Anna Amalia Bibliothek
Im Weimarer Büchertempel sind die schlimmsten Brandschäden behoben
Weimar, Platz der Demokratie: Hier, in der kopfsteingepflas-terten Heimat der deutschen Dichter und Denker steht die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Sie hat die Jahrhunderte überdauert und die politischen Systeme. 1691 wurde sie gegründet, von 1797 bis zu seinem Tode war Goethe ihr Leiter und nannte sie "Tempel zur Veredelung der Menschheit". 2004 brannte es in diesem Tempel. Lichterloh. Die Flammen schlugen 30 Meter hoch aus dem Dachstuhl, brachen die Decke zum berühmten Rokokosaal durch und zerstörten die obere Galerie mit ihren wertvollen Büchern, Manuskripten, Handschriften und Gemälden. Drei Jahre später sind die letzten äußerlichen Spuren jener September-Katastrophe getilgt. Zuvor hatten der Bund und Thüringen die Sanierung der baufälligen Bibliothek jahrelang aufgeschoben, bis vermutlich die verschmorte Klemmverbindung einer Aluminium- und Kupferleitung die ausgearbeiteten Pläne Makulatur werden ließ.
Wenige Tage nach dem Brand wurde gemutmaßt, dieser heilige Ort Deutscher Klassik sei auf immer verloren - genauso wie seine Bücher. Davon könne aber keine Rede sein. "50.000 Bücher haben sich in Rauch aufgelöst", bilanziert Matthias Hageböck, Leiter der Restaurationswerkstatt: "62.000 Bücher sind mehr oder weniger stark beschädigt. Mittlerweile befindet sich dieses Material wieder in Weimar." Von diesen 62.000 Büchern hat man eine Art digitale Krankenakte mit individueller Schadensanalyse angelegt. Schädigungsgruppen wurden zusammengestellt, Schriften nach Papiersorten und Bucheinbänden sortiert, ein Masterplan erstellt. Danach lassen sich etwa 42.000 Stücke, wie die Bücher hier verwaltungstechnisch genannt werden, bis 2015 wieder restaurieren. Luftkeimmessung, Aschebücher, schwarz gebackene Buchblöcke, Löschwasseranalyse - Begriffe, die Hageböck und den Bibliotheksmitarbeitern wie selbstverständlich über die Lippen kommen. Zumindest im Sprachgebrauch hat man die Folgen des Brandes bewältigt.
20 Millionen Euro werden für die Buchrestauration benötigt. Bis 2012 ist die Finanzierung gesichert. Derweil herrscht wieder Alltag in der kleinen bibliothekseigenen Werkstatt: Die meisten Aufträge für Buchrestaurationen werden an Firmen in ganz Deutschland vergeben. Referenzen müssen geprüft, Angebote geschrieben, Musterstücke und Ergebnisse begutachtet werden. Alles das, was nicht zu restaurieren sei, etwa 20.000 Exemplare, die nur noch aus einzelnen Blatt-Sammlungen bestehen, die keinen Einband mehr haben oder deren Heftungen verbrannt sind, weil sie dummerweise mit dem Rücken zum brennenden Raum standen, werde man natürlich nicht wegschmeißen, so Hageböck. Diese Brandstücke habe man erst einmal zwischengelagert, um Zeit zu gewinnen und sie vielleicht doch noch retten zu können.
"Vergleichen Sie das mit einem Arzt. Im Alltag bis zu diesem Unglück war ich Allgemeinmediziner und habe die Bücher hier versorgt, also mal einen Blinddarm oder die Mandeln herausgenommen. Routine. Dann kam der Brand - und es war wie in einem Kriegslazarett. Da kommen die Patienten reihenweise. Und es wird ganz klar gesagt: Der hat sowieso keine Überlebenschance, der kommt in die blaue Kiste. Den werden wir nicht einfach in den Müll schmeißen, der wird ehrenvoll bestattet. Bei anderen Patienten gibt es durchaus eine Überlebenschance. Da wissen wir, welche Therapien anzuwenden sind: Wunden schließen und als geheilt wieder in das Bücherregal entlassen. Dann gibt es andere, die haben komplizierte Brüche, wie die Leder- und Pergamentbände. Da müssen wir erst einmal überlegen, wie wir das am Besten machen. Schienen wir das Bein oder kann man da vielleicht etwas ganz Neues machen? Muss es unbedingt immer eine große Narbe sein oder können wir nicht mit Laser arbeiten, damit wir vielleicht überhaupt keine Stiche sehen?"
Trotz bester medizinischer Versorgung sind etwa 50.000 Bände der Herzogin Anna Amalia Bibliothek unwiederbringlich ver-loren. Zwar ist die Literatur der Weimarer Klassik vom Brand weitgehend verschont geblieben. Aber man werde nie mehr zur Gänze wissen, was Goethe, Schiller oder Herder handschriftlich an die Seitenränder der ausgeliehenen Bücher geschrieben haben, erläutert Direktor Knoche. "Bei den Totalverlusten gehen wir so vor, dass wir alle Werke in einer Verlustdatenbank aufgelistet haben und versuchen, für jedes verlorene Exemplar ein Ersatzexemplar zu finden. Das gelingt uns nur zum kleinen Teil. Aber sagen: ,Wenn wir 30 Jahre bei der Stange bleiben und dafür auch Geld einwerben können, dann werden wir 70 Prozent der Totalverluste wieder ersetzen zu können!' Wir sind jetzt bei einer Zahl von 3.300 Ersatzexemplaren für diese 50.000 verlorenen Bücher. Das ist gar keine schlechte Quote."
