Das 54,5 Milliarden-Programm für mehr europäische Innovation in den kommenden sieben Jahren soll dem "Lissabon-Ziel" neuen Auftrieb geben: jenem Schwur der ehemals 15 EU-Staats- und Regierungschefs in der portugiesischen Hauptstadt im Jahr 2000, die EU bis zum Ende des Jahrzehnts zur innovativsten und wettbewerbsfähigsten Region der Welt aufsteigen zu lassen.
"Wissenschaft und Forschung haben in Europa jetzt die oberste Priorität", sagte Bundesforschungsministerin Annette Schavan in ihrer Bonner Eröffnungsrede. Das neue Programm zeige, "dass wir entschlossen sind, in Europa mehr als je zuvor für Wissenschaft und Forschung zu tun". Das war nicht immer so: Der schwärzeste Tag seiner bisherigen Amtszeit als EU-Forschungskommissar lag für Janez Potocnik im März 2005. Der damalige luxemburgische EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker wollte seinerzeit die Mittel für Forschung und Innovation um 86 Prozent kürzen. Anstatt eine Verdopplung der Gelder zugunsten des 7. EU-Forschungsrahmenplanes von 2007 bis 2013 auf 70 Milliarden Euro, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen, hätte dies einen wahren Aderlass bedeutet.
"Eine Katastrophe", so der slowenische Kommissar damals fassungslos. "Wie können wir die Lissabon-Strategie mit Leben erfüllen, wenn ausgerechnet bei den Zukunftsinvestitionen derart drastisch gekürzt werden soll", fragte er damals sichtlich enttäuscht. Anstatt vor die Presse zu treten und die Alarmglocken zu läuten, entschied sich Potocnik damals für den Kampf gegen die Institutionen. Nach außen geräuschlos leistete der unkomplizierte Slowene Überzeugungsarbeit vor allem gegenüber dem Ministerrat, der Versammlung der EU-Forschungs- und Wissenschaftsminister.
Der EU-Wettbewerbsrat - wie das gemeinsame Beschlussgremium der EU-Wirtschafts-, Wissenschafts- und Forschungsminister heute heißt - bestätigte am 5. Dezember seine Linie. Zwar erreichte er im Lichte der Erweiterung unter dem Strich keine Verdopplung der Mittel. Aber mit einem Siebenjahresbudget von 54,5 Milliarden Euro trägt der gefasste Finanzrahmen der Erweiterung um zwölf Mitgliedstaaten durchaus Rechnung. Dies bedeutet eine Steigerung um 63 Prozent gegen über dem laufenden Forschungsprogramm. "Sicher kann man sich stets mehr wünschen", so Potocnik, aber die konjunkturelle Situation Europas zum Zeitpunkt der Finanzentscheidungen bis 2013 ließen nicht mehr zu. Um so mehr eröffne die vereinbarte "mid term review" zur Halbzeit der Finanzperiode im Jahre 2009 noch weiteren finanziellen Verhandlungsspielraum.
Das neue Brüsseler Forschungstableau wartet mit einer übersichtlicheren Struktur auf und soll sich durch ein vereinfachtes Antragsverfahren auszeichnen. So untergliedert sich der Gesamtkuchen in die Bereiche "Zusammenarbeit" mit 32 Milliarden Euro, "Ideen" mit 7,4 Milliarden Euro, "Menschen" mit 4,7 Milliarden Euro sowie "Kapazitäten" mit 1,9 Milliarden Euro.
Was verbirgt sich hinter diesen Rubriken? Unter dem Teil Zusammenarbeit sollen internationale Wissenschaftskooperationen und Forschungsvorhaben innerhalb und außerhalb der EU gefördert werden. Die EU-Kommission hat zehn Themengebiete besonders herausgehoben: Dies sind im Einzelnen die Bereiche Gesundheit, Lebensmittel und Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechniken, Nanotechnologien und neue Werkstoffe, Energie, Umwelt, Geistes- und Sozialwissenschaften, Sicherheit, Verkehr und Weltraum. Damit werden existierende Förderprogramme fortgesetzt und bewährte Förderstrukturen erhalten.
