Indien
Der Streit um den Atomvertrag mit den USA hat die indische Regierung in eine schwere Krise gestürzt. Es wird nun heftig über Neuwahlen spekuliert.
Es ist für jeden etwas dabei in diesen Tagen in Neu-Delhi: Die kleinen Ladenbesitzer sollen mit einer Quote vor den großen Supermarktketten geschützt werden, die Muslime eine Gleichberechtigungskommission bekommen, ein Sozialversicherungsnetz soll der großen Masse der Gelegenheitsarbeiter helfen, Slumbewohner sollen mit großzügigen Umsiedlungsprogrammen beschwichtigt werden, die Landwirte mehr Geld erhalten und die Armen in den Städten neue Wohnungen. Seitdem die regierende Kongresspartei unter Sonia Gandhi den Gabentisch so reich gedeckt hat, reißen Gerüchte über Neuwahlen nicht ab.
Eigentlich stehen die nächsten Wahlen in Indien erst im Sommer 2009 an. Doch die Regierung steckt in der schwersten Krise ihrer Amtszeit. Die Kommunisten, auf deren Stimmen die Kongresspartei im Parlament angewiesen ist, will den Ende August unterzeichneten Vertrag über die atomare Zusammenarbeit zwischen Indien und den USA nicht mittragen. Zwar gab es zwischen den Kommunisten und der Kongresspartei in der Vergangenheit immer wieder Ärger, doch diesmal scheint die Situation festgefahren.
Während Indiens Premierminister Manmohan Singh in diesen Wochen unermüdlich für die Segnungen des Atomstroms und den Nuklearpakt wirbt, machen die Kommunisten Stimmung gegen den Deal und die Kongresspartei. Die strategische Annäherung Indiens an die USA ist ihnen schon seit längerem ein Dorn im Auge. CPM-Generalsekretär Prakash Karat verlangt nun von der Regierung, den Vertrag für sechs Monate auf Eis zu legen. Beleidigungen und Beschuldigungen zwischen Kongress und Kommunisten bestimmen die politische Tagesordnung. "Wir werden der Regierung nicht helfen, den Vertrag abzuschließen", droht Karat offen. Der Pakt sei "ein Angriff auf unsere Souveränität und die Unabhängigkeit unserer Außenpolitik".
Das sieht die Regierung naturgemäß anders. Sie akzentuiert vor allem die wirtschaftlichen Vorteile des Vertrages. "Auf der ganzen Welt wird über die Renaissance der Atomkraft geredet, wir können es uns nicht leisten, diese globale Entwicklung zu verpassen", mahnte Premier Singh kürzlich bei der Einweihung der beiden 540 Megawatt-Atommeiler in Tarapur, etwa 100 Kilometer nördlich von Mumbai.
Man sei keinesfalls gegen Nuklearenergie, versichert Karat dagegen. "Wir sind für Atomkraft, aber das heißt nicht, dass wir auch für den Atomdeal sind."
Das energiehungrige Indien betreibt 16 Atomkraftwerke, sieben weitere sind im Bau. Doch das Land verfügt nicht einmal über genug Uran für seine laufenden Meiler. Der Mangel an nuklearen Spaltstoffen führte in der Vergangenheit immer wieder zu Versorgungskrisen. Weil Indien Atomwaffen getestet hat, ohne den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen und sich so zur Nichtverbreitung von nuklearen Waffen zu verpflichten, ist es seit mehr als drei Jahrzehnten international größtenteils vom Handel mit Atomtechnologie und Nuklearbrennstoffen ausgeschlossen.
Diese Quarantäne könnte bald beendet sein. Das umstrittene Abkommen über die atomare Zusammenarbeit mit den USA wird - so es in Kraft tritt - Indiens Versorgung mit nuklearen Brennstoffen für die nächsten 40 Jahre sichern, ohne dass das Land dafür im Gegenzug den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnen muss. Zudem ermöglicht es dem Land, einen strategischen Vorrat an Brennstoffen zu halten und räumt Indien die Möglichkeit ein, Nuklearbrennstoffe aus den USA in einer Aufbereitungsanlage unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) wieder zu verarbeiten. Eine sensible Angelegenheit, denn dabei wird unverbrauchtes Uran, aber auch waffenfähiges Plutonium freigesetzt. Dieses Privileg hat die USA bislang lediglich der Europäischen Union, der Schweiz und Japan eingeräumt.
Politische Beobachter sehen darin eine historische Wende der amerikanischen Politik gegenüber Indien. Sie sei von ähnlich fundamentaler Tragweite wie die Öffnung gegenüber China 1972, meint Nayan Chanda von der amerikanischen Universität Yale. Indien werde ein "virtueller Gaststatus" im offiziellen Fünfer-Kreis der Atomstaaten eingeräumt. Damit zeige die Bush-Regierung, welchen hohen Preis sie zu zahlen bereit sei, um die zweitgrößte Nation Asiens als Partner an sich zu binden.
Die britische Wochenzeitschrift "The Economist" kritisiert, der Preis des Paktes sei zu hoch, denn Indien komme in den Genuss aller Privilegien, die ein Nuklearwaffenstaat im Rahmen des Atomsperrvertrags geniesse, ohne damit im Gegenzug Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Dies sei ein Schlag ins Gesicht für Länder wie etwa Japan, die sich den Zugang zu Atomtechnologie und Brennstoffen hart erkauft hätten: mit einem völligen Verzicht auf militärische Atomentwicklung und strengen Kontrollen durch die Internationale Atomenergieagentur. Der Vertrag sende ein "falsches Signal" an Länder wie den Iran aus.
In Indien hingegen ist der Nuklearstreit mehr eine Richtungsfrage zwischen einer proamerikanischen und einer antiamerikanischen Linie. Die Befürworter feiern den Vertrag als "diplomatischen Triumph Indiens". Die Gegner sehen darin den Ausverkauf nationaler Interessen.
Der Widerstand der Kommunisten bringt Premierminister Singh in eine schwierige Lage. Der Atomdeal mit den USA ist fertig ausgehandelt, Nachbesserungen, wie sie seine Gegner fordern, sind kaum realistisch. Der Regierung bleibt also wenig Spielraum.
Knickt Singh vor den Kommunisten ein, ist er international blamiert. Vermutlich müsste er dann zurücktreten, weil er sonst bis zum Ende der Amtszeit seiner Regierung als "lahme Ente" gelten würde. Falls die Kommunisten aus Protest gegen den Vertrag der Kongresspartei ihre Unterstützung aufkündigen, könnten vorgezogene Neuwahlen kommen. Vielleicht könnte Singh sich notfalls noch mit einer Minderheitenregierung über Wasser halten, allerdings wäre fraglich, wie lange.
Die nun anstehenden Verhandlungen mit der Internationalen Atombehörde über ein Sicherheitsabkommen sind bereits verschoben worden. Doch die Zeit drängt, weil Indien spätestens Ende Oktober die Verhandlungen mit der Atombehörde in Wien starten muss, um den Vertrag bis zum nächsten Sommer unter Dach und Fach zu haben, bevor der amerikanische Präsidentenwahlkampf beginnt. Denn der US-Kongress muss dem Vertrag noch zustimmen. Premier Singh gibt sich weiter optimistisch. "Wenn es Winter wird, kann dann der Frühling weit sein?", zitierte er den Romantik-Dichter Percy B. Shelley. Doch seine Partei und die Opposition bereiten sich bereits auf Wahlen vor.