SCHULPROGRAMME
Viele Kinder kennen einfache Lebensmittel nicht. Das Schulmilchteam klärt an Schulen in NRW auf.
Kevins Hände sind schon ganz rot vom Schrubben der Kartoffel. Der elfjährige Schüler behandelt die Knolle so eifrig, dass er seinen mittler- weile nassen Kapuzenpulli kaum bemerkt. "Zuhause koche ich nicht", sagt er. Rohe und erdige Kartoffeln hat er deswegen auch erst in dieser Woche kennen gelernt. "Ich esse sonst Spaghetti", sagt er. Und bei der Oma auch mal Kartoffeln. "Aber die sind schon fertig."
Die Essener Hauptschule an der Bärendelle hat zu einer "gesunden Woche" aufgerufen. Schülerinnen und Schüler sollen Grundnahrungsmittel kennenlernen und auch ein wenig kochen. "Viele haben den Bezug zu Lebensmitteln verloren", sagt Lehrerin Helga Kaul. Mit einem gemeinsamen Frühstück versuche die Schule in der Ruhrgebietsstadt schon seit langem, Kinder an gemeinsame und gesunde Mahlzeiten zu gewöhnen. "Viele essen gar nichts, bevor sie zur Schule kommen", erzählt Kaul. In der Schule haben sie aber großen Spaß daran - der Leistungsdruck von Fächern wie Mathematik oder Deutsch fällt weg. "Alles was praktisch ist, machen sie gerne."
Wie zum Beispiel Kräuter schneiden. Denn zu den Kartoffeln soll es auch noch Kräuterquark und selbstgeschüttelte Butter geben. Michaela Maurer vom Schulmilchteam stellt erst einmal einen Arbeitsplan auf. Das Schulmilchteam wird von der nordrhein-westfälischen Landesregierung finanziert und klärt an Schulen des Landes über gesunde Ernährung auf, von der ersten bis zur zehnten Klasse. "Was sollen wir zuerst machen?", fragt Maurer in die Runde von neunzehn Schülern und Schülerinnen. "Kartoffeln waschen", ruft einer. "Zuerst die Hände waschen", meint ein Mädchen. Alles richtig. Kurz darauf steht der Plan: Hände und Kartoffeln waschen, dann kochen, zwischendurch Kräuter schneiden und mit Quark anrühren. Und dann aus Sahne Butter schlagen. Die Schüler gucken erstaunt und lachen. Aus Sahne Butter schlagen? Maurer beruhigt sie. "Das könnt ihr alle."
Nur sechs von 18 Kindern haben schon einmal Kartoffeln gekocht. Das sei normal, sagt Maurer. Immerhin haben alle schon einmal Kartoffeln gegessen. Das ist nicht selbstverständlich. Die Donald-Studie, eine einzigartige Langzeitstudie zur Ernährung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vom Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) hat fest gestellt: Kinder essen regelmäßig Fast Food und Fertiggerichte und greifen häufig zu zuckerhaltigen Getränken. Dabei zählen diese Erfrischungsgetränke laut der Studie zu Süßigkeiten, die nur selten zu sich genommen werden sollten. Und noch ein Befund von Donald ist interessant: Eltern scheinen am Fett zu sparen. Dennoch ist die Menge der aufgenommenen Kalorien in den vergangenen Jahren gleich hoch. Fehlende Kenntnisse der Eltern scheinen hier die Ursache zu sein.
Ernährungswissenschaftlerin Mathilde Kersting ist stellvertretende Leiterin des FKE. "Schon in der frühen Kindheit werden die Wurzeln für das spätere Essverhalten gelegt", sagt Kersting. Der Geschmackssinn werde wahrscheinlich schon vor der Geburt über Geschmacksstoffe aus der Ernährung der Mutter, die über das Fruchtwasser vom Kind wahrgenommen werden, und über die Muttermilch geprägt. So hätten Mütter, die als Schwangere viel Karottensaft trinken, häufiger Kinder, die ähnliche Geschmacksvorlieben entwickeln. Trotzdem, sagt Kersting: "Wir müssen auch später alle Chancen nutzen, Kindern eine gesunde Ernährung schmackhaft zu machen." Ihr Forschungsinstitut hat die Optimierte Mischkost "Optimix" entwickelt, eine praktische Anleitung für Familien und Schulen für leckeres und gleichzeitig gesundes Essen. Um den Geschmack der Heranwachsenden zu treffen, müssten oftmals nur Details in der Zubereiung verändert werden. So bevorzugen Kinder rohes Gemüse statt gekochtes, sie essen lieber Vollkornbrot aus gemahlenem Mehl als aus Körnern. "Im Grunde ist das gesunde Essen ganz einfach herzustellen", sagt Kersting.
