Frankreich
Eine "Nachbarschaftskunde" bleibt in Klischees stecken
Bleib hier, die Schatten woll'n mich hol'n. Doch wenn wir geh'n, dann geh'n wir nur zu zweit." Eine Zeile, die vermutlich bald mehr für die deutsch-französische Freundschaft bewirken wird, als jede Filiale des Goethe-Instituts. Mit dem Mantel der gemeinsamen Geschichte hat der Satz allerdings nichts zu tun: Er gehört zum Repertoire der Magdeburger Teenie-Band "Tokio Hotel". Mit ihren deutschsprachigen Texten krempeln sie seit Herbst 2006 die französischen Charts um. Jugendliche, heißt es, lernen extra Deutsch, um die Strophen des Schmachtpops mitsingen zu können.
Dabei sind die offiziellen Anstrengungen der Völkerverständigung franco-allemande durchaus bemerkenswert. Das deutsch-französische Jugendwerk besteht seit über 44 Jahren, seit 1992 ist der gemeinsame Kulturkanal "arte" auf Sendung und im vergangenen Jahr erschien sogar ein deutsch-französisches Schulbuch für das Fach Geschichte.
Die deutsch-französische Freundschaft ist auch der Dreh- und Angelpunkt von Günter Liehrs frankophiler Fibel "Eine Nachbarschaftskunde". Das Kompendium gehört zu einer Reihe des Ch. Links Verlages über die deutschen Nachbarländer. Liehr lebt seit 1977 in Paris, seit fast 20 Jahren arbeitet er als Redakteur bei "Radio France International", 2005 erhielt er den deutsch-französischen Journalistenpreis. Er weiß demnach, wovon er spricht.
Gegenseitige Klischees benennen, sie hinterfragen, sie idealerweise widerlegen, das ist es, was von einem solchen Buch zu erhoffen ist. Geschichtliches, die Logik der Republik, Staat und Politik, Gesellschaft und Kultur: ein Rundumschlag, verspricht das Inhaltsverzeichnis. Danach, so die Ahnung, versteht man sie besser, diese immer noch bizarr anmutende Beziehung zwischen den Wein- und den Biertrinkern. Leider löst sich nichts davon ein.
Dabei beginnt Liehr herrlich reportagig und erzählt, wie er als kleiner Steppke den Startschuss für die deutsch-französische Freundschaft erlebte, inmitten blau-weiß-roter-Fähnchen, damals im September 1962, auf dem Bonner Marktplatz. Als der "zierliche Bundeskanzler Adenauer mit seinem faltigen Indianergesicht" neben "diesem hochgewachsenen langnasigen Mann" stand, der dem verdatterten Kanzler auf die Wangen schmatzte. Ein Freundschaftskuss eben.
Nach dieser launigen "Vorbemerkung" schildert Liehr, wie das so war mit der Französischen Revolution, "Monsieur Hitler" und dem "steinigen Weg nach Europa". Er erklärt die Trennung zwischen Staat und Kirche, den Pariser Zentralismus und sagt, dass es eine ausgeprägtere Demonstrationskultur gibt als bei uns. Franzosen, erklärt er weiter, gehen gelassen mit den Amouren ihrer Spitzenpolitiker um; wer auf keiner der Eliteschulen war, schafft es nicht in die Führungsetagen; Frauen vereinbaren Karriere und Kinder lässig. Und gutes Essen und guter Wein sind so etwas wie das Nationalheiligtum, gleich nach der Sprache und der Marianne. Über den Westen nichts Neues.
Zugegeben - wer schon immer ein kompaktes Buch über Frankreich wollte, für den ist Liehrs "Nachbarschaftskunde" das Richtige: Eine Rekapitulation des Geschichtsunterrichts, kombiniert mit einer Sammlung altbekannter Klischees, die allerdings schon Liehrs Journalistenkollege Ulrich Wickert ausführlich erläutert hat. Der Unterschied: Wickerts Bücher klappte man mit dem Gefühl zu, die Franzosen besser zu verstehen. Liehr analysiert nicht, er schildert nur. Etwa, dass unsere Nachbarn mehr Antidepressiva und Tranquilizer schlucken als jede andere Nation der Welt. Und dass der Cannabis-Konsum ihrer Jugendlichen höher ist als in allen anderen europäischen Staaten. Zu gerne hätte man gewusst, warum. An "Tokio Hotel" allein kann es schließlich nicht liegen.
Frankreich.
Eine Nachbar-schaftskunde.
Ch. Links Verlag,
Berlin 2007;
240 S., 16,90 ¤