Während die Buchrestauratoren für Jahre die Nachwirkungen des Feuers noch beheben müssen, haben die Handwerker ihre Arbeiten an der historischen Bibliothek abge-schlossen. Vor allem der prächtige Rokokosaal, der schwer beschädigt wurde, ist neu auferstanden: Scheinbar unversehrt und strahlender als vor dem Brand, schimmert der berühmte dreigeschossige Lesesaal jetzt in einem gebläuten Weiß. Tausende winzige Goldlinien hat man auf die Rocaillen, die weißen Geländerstreben, gemalt. Jedes einzelne Bücherbrett ist mit einer strahlenden Goldkante versehen. Die ersten Bücher stehen bereits in den Regalen. Und auch die Filzpantoffel für die Besucher stehen bereit. Mit 100.000 Bibliotheksbesuchern rechnet Sabine Wenzel, Direktorin für Schlösser, Gärten und Bauten der Klassik Stiftung Weimar - so wie vor dem Brand.
Zu gestalterischen Neuerungen des Baus gehören auch die rhombenförmigen fla-schengrünen Fliesen im Eingangsbereich des Renaissance-Erdgeschosses. Muster und Textur entsprechen dem originalen Zustand, so Wenzel. Was bis zum Brand durch Einbauten versteckt war, konnte jetzt rekonstruiert werden. Bei Souvenirjägern sind die Fliesen äußerst beliebt. Und mancher Besucher habe versucht, sich ein Stück Kultur "in die Tasche zu stecken", erzählt Wenzel, die dem Brand auch etwas Positives abgewinnen kann. Zumindest haben die Architekten so viel über das Gebäude erfahren, über die Konstruktion und verdeckte Schäden. Heute stehe der historische Bau auf einer besseren, sicheren Grundlage, so die engagierte Architektin.
Auch Skurriles brachten die Flammen. Es schien, "als habe es die halbe Nation darauf angelegt, ihre ungelesenen Goethe-Ausgaben nach Weimar zurückzusenden", berichtet Bibliotheksdirektor Michael Knoche über die öffentliche Hilfsbereitschaft - und erzählt von Bücher-Carepaketen, die ihn nach dem Brand erreicht hätten. Aber heißt das nicht, dass 99 Prozent der Bevölkerung nicht wissen, was in der Bibliothek verwahrt wird? "Das mag so sein", entgegnet Knoche, "die Bibliothek ist im allgemeinen Bewusstsein erst durch den Brand verankert worden. Aber das ist bei Bibliotheken, die so spezialisiert sind, auch nicht verwunderlich. Weimar hat als Bibliotheksstandort auch vor dem Brand eine Bekanntheit gehabt, weil wir auch eine der wenigen Forschungsbibliotheken waren, die öffentlich zugänglich war."
Michael Knoche wirkt müde angesichts des Trubels um die Wiedereröffnung. Noch im März hat er mit all seiner intellektuellen und institutionellen Macht gedroht, von seinem Posten zurückzutreten, weil es um die Finanzen des berühmten Büchertempels nicht zum Besten stand. Mehrere Bibliothekarsstellen blieben unbesetzt, weil das Geld fehlte. Das hat sich mittlerweile geändert. Der Bund und das Land Thüringen, als Träger der Klassik-Stiftung Weimar, zu der die Bibliothek gehört, haben die dringendsten finanziellen Nöte der Weimarer Klassikpfleger gelindert.
Unter dem Druck fehlender öffentlicher Finanzmittel sind auch die Mitarbeiter der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gezwungen, neue Wege zu beschreiten. Die Zusammenarbeit mit Unternehmen und Mäzenen bestimmt nun das Tagesgeschäft von Michael Knoche. "Wir haben nicht viele Großsponsoren finden können. Die Vodafone-Stiftung hat uns fünf Millionen Euro bereitgestellt. Da wird natürlich auf die eine oder andere Weise auf den Spender hingewiesen. Wenn wir in ein, zwei Jahren in die Einzelrestaurierung gehen, dann können wir bestimmte Bücher unseren Spendern zuordnen und den Namen des Spenders ex libris ins Buch einfügen."
Auch Weimars Stadtobere sind stolz auf ihre Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Schon gibt es Bibliothekssticker, Kaffeetassen und T-Shirts mit ihrem Konterfei. "Es ist legitim, interessante Bauwerke zu vermarkten. Nicht zuletzt, um auch den Touristen die Weimarer Klassik nahezubringen", sagt Stadtkulturdirektor Ulrich Dillman, "mir ist es recht, wenn jemand kommt und fragt: In Weimar hat es doch gebrannt, wie sieht es dort aus? Und der sich dann auch ein Stück weit mit der Erstausgabe von Faust oder anderen literarischen Zeugnissen beschäftigt. Das ist auch ein Bildungsprozess, der so in Gang kommen kann."