Zwei Tage vor dem Kochkurs waren alle Schüler der Essener Hauptschule auf einem Bauernhof und haben die Kartoffeln selbst aus dem Acker geholt. "Das war total cool", sagt Ahmet. Ihm haben es aber nicht die kleinen Knollen angetan, sondern die Traktoren. "Wir durften uns auf die Maschinen setzen", erzählt er. Lässig wäscht der dunkelhaarige Zwölfjährige mit der weiten Jeans die Kartoffeln. "Habe ich schon ein paarmal in der Grundschule gemacht", sagt er stolz. Zuhause, bei seinen drei Brüdern und der Schwester, hilft er auch manchmal in der Küche. "Aber mehr so Nudeln," sagt er. Der Kräuterquark ist für viele schon schwieriger zuzubereiten als die Kartoffeln. Sie fuchteln mit den Frühlingszwiebeln und dem Schnittlauch herum und schneiden sie in sehr große Stücke. "Meine Augen brennen", schreit ein kleiner Junge, während er die Frühlingszwiebel bearbeitet. Wieso seine Augen brennen, versteht er aber nicht. "Wer hat hier eine Zwiebel versteckt?" ruft er quer durch den Raum. Sein Nachbar erklärt ihm, dass er selber eine Zwiebel schneide. "Nur eine andere." Ok, weiterschneiden. Nicht ganz leicht mit den recht stumpfen Messern der Versuchsküche.
Normalerweise findet hier der Haushaltsunterricht statt, den alle Hauptschüler ab der siebten Klasse besuchen. Jeweils vier Herde, Spülen und lange Arbeitsplatten stehen bereit, nach wenigen Minuten breiten sich Kartoffelstücke, Quarkkleckse und ein paar Kräuterstücke in der Küche aus. "Abschmecken nicht mit den Fingern, sondern mit einem kleinen Löffel", ruft Michaela Maurer. Geduldig erklärt sie jeden Schritt, jedes Besteck und jede Handlung.
Die sportliche braungelockte Frau hat schon vielen Kindern das Essen erklärt. Vor allem in Großstädten, erzählt sie, hätten Kinder tatsächlich noch keine Kuh gesehen. "Viele kennen nur die spichwörtliche lila Kuh", sagt sie. In Städten wie Köln oder Düsseldorf fällt es sogar schwer, die Klassen mit auf einen Bauernhof zu nehmen. "Wir müssten dann so lange mit dem Bus fahren, das lohnt sich manchmal gar nicht", sagt Maurer. Trotzdem werde das Angebot immer häufiger gebucht. Sie hat auch beobachtet, dass Kinder sich in exotischen Gefilden, bei ausländischen Tieren und Nahrungsmitteln oftmals besser auskennen als mit der heimischen Kartoffel und Milchkühen. "Sie sehen im Fernsehen eher Reportagen über Löwen als über Säue und Kühe."
Viele lernen von den Großeltern das Kochen. Wie zum Beispiel Dominik. "Bei meiner Oma kann ich backen", sagt er stolz und zupft an seinem Käppi. Plätzchen habe er schon gemacht und auch einen Kuchen. "Voll geil", sagt er. Die elfjährige Ilenia kennt das nicht. "Bei uns gibt es immer Spaghetti", sagt sie. "Spaghetti mit Kartoffeln". Sicher? "Ja, mit Kartoffeln und Tomatensauce." Ilenia hat ihre dunklen Haare zum Zopf gebunden und trägt zahllose Ketten über ihrem rosa Pullover. Sie versucht, sich nicht zu bekleckern. Im erdigen Feld hat sie trotzdem gerne nach den Kartoffeln gesucht. "Das war sehr schön."
Fast so schön wie die selbst gemachte Butter. Die Schüler füllen Sahne in ein Schraubglas und schütteln es so lange, bis sich ein Brocken Butter von der wässrigen Flüssigkeit absetzt. Oder so lange, bis der Arm schlapp macht. Die zarten Elfjährigen stöhnen. Als die Sahne mit jedem Schütteln fester wird und sich kleine goldgelbe Klumpen bilden, sind aber auch sie restlos begeistert. "Ist das echt Butter?", fragt Ilenia ungläubig. Sie darf ihren Finger in das weiche Fett tunken und ablecken. Und so ist die ganze Klasse ein wenig ungläubig, als sie wenige Minuten später am selbst gedeckten Tisch die Teller mit den selbst geernteten und zubereiteten Gerichten vor sich hat. In wenigen Minuten sind die Kartoffelberge verschlungen. Auch Dominik hat seinen Teller in Windeseile geleert - obwohl er, wie er am Anfang sagte, "eigentlich nur Pommes" gerne isst.