Claire Scobie
Die britische Journalistin über die Tibeter und ihre Hoffnung auf ein Ende der chinesischen Besatzung
"Wiedersehen in Lhasa" lautet der Titel Ihres Buches, in dem es um Ihre Freundschaft zu der tibetischen Wandernonne Ani geht. Welche Reaktionen gab es nach der Veröffentlichung in Großbritannien und in Ihrer Wahlheimat Australien? Haben Sie etwas von dem Einfluss einer Chinalobby gespürt beziehungsweise der Tendenz, sensible politische Themen wegen des wachsenden ökonomischen und politischen Einflusses der Volksrepublik China, zu vermeiden?
Nein, vom Einfluss einer so genannten China-Lobby habe ich direkt nichts gespürt. Allerdings haben mich die unterschiedlichen Reaktionen in Großbritannien und Australien überrascht.
Inwiefern?
Nun, in Australien scheinen asiatische Themengebiete deutlich stärker Anklang zu finden als in meiner Heimat Großbritannien. Mein Buch wurde dort um einiges stärker aufgenommen, und das Thema Tibet steht dort stärker im Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung.
Viele Australier scheinen sich heute der geografischen Lage ihrer Heimat stärker bewusst zu sein als noch vor einigen Jahren. Der Mythos vom "Großbritannien unter der Sonne" scheint zu verblassen, man definiert sich heute eher "ozeanisch", bisweilen auch "asiatisch". Die ökonomische Vernetzung, die demografische Entwicklung und die Touristenströme, übrigens in beide Richtungen, bestätigen ja diese Entwicklung.
Sie haben Tibet in den letzten Jahren mehrere Male bereist. Die Region ist seit fast 50 Jahren von der Volksrepublik China okkupiert. Fand oder findet Ihrer Meinung nach in Tibet ein Genozid seitens der Besatzer statt, wie manche Beobachter behaupten?
Bei meinen Lesungen wurde mir oftmals diese Frage gestellt. Häufig wurde speziell nach Maßnahmen wie der Zwangssterilisierung von tibetischen Frauen gefragt. Unter der totalitären Herrschaft von Mao gab es genozidale Elemente, allerdings nicht nur in Tibet. Ganz China war diesem verbrecherischem Regime ausgesetzt. Maos so genannter "Großer Sprung nach vorn" und die Kulturrevolution forderten Millionen von Menschenleben. Auch Han-Chinesinnen wurden sterilisiert, ebenso wie die Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten. Diese Verbrechen waren damals kein Spezifikum und nicht nur auf Tibet beschränkt. Allerdings fand und findet in Tibet eine Art kultureller Genozid statt.
Wie macht sich dieser kulturelle Genozid bemerkbar und welche Folgen hat er?
Die chinesischen Behörden sind aktuell dabei ein Tibet nach ihren Vorstellungen zu entwerfen. Die Region verwandelt sich in eine chinesische Provinz, unter anderem mit den Mitteln der Demografie, der wirtschaftlichen Entwicklung und der kulturellen Hegemonie durch die Titularnation.
Könnten Sie dieses Phänomen konkretisieren?
Die chinesischen Behörden versuchen, Tibet durch die Anbindung und Partizipation an das "chinesische Wirtschaftwunder" ruhig zu stellen und nachhaltig in den Staat zu integrieren. Mit der Anhebung des Lebensstandards soll der Autonomiebewegung der Wind aus den Segeln genommen werden.
Bislang gehört Tibet noch zu einer der rückständigsten und ärmsten Regionen der Volksrepublik. Gleichzeitig wird die Migration von Han-Chinesen gefördert um das demografische Gefüge zu verändern. Ähnliches ist ja auch in der Mandschurei, in der inneren Mongolei zu beobachten. In Lhasa sind die Tibeter schon in der Minderheit. Der innerchinesische Tourismus wird gefördert und präsentiert den Besuchern eine Region mit Lokalkolorith, die aber unweigerlich zu China gehören soll.
Interessanterweise sehen die Chinesen die Eroberung des amerikanischen Westens im 19 Jahrhundert als Vorbild bei der Eroberung Tibets an. Den Tibetern ist dabei die Rolle der Indianer in Reservaten zugedacht. Sie werden ihrer kulturellen Herkunft entfremdet. In Lhasa blüht die Prostitution und Tibet steht vor einer gewaltigen Aids-Pandemie.
Tibet und der Buddhismus sind schon lange ein Beschäftigungsfeld gewisser Schickeria-Kreise im Westen. Wie beurteilen Sie dieses Engagement und ist es hilfreich für die "tibetische Sache"?
