Lehrerjahre
Hartmut von Hentig präsentiert den zweiten Teil seiner Lebenserinnerungen
Die Menschen stärken, die Sachen klären. Die Schule neu denken. Die Schule nimmt den ganzen Menschen wahr. Jedes Kind soll die bestmögliche Förderung erhalten. Lebensprobleme gehen vor Lernproblemen. Der Reformpädagoge Hartmut von Hentig resümiert im zweiten Teil seiner Lebenserinnerungen "Mein Leben - Schule, Polis, Gartenhaus" die wichtigsten Stationen seines bildungspolitischen Engagements, zieht Bilanz und zeigt "Schul"-Wege in die Zukunft.
Wie sieht die humane Schule aus? Antwort: Eine Schule, die ihre Schüler zur Selbstständigkeit und sozialen Verantwortung erzieht; eine Schule, an der jedem Kind seine ihm gemäße Lernzeit zugestanden wird; eine Lern- und Lebensgemeinschaft, in der soziales und verantwortliches Handeln zum Gemeinwohl beiträgt. Wichtig ist ihm, "dass wir die Gruppen klein halten; dass wir mit den Kindern höflich umgehen, freundlich mit ihnen sind und sie ernst nehmen; dass wir niemanden ausschließen."
Nach dem ersten Band "Kindheit und Jugend" stehen im zweiten Band seine Lehrerjahre im Mittelpunkt. Hartmut von Hentig kehrt im Jahr 1953 nach fünfjährigem Aufenthalt aus den USA nach Deutschland zurück. Als Junglehrer im Internat Birklehof wird er mit den Problemen des Lehrens und Lernens konfrontiert und berichtet in seiner Rückschau nicht ohne Selbstironie: "Ich war ohne jegliche Lehrerfahrung, reproduzierte den Unterricht, den man mir als Schüler angetan hatte, und wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, eine Lachnummer für meine Schüler, hätte ich nicht mit ihnen zusammengelebt. Meinen schlechten Unterricht haben sie mir verziehen, ja sie haben ihn zu retten versucht, weil sie mich als Person schätzten - einen Vierundzwanzigstunden-Ratgeber, Unterhalter, Tröster, Zuhörer, einen Gelände-Spieler, Morgenläufer, Verteidiger gegen die Eltern, gegen die Peers, gegen die Schule, am Ende ihr Freund." Diese ersten Erfahrungen als Lehrer beeinflussen sein pä- dagogisches Konzept.
Hartmut von Hentig entwickelt eigene, neue Vorstellungen von Schule. Seine Ziele: "Unsere Schule ist ein Gemeinschaftswerk aller, die in ihr leben und arbeiten. Die Schule trifft ihre Entscheidungen demokratisch. Sie will ein Höchstmaß an Aufklärung mit einem Höchstmaß an Wohlbefinden ihrer Mitglieder verbinden. Die Schule nimmt den ganzen Menschen wahr."
Hartmut von Hentig war Professor für Pädagogik, erst in Göttingen, dann an der Reformuniversität Bielefeld, wo er die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg gründete und bis zu seiner Emeritierung 1987 deren Wissenschaftlicher Leiter war. In seinem Buch kritisiert er die "unbarmherzigen Folgen" von Pisa, die er als "permanente und umfassende Output-Überprüfung" ohne pädagogischen Gewinn beschreibt. Pisa ist abfragbares Wissen; Bildung aber umfasst die ganze Persönlichkeit eines Menschen.
Zum Thema Leistungsmessung erinnert er an die Erfahrungen, die er in der Laborschule gemacht hat: "Dass wir mit den Berichten zum Lernvorgang der schädlichen und verlogenen Benotung durch Ziffern ein Ende gemacht haben, zählt zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen der Laborschul-Pädagogik vom herkömmlichen System, das Lehrer, Schüler und Eltern auf falsche Vorstellungen von Bildung, Leistung und Gerechtigkeit festlegt." Hartmut von Hentig wollte die "Eins-bis-sechs-Messlatte" durch eine fördernde Diagnose ersetzen.
Hartmut von Hentig hat sich stets in bildungspolitischen Fragen kompetent und couragiert eingemischt. Sein Fazit: "Ich bin kein ,Linker', kein ,Weltverbesserer', kein ,Radikaler', kein ,Intellektueller', kein ,Internationalist', kein ,Individualist', ich bin nicht einmal ein Aktivist. Zu alledem hat mich irgendwer irgendwann einmal stempeln wollen, und von alledem steckt auch etwas in mir, aber es erklärt mich nicht."
Die Schule versteht er als eine Polis, in der die Politik als Regelung gemeinsamer Angelegenheiten täglich innerhalb und außerhalb des Unterrichts vorkommt. Die Schüler erfahren, dass sie in einer sich schnell wandelnden Welt nie "zu Ende" gelernt haben und dass sie in einer politischen Welt leben, in der es Machtgefälle, Konflikte, Verantwortungen gibt und dass ihre Verantwortung mit ihren Rechten zunimmt.
Der Leser gewinnt den Eindruck, dass Hartmut von Hentig viele Stationen seines Lebens und Wirkens selbstkritisch, detailliert und authentisch schildert als hätte er stets ausführlich Tagebuch geführt. Er schildert seine Begegnungen zum Beispiel mit Golo Mann an der Technischen Universität in Stuttgart, wohin er "jeden Donnerstag mit einem Auto voll Abiturienten fuhr", um dessen Vorlesung zusammen mit seinen Schülern zu hören.
Hartmut von Hentig hat die Schule "neu gedacht" und trotz vieler Widerstände in die Praxis umgesetzt. Er kann deshalb zu Recht selbstbewusst und optimistisch formulieren: "So ist mein Leben jetzt. Es wird weiterhin geprüft -und noch immer bejaht." Ein Lesetipp für Bildungspolitiker und Pädagogen.
Mein Leben - bedacht und bejaht. Schule, Polis, Gartenhaus.
Carl Hanser Verlag, München 2007; 665 S., 25,90 ¤