Neuland betritt die EU hingegen mit dem Begriff "frontier research". Im Programmteil "Ideen" soll mit dem neu geschaffenen Instrument des Europäischen Forschungsrates (EFR) der Freiheit der Wissenschaft auf europäischer Ebene neue Bahn gebrochen werden: "Erstmals", so Potocnik, "werden die europäischen Wissenschaftler frei von Vorgaben der EU-Kommission oder einzelner Mitgliedstaaten über Projekte eigenständig entscheiden können." Für die Grundlagenforschung in Europa stehen hierfür 7,4 Milliarden Euro bereit. "Es sollen die talentiertesten Wissenschaftler Europas und aus aller Welt an exzellenten Vorhaben arbeiten", erklärt Professor Hans Joachim Freund vom Fritz Haber Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Der deutsche Wissenschaftler zählt zu den 22 Mitgliedern des Wissenschaftlichen EFR-Beirates.
Seit Jahresbeginn agiert der langjährige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Ernst Ludwig Winnacker, für zweieinhalb Jahre als erster Generalsekretär des Europäischen Forschungsrates auf der Brüsseler Bühne. Ihm kommt die Schlüsselrolle beim Aufbau und der strategischen Ausrichtung der neuen europäischen Institution zu. Der 66-Jährige erlebte schon in seiner akademischen Jugend als Doktorand in Zürich, Stockholm und Berkeley den Siegeszug der Gentechnik von Anfang an mit. "Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene", lautet das Credo des zuletzt am Genzentrum der Münchner Universität tätigen Forschers. Eingriffe in die Keimbahn des Menschen lehnt er ebenso ab wie das Klonen. Er tritt in der Stammzellforschung für eine Revision des deutschen Embryonenschutzgesetzes ein.
Dies macht ihn für eine Reihe von Europaparlamentariern allerdings suspekt. So versuchte eine Reihe von Europaabgeordneten im Vorfeld der Abstimmung zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm mehr Einfluss auf den Europäischen Forschungsrat geltend zu machen. Völlig losgelöst von einer parlamentarischen Kontrolle, so die CSU-Europaabgeordnete Angelika Niebler, wollte sie den EFR nicht über herausragende Grundlagenforschungsprojekte allein entscheiden lassen. Schon die personelle Besetzung des Wissenschaftlichen EFR-Beirates ohne jegliche Einbeziehung des Europäischen Parlamentes war vielen CDU/CSU-Abgeordneten, aber auch Straßburger Grünen ein Dorn im Auge.
So fragte sich die saarländische Gentechnikexpertin und EU-Parlamentarierin Hiltrud Breyer von den Grünen, ob Winnacker nicht die Mittel für Embryonenforschung über den EFR am Parlament vorbei als Exzellenzprojekt der Großforschung initiieren könnte. "Dem Parlament würde jegliche Mitwirkung an einem derartigen Entschluss entzogen", fürchtet sie. Die Münchner EU-Abgeordnete Niebler, Mitglied im Forschungs- und Industrieausschusses des Straßburger Parlaments wollte daher ein "board of trusties" als Kontrollgremium der EU-Wissenschaftler unter Beteiligung des EU-Parlaments etablieren. Dafür fand sich jedoch keine Mehrheit. Das 22-köpfige EFR-Gemium kann zwar über einzelne Grundlagenforschungsprojekte unabhängig entscheiden, ist aber sehr wohl an die ethischen Beschlüsse der Europäischen Union gebunden, heißt es in Brüssel.
Potocnik kann hier keinen Zielkonflikt erkennen. Ihm geht es vor allem um eins: die EU bis 2010 deutlich näher an das Drei-Prozent-Ziel der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) zu bringen. Derzeit hinkt Europa bei den FuE-Aufwendungen deutlich hinter den Vereinigten Staaten und Japan zurück.
In der auf 27 Saaten erweiterten Gemeinschaft liegt die FuE-Intensität gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach jüngs-ten Angaben des EU-Statistikamtes Eurostat für das Jahr 2005 bei 1,84 Prozent.
Auch die europäische Industrie stützt FuE in Europa deutlich geringer als in den Wettbewerbsregionen. So finanzierten die US-Unternehmen 64 Prozent in 2004 und die japanische Industrie 75 Prozent und Chinas Wirtschaft 66 Prozent der nationalen FuE-Aufwendungen. Auch hier bildet die EU mit 55 Prozent das Schlusslicht. Die bittere Wahrheit ist: Vom "Lissabon-Ziel" ist die Europäische Union nach wie vor noch meilenweit entfernt.