War die Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika ein Genozid? Warum leugnen die Türken bis heute den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges? Handelte es sich bei der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg um einen Genozid? Steht die Errichtung eines "Zentrums gegen Vertreibungen" für den Versuch, ähnliche Gedenk-Rituale zu etablieren wie es bei der öffentlichen Erinnerung an den Holocaust längst der Fall ist? Was macht überhaupt einen Genozid aus? Welche Merkmale müssen ihm zugrunde liegen?
Antworten auf diese brisanten Fragen erhält der Leser bei der Lektüre der Studie des renommierten Historikers Wolfgang Benz, Professor an der TU Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Der Fachmann für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Holocaust scheut sich nicht, dort klar Position zu beziehen, wo viele seiner Kollegen lieber schweigen: Denn seit dem so genannten "Historikerstreit" fürchtet manch einer, in die falsche Ecke gestellt zu werden. Mehr noch: Diese allzu ideologisch geführte Debatte trug nicht unwesentlich dazu bei, dass die vergleichende Genozidforschung in Deutschland erst ein Jahrzehnt später Fuß fassen konnte.
Für seine Arbeit wählte Wolfgang Benz neun dunkle Kapitel der Weltgeschichte aus: In einer gut lesbaren und präzisen Sprache erläutert er die Ursachen, Erscheinungsformen, Entwicklungen und Folgen "ethnischer Säuberungen", von Rassenkrieg, Vertreibung und Völkermord/Genozid. Dabei geht der Autor immer davon aus, dass es sich bei den Ereignissen um einmalige und spezifische Vorkommnisse handelte. Zugleich macht er den Leser nicht nur mit dem Stand der internationalen Genozidforschung vertraut, sondern er kommentiert auch die aktuelle Diskussion in Deutschland. Unaufgeregt, sachlich und fern von politischem Kalkül stellt sich Benz allein in den Dienst der Geschichtswissenschaft, um die Frage zu beantworten: "Wie ist es gewesen?".
Zu Recht weist der Historiker darauf hin, dass kein anderes Thema "von Vorurteilen und Feindbildern" so stark beeinflusst ist wie die Ausgrenzung von Minderheiten, deren Vertreibung, Deportation und Ermordung. Als aktuelles "Lehrstück" nennt er den Völkermord an den Armeniern in der Türkei und verweist dabei auf die "Perspektive türkischer Patrioten, die ihre Ehre tangiert sehen, wenn die historische Tatsache erwähnt wird". Wie bereits seine Kollegen Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler oder der Publizist Henryk M. Broder stellt auch Wolfgang Benz eine direkte Verbindung her zwischen dem Stand der Demokratisierung eines möglichen EU-Mitglieds Türkei und der Anerkennung des Völkermordes. Denn die Erinnerung an genozidales Geschehen oder seine Leugnung seien "zentrale Indizien für das Demokratiepotenzial in Täter- wie Opfergesellschaften".
Wolfgang Benz: Ausgrenzung. Vertreibung. Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2006; 190 S., 10 Euro.