Ukraine
Vor den Kameras zerfleischen sich die Politiker gegenseitig - hinter den Kulissen wird gefeilscht
Auch nach der Wahl klopft Julia Timoschenko starke Sprüche. "Es ist ehrlicher und nützlicher in die Opposition zu gehen, als zum politischen Schutzschild der Mafia zu werden!", verkündete sie unlängst zum Thema einer Koalition mit der Partei der Regionen des noch amtierenden Premierministers Viktor Janukowitsch. Mit Mafia meinte sie Janukowitschs Hintermänner, die ostukrainischen Industriellen um Rinat Achmedow, den reichsten Mann im Land. Aber auch bei der Partei der Regionen ist man nicht auf dem Kopf gefallen: "Timoschenko als Premier, das gehört ins Reich der Phantasie", spottete ein Parteisprecher. Nichts Neues in der Ukraine, die Koalitionsverhandlungen nach der Wahl vom 21. September zur Rada, dem ukrainischen Parlament, wiederholen in Stil und Inhalt das, was die politischen Akteure sich seit Jahren an den Kopf werfen. "Unsere Politiker benehmen sich wie die Helden einer Seifenoper", erklärt die Kiewer Soziologin Irina Roschkowa. "Und das Publikum verfolgt ihr Treiben wie eine TV-Serie, die mit der Realität im Lande kaum etwas zu tun hat."
Auch Seifenopern gehen mit der Mode. Janukowitsch, als russischsprachiger Ostukrainer im Westen zum Handlager Moskaus abgestempelt, parlierte im Wahlkampf viel häufiger auf ukrainisch als russisch. Und er ließ sich wie Präsident Viktor Juschenko von amerikanischen PR-Leuten beraten, früher hatten beide auf russische Polittechnologen gesetzt. Timoschenko peitschte ihre Anhänger mit englischen Nike-Werbeslogans auf: "Impossible ist nothing. Just do it." Und alle schwören auf den Beitritt zu EU. "Das ist die Grundlage der strategischen Entwicklung unseres Staates", verkündet sogar Janukowitsch. "Alles andere ist zweitrangig." Zumindest sprachlich driftet die Seifenoper westwärts - wie das ganze Land. Mit einem Handelsvolumen von insgesamt 26,6 Milliarden Euro hat die EU Russland vergangenes Jahr als wichtigsten Handelspartner der Ukraine abgelöst. Aber tatsächlich dreht sich die politische Szene im Kreis.
Seifenopern, auch die Serie "Demokratie am Dnjepr", neigen dazu, sich zu wiederholen - mit leichten Variationen: Wieder vorgezogene Neuwahlen, wie im März 2006. Wieder bestätigen sich altbekannte Mehrheitsverhältnisse: Timoschenkos Block "Bjut" (30,71 Prozent) und das Wahlbündnis "Unsere Ukraine-Volksselbstverteidigung" (14,15 Prozent) um Präsident Viktor Juschenko, haben eine knappe Mehrheit gegenüber der Partei der Regionen (34,37 Prozent), der Kommunistischen Partei (5,39 Prozent) und dem Block Litwins (3,96 Prozent). Und wieder lässt sich Timoschenko von Juschenko die Hände küssen, wie im Frühjahr 2005, als er sie schon einmal zur Premierministerin ernannte. Neue Variante: Juschenko bemüht sich um Versöhnung, hat seinem alten Widersacher Janukowitsch das Amt des Vizepremiers angetragen, dessen Gefolgsleuten Stellvertreterposten in allen Ministerien. Timoschenko regt sich in alt bewährter Manier darüber auf.
Es mangelt nicht an Konfliktstoff für neue Folgen der allabendliche Polit-Soap. Obwohl sich auch die Prognosen eher aufgewärmt anhören. Am wahrscheinlichsten gilt zurzeit eine Neuauflage der "Orangen Koalition" von 2005 mit Timoschenko als Premier. Wie damals mag sie sich bei der Reprivatisierung höchst einträglicher Metallwerke mit Juschenkos Mannen zerstreiten. Und Juschenko feuert sie, um statt ihrer noch einmal Janukowitsch zum Premier zu machen, wie im Frühjahr 2006. Oder Janukowitschs Partei der Regionen beginnt wieder damit, Timoschenko klammheimlich ihre wenig sattelfesten Gefolgsleute in der Rada abzuwerben, um die "orange" Mehrheit zu kippen. Wie im Frühjahr 2007.
Aber der Spannungsbogen reicht bis zu Präsidentschaftswahlen 2009. Mit einem Stimmenzuwachs von mehr als acht Prozent hat das Energiebündel Timoschenko sich weit in den Vordergrund gemimt. Ihre populistischen Frohbotschaften, wie eine finanzielle Entschädigung aller Bürger für ihre Verluste in den 90er-Jahren, sind zwar kaum einlösbar, gefallen aber dem Publikum. "Die 20 Prozent Wechselwähler agieren in der letzten Minute nur noch auf der Ebene des Unterbewussteins", sagt der Politologe Wladimir Malinkowitsch. "Und hängen sich an eine schöne Puppe." Alle warten gespannt, mit welchen Mitteln Amtsinhaber Juschenko und Mitbewerber Janukowitsch die passionierte Julia stoppen wollen. Die heftigsten Dialoge der nächsten Monate werden sich um die geplante Verfassungsreform drehen: Wie viel Kompetenzen behält der Präsident, wie viel bekommt der Premier? Womit ist Julias Ehrgeiz zu stillen? Hinter den Kulissen wird man feilschen, vor den Mikrofonen aber wird man sich weiter gegenseitig wortgewaltig Korruption und Machtgier vorwerfen. Voller beleidigter Unschuld und heiligem Zorn.
Dabei hat das Pathos der Protagonisten viel weniger mit Gesinnung zu tun hat, als sie selbst behaupten. "Ideologie spielt für unsere Politiker kaum eine Rolle", sagt Irina Roschkowa. Tatsächlich spielen fast alle Parteiführer nach sehr handfesten Regeln: Wieviel zahlen ihre Sponsoren und was wollen sie dafür? Janukowitsch gehört bekanntlich zu Achmedow. Und bei allem verbalen Eifer gegen das Großkapital paktiert auch Timoschenko mit Milliardären wie dem Metallmagnaten Konstantin Schewago und Igor Kolomejskij, Chef der Dnepropetrowsker "Privat"-Gruppe. "Privat" soll angeblich auch in Unsere Ukraine investieren. Präsident Juschenko selbst ist ein Hausfreund des Schokoladenfabrikanten Pjotr Poroschenko. "Bei uns herrscht Monetokratie", spottet der Kiewer Politologe Dmitrij Wydrin. "Daran wird sich nichts ändern."
Im Sommer 2006, damals herrschte in der Ukraine einmal kein Wahlkampf, erklärte ein Parlamentarier der Partei der Regionen gegenüber der "Komsomolskaja Prawda", Julia Timoschenko dope sich mit Kokain. Seine Behauptung erstaunte viele in der Rada weniger als das zähneknirschende Dementi, das der Mann nach ein paar Tagen folgen ließ. "Den hat wohl Achmedow gehörig ins Gebet genommen", vermutete eine Insiderin. "Privat verstehen sich Achmedow und Timoschenko nämlich ziemlich gut." Wie die Helden und Schurken der Seifenopern mögen sich die ukrainischen Monetokraten vor den Kameras zerfleischen. Aber scheinbar gehört es zu ihrem Schauspieler-Ethos, über ihre geheimen Freundschaften, Vorlieben und Laster den Mantel solidarischen Schweigens zu breiten. Stefan Scholl z