Georges Arthur Goldschmidt, der aus Reinbek bei Hamburg stammende Schriftsteller und Übersetzer, sieht sich nicht als "Überlebender" des Holocaust. Im Gespräch mit Martin Doerry definiert er diesen Begriff so, wie ihn viele jüdische Emigranten seiner Generation verstehen: "Überlebende sind nur diejenigen, die aus dem Tor eines KZs heraustreten konnten." Das Buch "Nirgendwo und überall zu Haus" lässt die untergegangene Welt des europäischen Judentums wieder lebendig werden: In 24 beeindruckenden Interviews spricht der stellvertretende "Spiegel"-Chefredakteur Martin Doerry mit Juden, die eine Inhaftierung in nationalsozialistischen Konzentrationslagern überlebten, sich jahrelang verstecken mussten, emigrierten oder mit den Kindertransporten flüchten konnten. Aharon Appelfeld, Peter Gay, Heinz Berggruen, Ruth Klüger, Arno Lustiger, Saul Friedländer und viele weitere legen Zeugnis ab über ihre Geschichte und ihr Verhältnis zu Deutschland. Die Fotos von Monika Zucht sind ein sehr schönes Detail des Buches, das dem Leser die Möglichkeit bietet, in die Gesichter der Menschen zu schauen, die auf ihr bewegtes Leben zurückblicken.
Theodor W. Adorno schrieb 1944 in "Minima Moralia", dass "das Vorleben des Emigranten bekanntlich annulliert wird". Auf besondere Art und Weise ist es Martin Doerry, der 2002 im viel beachteten Buch "Mein verwundetes Herz" das Leben seiner in Au-schwitz ermordeten Großmutter erzählte, gelungen, gegen diese Aussage Adornos anzuschreiben. Und es ist erstaunlich, dass in fast allen Interviews die Themen Muttersprache, Heimat, Israel, Familie oder Rückkehr nach Deutschland neben anderen eine exponierte Rolle spielen, trotz sehr unterschiedlicher Gesprächsverläufe und erzählter Begebenheiten.
Immer wieder werden Identität und Religion beziehungsweise die Bedeutung des Judentums für den Einzelnen thematisiert und es wird deutlich, dass bei einem Großteil der Befragten das Judentum keinen besonderen Einfluss hatte. "Die Identität soll nie von dem Finger auferlegt werden, der auf einen zeigt", sagt Alfred Grosser im Gespräch mit Martin Doerry. Doch genau so beschreiben es einige andere der Befragten. Besonders die deutschen Juden, die in großen Teilen während des Ersten Weltkriegs sehr patriotisch gesinnt waren, fühlten sich aus der bürgerlich-säkularen Welt ausgestoßen und mussten sich die ihnen vorgehaltene jüdisch-religiöse Welt unter Zwang aneignen. Darüber hinaus ist ein verbindendes Element praktisch aller Interviewpartner eine milde, fast abgeklärte Sicht auf die Deutschen, die gleichzeitig mit großer Hoffnung an das Gute verbunden ist. Rache, Hass und der Begriff der Kollektivschuld haben in den Gedanken der meisten Befragten keinen Platz.
Wenn sich überhaupt etwas kritisch anmerken lässt zu dieser Publikation, dann ist es die Tatsache, dass es vier Interviews enthält, die vor der Idee des Buches mit zum Teil anderen thematischen Voraussetzungen entstanden sind, was man ihnen im Vergleich mit den anderen Interviews anmerkt und die Stringenz aufweicht. Darüber hinaus wäre es interessant gewesen, wenn das Buch bei der Auswahl der Gesprächspartner eine strengere Systematik verfolgt hätte mit einer weiteren Streuung der Berufsgruppen - die Literaten überwiegen deutlich - und einer Ergänzung der vertretenen säkularen Sichtweisen durch die von religiösen beziehungsweise jüdisch-orthodoxen Juden.
Im Talmud steht "Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt". Vielleicht kann man diese angedeutete Hoffnung auf die Aussage Ellie Wiesels übertragen, dass "jeder, der heute einem Zeugen zuhört, selbst ein Zeuge werden wird". Dem Buch kann man nur wünschen, dass seine Leser diese Zeugenrolle gern übernehmen und den Überlebenden mit dem Übergang der authentischen Erinnerung in eine erzählte Erinnerung ein würdiges Denkmal bereiten.
Martin Doerry: "Nirgendwo und überall zu Haus". Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Fotografien von Monika Zucht. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006; 264 S., 56 Abb., 39,90 Euro.