Wer in Europa mit der Bahn reist, soll nach dem Willen des Europäischen Parlamentes in Zukunft mehr Rechte gegenüber den Eisenbahngesellschaften haben. Die Abgeordneten beschlossen am 18. Januar in Straßburg, dass die Kunden der europäischen Bahnen bei Verspätung, Unfällen oder einer Beschädigung ihres Gepäcks Anspruch auf Entschädigung haben. Kommt der Zug ein bis zwei Stunden zu spät am Zielort an, muss die Bahn ein Viertel des Fahrpreises erstatten, bei mehr als zwei Stunden die Hälfte. Der Kunde kann verlangen, dass die Entschädigung in bar ausgezahlt wird. Er kann auch eine andere Ausgleichsleistung oder einen Gutschein akzeptieren.
Die neuen Rechte der Bahnkunden sind Teil des "dritten Eisenbahnpaketes", das die EU-Kommission bereits 2004 vorgelegt hatte. Mit den "Eisenbahnpaketen" will sie dafür sorgen, dass die nationalen Schienennetze zu einem einheitlichen, europäischen Eisenbahnnetz zusammenwachsen, auf dem staatliche und private Bahngesellschaften aus allen EU-Staaten ihre Dienste im Wettbewerb anbieten. In Brüssel betrachtet man das als Voraussetzung dafür, dass sich die Bahn im Wettbewerb mit dem Güterverkehr auf der Straße und zu Wasser behaupten kann. Doch Georg Jarzembowski (EVP), der zuständige Berichterstatter des Europaparlamentes, will auch den Personenverkehr liberalisieren: "Die Bürger haben Anspruch auf einen effektiven und preisgünstigen Personenverkehr. Nur so wird der Eisenbahnverkehr eine wettbewerbsfähige Zukunft gegenüber dem Auto und dem Flugzeug haben."
Politisch ist der Wettbewerb auf der Schiene allerdings ein vermintes Gelände. Die Eisenbahn gehört in fast allen Ländern Europas dem Staat, ist wirtschaftlich von Zuschüssen abhängig und traditionell eng mit der Politik vernetzt. Der starke Arm der Eisenbahngewerkschaften reicht bis ins Europäische Parlament. "Das Europa der Schiene bauen wir nur, wenn die Eisenbahner mitmachen", warnte der sozialistische Abgeordnete Gilles Savary (PSE) in der Debatte. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, "dass hier eine Art Bürgerkrieg zwischen den Eisenbahngesellschaften organisiert wird".
Bei der Öffnung der Schienennetze für den Wettbewerb geht die Kommission deswegen schrittweise und mit äußerster Vorsicht vor. Im grenzüberschreitenden Güterverkehr gibt es den Wettbewerb bereits seit 2001. Inzwischen haben Güterzüge aus anderen EU-Staaten auch das Recht, Binnentransporte zu übernehmen. Die Eisenbahngesellschaften müssen für das Schienennetz getrennte Bücher führen und die Züge der Konkurrenz zu den gleichen Bedingungen auf ihren Schienen fahren lassen wie die eigenen.
Soweit die Theorie. In der Praxis wird die Konkurrenz weiter nach allen Regeln der Kunst behindert. 90 Prozent der Güter auf der Schiene werden weiter von den Ex-Monopolisten befördert. Ein wichtiger Grund dafür, dass die nationalen Schienennetze nur langsam zusammen wachsen, sind auch unterschiedliche technische Voraussetzungen wie Stromsysteme oder Sicherheitsvorschriften. Sie machen den europaweiten Einsatz von Lokomotiven und Waggons oft unmöglich. Einschließlich der Schweiz gibt es beispielsweise 15 unterschiedliche Signalsysteme in Europa.
Umstritten zwischen den Abgeordneten war vor allem, ob auch der Inlands-Personenverkehr liberalisiert werden soll. Die Kommission hatte vorgeschlagen, zunächst nur den grenzüberschreitenden Personenverkehr für den Wettbewerb zu öffnen. "Wir sind überhaupt nicht dagegen, auch den Binnenverkehr für den Wettbewerb zu öffnen", sagte Verkehrskommissar Jacques Barrot vergangene Woche in Straßburg, "aber wir denken, dass eine Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht wäre." Der Verkehrsausschuss hatte deswegen einen Stufenplan vorgeschlagen. Danach sollten die alten Mitgliedstaaten ihre Schienennetze in zehn, die neuen in 15 Jahren vollständig öffnen. Eine Mehrheit für die Änderung des Kommissionsvorschlages kam im Plenum nicht zustande. Wettbewerb wird es ab 2010 daher erst einmal nur auf den internationalen Eisenbahnstrecken geben. Jetzt muss sich der Vermittlungsausschuss mit dem Thema befassen.