Jedes Jahr kommen 350 amerikanische Stipendiaten mit dem Parlamentarischen Patenschafts-Programm nach Deutschland. Wie Terrell, der die Toleranz der Berliner schätzt und Diplomat werden will. Und Kelly, die im Wedding zur Schule geht und die Falafel ihres türkischen Gastvaters liebt.
Das Erste, was Terrell Levine in der Schule über Deutschland erfuhr, war nichts Gutes: Sechs Millionen Juden wurden systematisch ermordet. Das war alles, mehr wurde über Deutschland nicht erzählt. Die Nazivergangenheit ist oft das Einzige, woran amerikanische Schüler denken, wenn sie den Namen Deutschland hören. Auch heute noch. Terrell Levine aus New Jersey, Sohn eines Juden und einer Katholikin, wollte trotzdem Deutsch lernen. Die Welt interessierte ihn, die ganze Welt. Schon mit zwölf Jahren hat er Safari-Trips durch die Wildnis von Südafrika gemacht. Oft begleitete er seinen Vater, Präsident einer internationalen PR-Agentur, nach Europa, Lateinamerika und Australien. Nach dem Schulabschluss studierte er Internationale Beziehungen und Philosophie in Boston und arbeitete für einen Thinktank in Washington.
Seine Kommilitonen machten Reisen und Austauschsemester in Spanien, Frankreich, Italien. „Alles außer Deutschland”, sagt Terrell. Er aber ging mit dem Parlamentarischen Patenschafts- Programm (PPP) des Deutschen Bundestages nach Berlin. Das war im vergangenen Sommer, mitten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Terrell stimmte per E-Mail ab und verfolgte die Wahlen auf Großleinwand im Amerikahaus am Zoologischen Garten. Er erlebte die Euphorie der Deutschen über den Sieg Obamas. Der 24-Jährige schätzt die Freundlichkeit und die Offenheit der Leute hier. Und sportlich seien sie: „Die halbe Stadt schwingt sich aufs Fahrrad oder joggt durch die Parks.” Ihm gefällt der Familiensinn der jungen Deutschen, die viel Zeit mit ihren Eltern verbringen und gemeinsam in den Urlaub fahren. „Die meisten Deutschen, die ich getroffen habe, waren extrem freundlich und aufrichtig.” Der schmale, dunkelhaarige Mann wohnt bei einer alten Dame im südlichen Stadtteil Lichtenrade. In seiner Freizeit hört er gerne klassische Musik, gerade auch von deutschen Komponisten, und besucht die Oper.
Im Willy-Brandt-Haus lernte Terrell seinen Paten im Austauschprogramm kennen, den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse. Seinen amerikanischen Paten, den Kongressabgeordneten aus New Jersey, unterrichtet er regelmäßig über den Stand der Dinge. 350 Stipendiaten kommen jedes Jahr aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland. Der Großteil geht hier zur Schule, die Älteren studieren oder machen Praktika. Terrell ist Student und Mitarbeiter der Freien Universität. Dort forscht er über die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Im Bundestag hat er vor anderen Stipendiaten, Vertretern des Bundestages und der amerikanischen Botschaft eine Abschlusspräsentation gehalten. Im August geht Terrell nach Indien, in die Stadt Ahmedabad nahe der Arabischen See, unweit der pakistanischen Grenze. Dort wird er zwei Jahre lang bei der NGO Indicorps arbeiten. Die neutrale, parteiunabhängige Plattform soll Inder in aller Welt dazu befähigen, an der politischen Entwicklung in ihrem Land Anteil zu nehmen und an seiner Fortentwicklung mitzuwirken. Sein Hindi ist zwar im Moment ausbaufähig. Aber das wird er bald ändern – und wieder in eine neue Welt eintauchen. Später möchte Terrell eine Laufbahn im diplomatischen Dienst der Vereinigten Staaten einschlagen.
