Sie entern den Bug, sehen wild und gefährlich aus und hissen, kaum ist Schiff eingenommen, ihre Flagge: die Piratenfahne. Was die Kinder spielen, erleben sie auch. "Sie denken sich eigene Themen aus und dann schwelgt eine Gruppe durchaus mal drei, vier Monate im Piratenfieber", erzählt Astrid Bahr, Leiterin des Bundestagskindergartens, und deutet auf die an die Wand gemalten Wellen des Meeres, das Piratenschiff aus Pappe, Holz und Segeln. In einer anderen Gruppe spielen die Kinder seit einem Ausflug zum Schweriner Schloss mit Vorliebe das Leben von Ritter und Burgfräulein nach. In der Fachsprache nennen Pädagogen diesen Ansatz situations- oder projektbezogen.
Der Bundestagskindergarten, den rund 110 Kinder im Alter zwischen einem und zwölf Jahren besuchen, liegt mitten im Berliner Regierungsviertel, ist aber doch eine Welt für sich. Das direkt an der Spree gelegene wasserblaue Haus ist schon von weitem zu sehen. Mit seinen runden und dreieckigen Räumen, Kuppeln und schrägen Dächern, Irrgärten und kleinen Zauberwäldern ist es unverwech- selbar. Architekt Gustav Peichl hat aus der Not eine Tugend gemacht und das dreieckig geschnittene Grundstück so ausgenutzt, dass sich kleine Einheiten ergeben, überraschende Innenhöfe mit Weidengang, Spielplatz und einer Dachterrasse, auf der die Kinder einen Gemüsegarten angelegt haben. Dort wachsen Kohlrabi, Möhren und Zucchini.
"Wir wollen die Welt in den Kindergarten holen", sagt die Leiterin, die aus der berühmten Zirkusfamilie Althoff stammt. Sie selbst hat nie im Zirkus mitgearbeitet: "Ich bin leider keine Akrobatin." Aber schon als Kind hat sie von ihrem Großvater gelernt, der Pferde dressierte. Er brachte ihr bei, wie wichtig es ist, ein inneres Gerüst im Leben zu haben: Sie will den Kindern - genauso wie der Tiger bei Janosch - zeigen, dass man mutig auf Wanderschaft gehen kann, sich ausprobiert und, wenn man in Bedrängnis gerät, auch zusammenhält. "Freundschaft, Kameradschaft, das ist wichtig", sagt sie.
Doch Astrid Bahr und ihren zwanzig Kolleginnen und vier Kollegen ist nicht nur wichtig, was Kinder lernen, sondern auch, wie sie lernen. "Es muss gar nicht alles perfekt sein, damit Kinder ihrer Fantasie freien Lauf lassen können", sagt die 51-Jährige. "Man kann aus vielen kleinen Dingen alles mögliche schaffen." Sie spielt damit auch auf die kritischen Presseberichte an, die über den Kindergarten 1999 bei der Eröffnung nach dem Umzug von Bonn nach Berlin erschienen. Mehrmals fiel damals das Schlagwort "Luxus-Kita". Dass aber ein großer Teil des Mobiliars und Inventars schon aus Bonn mitgebracht wurde, war dabei genauso wenig Thema, wie die sozialen Aufnahmekriterien der Kinder von Mitarbeitern der Verwaltung, Fraktionen und Abgeordneten. Dabei gilt: Je weniger eine Familie verdient, desto eher wird das Kind aufgenommen. Sind dann noch Plätze frei, können auch Kinder von Bundestagsabgeordneten die Einrichtung besuchen. "Aber", sagt sie achselzuckend, "die ganze Aufregung von damals muss man letztlich gelassen sehen." Sie kennt ihren Job, hat bereits 1975 ihr Anerkennungsjahr als Erzieherin beim Bundestag gemacht und leitet die Einrichtung seit 1991.
In ihrem Büro hat Astrid Bahr eine Riege von kleinen und großen Elefanten aufgestellt, manche aus Holz andere aus Stein. Die erinnern sie an ihre Zirkusbesuche als Kind bei ihrem Großvater. "Dort geht es sehr diszipliniert zu. Alles muss stimmen, am Trapez auf die Zehntelsekunde genau", sagt sie. "Und erst die Disziplin ist die Grundlage für die große Freiheit, die Zirkusluft." Und im Kindergarten? "Da ist es ähnlich", sagt sie. Das Erzieherteam versucht, einen regelmäßigen Rahmen, eine sichere Basis für die Kinder zu schaffen, mit Regeln, Werten und Aufgaben. Mit Hilfe dieses Gerüsts können die Kinder Freiheit als spannendes Abenteuer erleben, als Freiheit, die sie nicht überfordert sondern befördert. "Das", sagt die erfahrene Leiterin, "wird von vielen oft verwechselt."