Kuba
Raul Castro nährt Hoffnungen auf Reformen. Doch die alte Garde um Fidel will den Status Quo.
Genau ein Jahr nach Fidel Castros letztem öffentlichen Auftritt ist die Reformdebatte in Kuba wieder aufgeflammt. Ausgelöst hat sie am 26. Juli 2007 sein jüngerer Bruder, der vorläufige Staatschef Raul Castro. Ohne ideologischen Schnickschnack kam der 76-jährige Armeegeneral in seiner ersten großen Rede zur Sache. Er kritisierte den sozialistischen Schlendrian, Korruption und die "Bürokratisierung der Wirtschaft". Er geißelte die absurd tiefen Löhne in Kuba von durchschnittlich umgerechnet 16 US-Dollar monatlich. Er sprach die kritische Versorgung mit Alltagsgütern an. Um sie zu verbessern, kündigte Raul Castro "strukturelle Änderungen" an sowie die Suche von "ausländischen Investitionen" für den kommunistischen Inselstaat. Er werde "alles ändern, was geändert werden muss", zitierte Raul Castro einen bekannten Ausspruch seines großen Bruders.
"Viel deutet auf einen Machtkampf hin. Ein großer Teil der Regierung will einen Kurswechsel", sagte der Dissident Oscar Espinosa dieser Zeitung. Für den Ökonomen Espinosa wiederholt sich in Kuba derzeit die Geschichte der 90er-Jahre. Damals war er selbst noch Karrierediplomat unter Fidel Castro, fiel dann aber wegen seiner reformfreundlichen Haltung in Ungnade.
"Raul Castro hat sehr viel Unterstützung in der Bevölkerung. Er hat vielen aus dem Herzen gesprochen", sagt Espinosa. Und so ist Bewegung im Tropensozialismus. In der allein regierenden Kommunistischen Partei Kubas zirkulieren kritische Dokumente, wie sie zuvor nur Dissidenten zu verfassen wagten. Altgediente Parteikader entdecken plötzlich, dass "der Sozialismus für einen vollen Teller sorgen muss". Andere kommen gar zur Einsicht, dass es "auch im Sozialismus einen Markt gibt".
Die Antwort vom großen Bruder erfolgte Anfang September. Im Staats- und Parteiblatt "Granma" rechnete Fidel Castro in einer seiner zahlreichen "Reflexionen" mit den nicht näher definierten "Superrevolutionären" ab. "Was verschreiben sie der Revolution? Pures Gift. Die typischen Formeln des Neoliberalismus", wetterte der erkrankte Chefkommandant vom Bett aus. Besonders warnte er vor ausländischem Kapital: "Man kann nicht das Land mit Geld überfluten, ohne die Souveränität zu verkaufen."
Fidel Castro hat immer noch politisches Gewicht. Er hat den Außenminister und Hardliner Felipe Perez Roque auf seiner Seite, der Kuba in der UNO-Generalversammlung vertritt. Und er hat die Unterstützung von Kubas allmächtiger Bürokratie. "Sie wird immer Verlierer eines Wandels sein", urteilt der Ex-Funktionär Espinosa. Doch Raul Castro, der ewige kleine Bruder, sei "so stark wie noch nie". Der Pragmatiker hat die Unterstützung von Kubas Armeegenerälen. Und er hat mit Vizepräsident Carlos Lage einen
Wirtschaftsreformer im Regierungsteam.
Im Aufwind fühlt sich auch die illegale Opposition auf Kuba. Im Wochenrhythmus tauchen neue Gruppierungen auf und fordern die Freilassung der rund 250 politischen Gefangenen, Menschenrechte, Demokratie und Marktwirtschaft. Der Christdemokrat Oswaldo Payá, so etwas wie der Übervater der Dissidenz, kritisiert die aktuell stattfindenden Gemeinderatswahlen als Farce und fordert eine Reform des Wahlgesetzes. Derweil beginn Hector Palacio die zersplitterten Liberalen, mit geschätzten 5.000 Sympathisanten die größte Strömung innerhalb der Opposition, zu einer schlagkräftigen Partei zu formieren. Selbstbewusst sagt der erst voriges Jahr aus der Polit-Haft entlassene Soziologe: "Wir müssen nicht warten, bis Fidel Castro stirbt. Wir werden jeden Tag mehr."
Unter der Bevölkerung findet Kubas illegale Opposition wenig Anklang. "Die Leute sind so mit ihrem wirtschaftlichen Überlebenskampf beschäftigt, da spielt die Politik keine Rolle", erklärt Espinosa. Auch Milch und Butter sind jetzt aus den Ladenregalen verschwunden. Eier sind streng rationiert, Fleisch ein unerschwinglicher Luxus. Die Gefahr fürs Regime gehe darum vom murrenden Volk aus, sagt der Ökonom. "Die Leute auf der Straße benutzen deutliche Worte. Sie wollen wirtschaftliche Veränderungen, die ihre desaströse Lage erleichtern."
Die spärlichen Informationen aus Kubas offizieller Handelsstatistik lassen eine dramatische Devisenknappheit in der Staatskasse vermuten, die sich in den nächsten Monaten weiter zuspitzen wird. Es sinken die Erlöse aus Tourismus und Nickel, den wichtigsten Devisenquellen. Die laufende Verschuldung des bereits gigantisch in der Kreide stehenden Karibikstaates explodiert. Und während Kuba 84 Prozent seiner Grundnahrungsmittel importieren muss, liegt das von Staatsbetrieben und Zwangskooperativen bewirtschaftete Agrarland zu großen Teilen brach. Selbst Zucker muss der einstige Exportweltmeister heute importieren, nachdem die Ernte auf das Niveau von 1904 zurückgefallen ist.
"Raul Castro hat ein Land im Bankrott übernommen", urteilt Espinosa. Er sieht als einzige Lösung einen "fundamentalen Wechsel" zur Marktwirtschaft. "Alle wissen, dass man das tun muss, auch die Regierung." Espinosa hat für seine reformfreundlichen Ansichten zwei Jahre in Kubas Gefängnissen verbracht. So warnt er vor zuviel Optimismus: "Es ist nicht das erste Mal, dass man dachte, nun gebe es einen Wandel." Wenn er nicht gelinge, werde die Politik wieder auf Repression zurückzugreifen: "Der ganze Apparat ist intakt und bereit, jederzeit loszuschlagen."
Ihren Machtanspruch unterstrichen haben die Gebrüder Castro vor einer Woche, jeder auf seine Art. Fidel Castro ließ sich von der Zeitung "Juventud Rebelde" stehend abbilden (23. September) - über die gesamte Titelseite. Kurz zuvor (21. September) hat er sich in einem seiner selten gewordenen Fernsehauftritte eine Stunde lang über internationale Ereignisse geäußert - ohne mit einem Wort auf die Lage in Kuba einzugehen. Das besorgte kurz darauf (23. September) Raul Castro. Der Interimsstaatschef und Verteidigungsminister präzisierte im Fernsehen seine Vorstellungen von Reformdiskussion. Sie habe wie im Militär stattzufinden: "Am richtigen Ort, zum geeigneten Zeitpunkt und in der korrekten Form".