Die Mitglieder des Europaparlaments werden sich an einen neuen Stil gewöhnen müssen. Gemäß einer Absprache zwischen den Konservativen und den Sozialisten wechseln sich die beiden größten Fraktionen nach der Halbzeit der Parlamentsperiode im Vorsitz ab. Auf den spanischen Sozialisten Josep Borrell folgt der deutsche CDU-Abgeordnete Hans-Gert Pöttering.
Eine kleine Überraschung gab es bei der Wahl am 16. Januar aber doch. Monica Frassoni, die Vorsitzende der Grünenfraktion, schaffte im ersten Wahlgang 145 Stimmen. Mit einem Appell in fünf Sprachen für frischen Wind im Europaparlament und gegen die lähmenden Absprachen der großen Parteien hatte sie sich um den Posten der Parlamentspräsidentin beworben und damit weit mehr Abgeordnete überzeugen können als die 42 Mitglieder ihrer eigenen Fraktion. Für den deutschen Konservativen Hans-Gert Pöttering reichte es dennoch bequem zur absoluten Mehrheit. So sicher konnte er sich der Unterstützung seiner eigenen Parteifreunde sowie der Sozialisten und der Liberalen sein, dass er schon Glückwünsche entgegen nahm, bevor die Stimmen ausgezählt waren.
Nach dem sachliche Kühle ausstrahlenden Südeuropäer Borrell wird künftig ein zu emotionsgeladener Rede neigender Niedersachse vom Podium aus die Sitzungen leiten. Für Pöttering ist Europa ein Herzensanliegen. Seinen Vater, der als Soldat starb, lernte er nie kennen. Kurz nach Kriegsende wurde er im September 1945 geboren und gehört damit zu denen, die Europa als einmaliges Friedensprojekt zu würdigen wissen.
Pöttering neigt zu salbungsvollen Formulierungen, denen er mit vor Pathos Ausdruck verleiht. Das wirkt heute leicht antiquiert und nicht immer überzeugend. Deshalb würde man dem neuen Parlamentspräsidenten für die kommenden repräsentativen Aufgaben einen weniger blumigen Redenschreiber wünschen. Unterschätzen sollte man ihn aber nicht. Als Vorsitzender der seit dem jüngsten EU-Erweiterung um Rumänien und Bulgarien 277 Mitglieder zählenden EVP-Fraktion hat er in den vergangenen zweieinhalb Jahren bewiesen, dass er einen schwierigen politischen Laden zusammenhalten kann. Denn die europaskeptischen britischen Konservativen stellten ihre Fraktionskollegen mehrfach auf harte Geduldsproben. Pöttering bemühte sich um Ausgleich, zahlte dafür aber einen hohen Preis. Die Europäische Volkspartei gilt als eine heterogene Fraktion, deren politisches Profil oft unscharf bleibt. Durch hohe Kompromissbereitschaft sicherte der Niedersachse seinem politischen Flügel weiterhin den Status der stärksten Fraktion und die damit verbundenen Vorteile bei Verteilung der Redezeit und der Besetzung von Parlamentsposten. Seit der ersten Direktwahl 1979 gehört der in Bersenbrück geborene Vater von zwei erwachsenen Söhnen dem Hohen Haus an. Diese Erfahrung wird er gut gebrauchen können, denn dem Parlament stehen turbulente Sitzungen bevor. Während bislang vor allem die Fraktion der Europaskeptiker mit ihren Provokationen den jeweiligen Vorsitzenden Geduld abverlangte, haben nun auch die Rechtsextremen eine eigene Fraktion gegründet. Das bedeutet für sie mehr Rechte und mehr Redezeit - und für den neuen Vorsitzenden einen heiklen Balanceakt.
In einem Interview sagte der CDU-Politiker dazu kürzlich: "Auch die Andersdenkenden verdienen Respekt. Sie sind demokratisch gewählt. Ein Präsident muss aber immer die Mehrheitsmeinung vertreten." Dass diese Mehrheitsmeinung immer häufiger in einer Koalition der beiden großen Fraktionen ausgehandelt wird, kritisieren vor allem Liberale, Grüne und Linkspartei. In seiner Bewerbungsrede versicherte Pöttering aber, er wolle ein fairer und objektiver Präsident für alle politischen Gruppen sein.
Hans-Gert Pöttering gehört zu der Garde deutscher Politiker, die ihre Karriere ganz und gar der EU verschrieben haben. Für ihn bedeutet der Ruf an die Spitze des Parlaments gewiss die Krönung seiner beruflichen Laufbahn.