Streitschrift
Wolfgang Sofsky wettert gegen den Überwachungsstaat - nur bedingt überzeugend
Im Reich der kafkaesken Alpträume hat sich Nachwuchs eingestellt. Josef K., bekannt als unschuldig gejagter Held aus Franz Kafkas Roman "Der Prozess", scheint ein literarisches Geschwisterchen bekommen zu haben. Sein Name: Anton B.. Dieser spukt zwischen den Anfangsseiten der aktuellen Streitschrift "Verteidigung des Privaten" des Soziologen Wolfgang Sofsky herum. Eigentlich sollte es sich bei dieser Verteidigung um fiktionsfreie Sachliteratur handeln - um einen couragierten Essay, der nach Verlagsangaben sensibel machen will für die zunehmenden staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre und der für die Freiheit des Individuums plädiert. Der frei erfundene Anton B. gilt Sofsky hierfür als willkommenes Anschauungsobjekt. Sein Schicksal nämlich liest sich wie folgt: "Als Anton B. morgens das Haus verließ, war er bereits dreimal registriert."
Wer dächte bei dieser Konstruktion nicht an das Ungemach, welches vor gut hundert Jahren Kafkas Romanhelden Josef K. widerfuhr? Über den hatten unbekannte Mächte bekanntlich soviel Informationen gesammelt, dass sie ihn eines morgens unschuldig verhafteten. Soweit indes lässt es Sofsky mit seinem Helden nicht kommen. Noch bevor Anton aus unzähligen Überwachungskameras, Kreditkartenregistrierungen und Handyabrechnungen einen Strick gedreht bekommt, lässt sein Erfinder ihn wieder zwischen den Zeilen seines Essays verschwinden.
Doch die kafkaeske Anekdote über Herrn B. und dessen Leben im Dickicht der totalen Überwachung hinterlässt Eindruck. Was Sofskys Schrift wider den Ausverkauf der bürgerlichen Intimbereiche hier bloßlegt, das ist das trügerische Streben nach totaler Sicherheit. Hierfür haben sich viele Zeitgenossen längst mit der Transparenz ihrer Lebensverhältnisse arrangiert. Dabei hätte einem ein Blick in die Weltliteratur Warnung sein müssen. Ein Josef K. im Raster der Observationstechniken des 21. Jahrhunderts wäre nicht mehr nur ein schamhafter Tropf, er wäre das entblättertste Wesen der gesamten Literaturgeschichte.
Sofskys Sorgen sind also nicht aus der Luft gegriffen. Es gäbe, so schreibt er, einen Trend zu einem sanften und gesetzestreuen Totalitarismus. Dieser sei einzig darauf aus, die private Existenz bis in ihr physisches Zentrum hinein zu zerstören. Für den Soziologen geht es bei der Unterwanderung des Privaten also um nicht weniger, als um die Aushöhlung der Selbstbestimmung. "Privatheit", so Sofsky, "ist die Zitadelle der persönliche Freiheit. Sie bewahrt vor Enteignung und Entmündigung, vor Aufdringlichkeit und Bevormundung, vor Macht und Zwang. Unbefugten ist der Zutritt verwehrt."
Doch eben diese Unbefugten seien es, die unter dem Deckemäntelchen von Sicherheitsinteressen immer wieder einen Blick hinter unsere intimsten Kulissen werfen wollten. Der "Spitzwegsche Winkel" sei zunehmend von Webcams, Abhörwanzen und Richtmikrophonen umstellt. All das habe sich als schleichender Prozess vollzogen. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts nämlich hätten nichtöffentliche Schutzzonen hoch im Kurs gestanden. War Privatheit zunächst ein Bürgerprivileg, ausgeübt in Salons und Herrenzimmer, so hätte das Heer der Arbeiter nicht einmal Türen gehabt, hinter denen es seine Notdurft verrichten konnte. Erst die neue Mittelstandsgesellschaft habe die eigenen vier Wände zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen.
Doch je mehr Innerlichkeit, desto größer auch die Begehrlichkeiten. Spätestens die 68er-Bewegung und deren selbstentblößenden Forderungen nach dem politischen Privaten, habe für Sofsky die Kehrtwende eingeleitet. Zunächst wurden erneut die Klotüren ausgehängt, später dann nahezu sämtlich geschützte Binnenräume zur Disposition gestellt.
Bis zu dieser Stelle ist Wolfgang Sofskys Apologie auf das Private ein erfreulich querdenkerisches und unterhaltsames Büchlein. Mittels immer neuer Gedankenschleifen kreiert es einen reichen Fundus, in dem der Leser zahlreiche Auskünfte über das Verhältnis des Ichs zu seiner Mitwelt findet. Und doch: am Ende lässt ihn diese Streitschrift unbefriedigt zurück. Denn so reichhaltig die Diagnose, so dürftig die Ursachenforschung. Die entscheidende Frage nämlich, was hinter diesem Entprivatisierungsdrang liegen mag, wird vom Autor links liegen gelassen.
Stattdessen verfängt er sich in einem Popanz. Diesen kleidet er mit Begriffen wie "Staatsmacht" oder "Obrigkeit". Auf diese Weise vergisst Sofsky, dass das absolutistische "l'etat c'est moi" längst seine egalitäre Wendung erfahren hat. Nicht der vormoderne Leviathan ist es, der mit seinen ausgefahrenen Tentakeln die Privatheit gefährdet, es ist der Bürger selbst, der aus Angst vor dem Tod einen schleichenden Selbstmord inszeniert. Zwar erkennt Sofsky, dass der Bürger als "technikbegeisterter Exhibitionist" der eigenen Entblößung mit Fernsehformaten aus dem Container oder online ausgestellten Privaträumen oft Vorschub geleistet hat, doch er ist nicht in der Lage, Schlüsse hieraus zu ziehen. Die Unterwanderung des Privaten nämlich scheint zunehmend den partikularen Einzelinteressen zu entsprechen. Es ist der demokratische Souverän, der am rechtstaatlichen Fundament zu sägen begonnen hat - der auf seine Grundrechte zu pfeifen beginnt. Solange es Sofsky nicht gelingt, diese selbstzerstörerische Dimension in den Blick zu bekommen, solange bleibt seine "Verteidigung des Privaten" vornehmlich eins: ein wortstarkes Gefecht, ausgeübt an falscher Front.
Verteidigung des Privaten. Eine Streitschrift.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 160 S., 16,90 ¤