Als Pierre Charles L′Enfant zum ersten Mal den Jenkins Hill sah, wusste er sogleich, was er vor sich hatte: „Das ist ein Sockel, der auf ein Denkmal wartet.” Und so, wie es sich der Chefplaner der amerikanischen Hauptstadt Washington vorgestellt hatte, sollte es kommen. Seit mehr als 200 Jahren können Amerika und die Welt auf dem kleinen Hügel, der heute Capitol Hill heißt, ein monumentales Denkmal betrachten, das zugleich ein lebendiges Zeugnis der amerikanischen Geschichte und Demokratie ist: den Kongress.
Das neoklassizistische Kapitolsgebäude beherbergt nicht nur beide Kammern des amerikanischen Parlaments, den Senat und das Repräsentantenhaus. Sondern auch 540 Säle und Amtszimmer, dazu eine schon 1909 eröffnete U-Bahn, die das Kapitol mit den Bürogebäuden des Kongresses verbindet.
Während des Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 kampierten Truppen der Union in einigen Flügeln des Kapitols, was dem Kongress nach der britischen von 1814 prompt eine weitere Invasion einbrachte: von Läusen. Schon einige Jahre zuvor war der Schriftsteller Charles Dickens entsetzt von der mangelnden Reinlichkeit der Senatoren. Obwohl an jedem Schreibtisch ein Spucknapf bereitstand, spottete der Teppich jeder Beschreibung. Wer immer etwas fallen lasse, selbst wenn es die prall gefüllte Geldbörse sein mochte, solle es „unter keinen Umständen ohne Handschuhe aufheben”, warnte Dickens. Auch Mark Twain hatte keine hohe Meinung von den Volksvertretern. „Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Idiot”, schrieb er. „Und stellen Sie sich weiter vor, Sie seien ein Kongressmitglied”, fuhr er fort, ehe er sich selbst ins Wort fiel: „Aber ich wiederhole mich.”
Selbstredend haben die Kongressmit glieder eine höhere Meinung von sich selbst. Wenn hundert Senatoren morgens in den Spiegel schauten, so heißt es, dann erblickten sie hundert künftige Präsidenten. Bei den 435 Abgeordneten im „House” wird es kaum anders sein. Tatsächlich ist die Konkurrenz zwischen dem Kongress am östlichen und dem Weißen Haus am westlichen Ende der Pennsylvania Avenue so alt und so gesund wie die amerikanische Demokratie selbst. Wer zum ersten Mal vor dem Amtssitz des Präsidenten steht, stellt überrascht fest, dass das Weiße Haus in Wirklichkeit viel kleiner ist, als es im Fernsehen scheint. Dagegen ist das Kapitol tatsächlich so erhaben, wie es ein Bild nur einzufangen vermag. Deshalb huldigen die Abgeordneten dem Präsidenten nur einmal im Jahr, nämlich wenn der bei einer feierlichen Sitzung beider Kammern in seiner „State of the Union Address” die Lage der Nation beleuchtet. An den übrigen 364 Tagen überschütten sie ihn nicht mit Beifall, sondern machen ihm das Regieren schwer. Dass der Kongress eigentlich immer in der Opposition ist, selbst wenn seine Mehrheit der gleichen Partei angehört wie der Präsident, mag die beträchtliche Machtfülle des Mannes im Weißen Haus einschränken. Die Macht des Souveräns aber – des amerikanischen Volkes – findet in diesem System der „checks and balances” seinen klarsten Ausdruck. Auch deshalb ist das Kapitol so groß. Und so schön.
Die beiden Kammern im Internet:
Text: Matthias Rüb,
Washington
Erschienen am 5. Mai 2009