Das von Ihnen erwähnte Engagement ist sehr vielfältig und facettenreich und tritt in unterschiedlichster Qualität auf. Das Engagement, von Richard Gere beispielsweise, unterstützt den Kampf für die Menschenrechte in Tibet und sorgt dafür, dass das Land nicht schon längst aus dem Blickwinkel der medialen Weltöffentlichkeit verschwunden ist.
Allerdings, gibt es auch im Westen eine Tendenz, sich ein Tibetbild zu basteln, welches nichts mit der Realität oder der Geschichte und Kultur dieses Volkes zu tun hat. Die kulturellen Traditionen Tibets haben am besten in der weltweiten Diaspora, besonders im indischen Unionsstaat Himashal Pradesh, dem Zentrum dieser Diaspora überlebt. Das in gewissen westlichen Kreisen kreierte Bild von Tibet ist allerdings nicht frei von utopischen Elementen, der dort praktizierte Wellness-Buddhismus hat nichts mit der Religion der Tibeter zu tun.
Das Tibet vor der chinesischen Besatzung war alles andere als ein idyllisches Nirvana. Auch stimmt es nicht, wie heute häufig kolportiert, dass die Tibeter alle zu einem pazifistischen Fatalismus neigen. In den letzten Jahrzehnten gab es immer wieder gewaltsame und blutig unterdrückte Aufstände gegen die chinesische Besatzung, meistens organisiert von Teilen des buddhistischen Klerus. Mir selbst hat ein hoher buddhistischer Mönch gesagt: "Als guter Buddhist muss man Kampfgeist haben, man muss den Mumm in den Knochen haben, alles kurz und klein zu schlagen."
Haben die Tibeter die Hoffnung auf ein Ende der chinesischen Besatzung aufgegeben?
Ich haben keinen Tibeter getroffen, weder in Tibet noch im Exil, der sich mit der chinesischen Herrschaft abgefunden hat. Im indischen Daramshala, haben die meisten tibetischen Flüchtlinge einen gepackten Koffer in ihrer Wohnung - als Symbol für die erhoffte Rückkehr nach Tibet eines Tages. Alle Tibeter hoffen auf ein Ende der chinesischen Herrschaft.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Dalai Lhama?
Der Dalai Lhama ist ein herzensguter Mensch. Seit seiner Kindheit kämpft er engagiert für die Rechte seiner Landsleute in Tibet und im Exil. Es ist eine Schande, dass er beispielsweise bei seinem letzten Besuch in Australien nicht von Premierminister Howard empfangen wurde, um die chinesische Regierung nicht zu brüskieren. Aber das ist ja auch nicht nur in Australien passiert. Der Dalai Lhama ist eine öffentliche Person. Er ist aber kein politischer Mensch und scheint manchmal überfordert mit dieser Rolle.
Was fasziniert Sie an Ihrer Freundin, der Wandernonne Ani?
Ani und mich verbindet eine sehr tiefe und spezielle Freundschaft. Wir beide kommen aus völlig unterschiedlichen Welten, sind unter verschiedenen sozialen und kulturellen Umständen aufgewachsen. Mich fasziniert, mit welcher Hingabe Ani ihren asketischen Lebensstil, ihre Religion lebt und wie sie ihren harten Alltag meistert ohne an sich oder ihrem Glauben zu zweifeln.
Wir haben uns ja vor vielen Jahren - auf meiner ersten Tibetreise - kennengelernt. Durch sie habe ich alles über Tibet erfahren; ohne dass einer von uns beiden jemals daran gedacht hätte, die eigene Weltsicht dem anderen aufzwängen zu wollen. Anis Leben steht stellvertretend für das Schicksal Tibets und den kulturellen Wandel, dem diese Region heute unterworfen ist. Menschen wie Ani, beziehungsweise ihr Tibet, wird es nicht mehr lange geben. Mit meinem Buch wollte ich nicht nur Einbli-cke in diese Freundschaft gewähren, sondern auch ein kulturelles Erbe würdigen, welches in dieser Form bald nicht mehr existieren wird.
Hoffen Sie Ani eines Tages wiederzusehen?
Sicherlich. Aktuell bin ich mir aber nicht sicher, ob die chinesischen Behörden mir ein Visum für die Reise ausstellen würden. Es ist sicherlich klüger, etwas zu warten, bis sich der Publicity-Rummel gelegt hat. Ani ist aber durch Freunde über die Veröffentlichung des Buches informiert worden und sehr stolz.
Das Interview führte Ramon Schack
Wiedersehen in Lhasa.
Frederking & Thaler, München 2007;
264 S., 19,90 ¤