne schreibt Klara auf, dass der Adler
eine fette Henne ist und doppelt so hoch wie ein
Drei-Meter-Sprungturm. Ein Mitschüler fragt, ob man sich auch
selbst wählen kann. Eine andere erkundigt sich, ob
Besucherführer Kresin auch dort unten bei den Fraktionen
säße. „Da dürfen nur Abgeordnete rein.”
Ob er einer werden wolle? Kresin grinst und winkt mit Hinweis auf
die langen Arbeitszeiten ab. Klara notiert: 60- bis
70-Stunden-Woche. Dann ist der Schreibblock voll, und der Kindertag
geht zu Ende.
Text: Lydia Harder
Erschienen am 19. November 2008
Zum Kindertag
Für Schulklassen und Jugendgruppen wird eine frühzeitige
Anmeldung empfohlen: per Post: Deutscher
Bundestag, Besucherdienst, Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
per Fax: (0 30) 2 27-3 00 27, per
E-Mail:
besucherdienst@bundestag.de
Termine für die Kindertage 2009: 2. März, 8. Juni, 14.
September, 30. November.