Die ersten deutschen Erfahrungen von Kelly Hill waren ziemlich amerikanisch. In Landstuhl betreibt das US-Militär sein größtes Medizinzentrum außerhalb des eigenen Landes. Mister Hill war dort Physiotherapeut. Er lernte eine junge Amerikanerin kennen, die den GIs Deutschunterricht gab. Sie heirateten, und dann kam Kelly. Ihre wenigen Erinnerungen an die Kindheit in Landstuhl bestehen aus amerikanischen Fastfood-Ketten und amerikanischen Freunden im Kindergarten. Als sie sieben Jahre alt war, kehrte die Familie in die Staaten zurück. Erst wohnten sie in Montana, dann in Florida, schließlich landeten sie in New York. Dort machte Kelly ihren Schulabschluss.
„Meine Mutter hat mich überredet, in der Schule Deutsch zu lernen”, sagt die 18-Jährige in akzentfreiem Deutsch. Im Sommer 2008 kam sie mit dem Austauschprogramm des Bundestages nach Deutschland. Sie zog bei einer Gastfamilie im Wedding ein. Bei der ersten Fahrt dahin wunderte sie sich über das orientalische Straßenbild aus türkischen Imbissen und arabischen Internetcafés. Es wurde zum Alltag. Kellys Gastvater ist türkischer Kurde. Er leitet eine Weiterbildungsschule, seine Frau ist Deutsche, ein Beispiel für gelungene Integration. Als Kelly noch in New York wohnte und einem deutschen Austauschschüler einen Brief ihrer Gastfamilie zeigte, erlebte sie eine irritierende Reaktion. Der Deutsche sagte, es sei gut, dass der Türke beruflich erfolgreich sei, denn dann hätte er es wohl nicht auf das Geld von Kellys Familie abgesehen. Hier in Deutschland hat sie die angenehmen Seiten der deutsch-türkischen Völkerverständigung mitbekommen. Zu Hause werden Hummus, Falafel und süßes Baklava aufgetischt. Oft ist ein bunt gemischter Freundeskreis zu Besuch.
Kelly besucht hier die elfte Klasse eines Gymnasiums. Sie hat zwar schon einen Abschluss, aber nun lernt sie Vokabeln wie „Zellteilung” oder „Koalitionsvertrag”. Sie hat verschiedene Städte besichtigt und in Bonn den Schreibtisch Adenauers gesehen. Ihr Ansprechpartner im Bundestag ist der SPD-Abgeordnete aus Berlin-Mitte, Jörg-Otto Spiller. Er hat ihr das Parlament gezeigt und erkundigt sich gelegentlich, wie das Austauschjahr verläuft. Kelly ist zufrieden, abgesehen vom Heimweh. Und sie musste sich erst daran gewöhnen, so viel Freizeit zu haben. Die amerikanischen Highschools beschäftigen die Schüler mit Freizeitaktivitäten wie Sport oder Musik bis in den späten Nachmittag. Zum Geigespielen besucht Kelly hier eine Musikschule. Mit dem Jugendorchester hat sie schon in der Berliner Philharmonie gespielt, Simon Rattle dirigierte. Als sie sich für das Austauschprogramm nach Deutschland bewarb, kamen schon ein paar skeptische Reaktionen von Mitschülern. Das Nazistigma haftet den Deutschen immer noch an. „Aber es wird besser”, versichert Kelly. Deutsche Produkte sind in Amerika beliebt, Sportmarken etwa, Puma und Adidas. New Yorker schwärmen für Berlin. Und noch etwas aus Deutschland hat laut Kelly inzwischen zahlreiche amerikanische Anhänger: die Magdeburger Teenieband Tokio Hotel.
Das Parlamentarische Patenschafts-Programm (PPP) ist ein deutschamerikanischer Jugendaustausch des Deutschen Bundestages und des Kongresses der USA. Jährlich werden jeweils etwa 350 Stipendiaten nach Deutschland und nach Amerika geschickt. Zum 25-jährigen Bestehen des Programms gab es am 29. Mai 2009 eine Debatte im Bundestag. Infos zum Programm unter
Text: Lydia Harder
Erschienen am 29. Juni
2009