SKANDALE
Der Aktionismus nach Lebensmittelskandalen ist immer groß. Trotzdem erzielen Verbraucherschützer nur kleine Erfolge. Schuld daran sind fehlende deutschlandweit einheitliche Standards bei Kontrollen, aber auch die Verbraucher.
Im Sommer 2007 war es wieder so weit: Die Deutschen bekamen tonnenweise Gammelfleisch aufgetischt. Ein windiger Zwischenhändler aus Bayern hatte Schlachtabfällen in erstklassiges Frischfleisch umetikettiert, bevor er es mit einer satten Gewinnspanne an Berliner Dönerhersteller verscherbelte. Während Verbraucherorganisationen sofort ihre Forderungen nach besserem Schutz der Konsumenten auspackten und die Politik erstaunlich schnell reagierte, schienen die Bürger allenfalls ein Schulterzucken für die Machenschaften übrig zu haben. Schließlich war das Zeug zwar unappetitlich, aber nicht gesundheitsgefährdend. Also Schwamm drüber und schnell vergessen, dass skrupellose Geschäftemacher wieder einmal sämtliche Kontrollen unterlaufen konnten?
Lebensmittelskandale kommen schnell in die Schlagzeilen und verschwinden wieder. Die Menschen glauben offenbar nur zu gern, dass es sich jedesmal um einen "Einzelfall" handelt und verdrängen das unappetitliche Thema. Das war vermutlich schon beim Hamburger Sülzeaufstand 1919 so, dem ersten bekannten Fleischskandal in Deutschland. Damals gingen die Bürger aber noch auf die Barrikaden, als bekannt wurde, dass eine Fleischfabrik halbverweste Tierkadaver verarbeitete. Nur der Aufmarsch von Polizei und Militär konnte die aufgebrachte Menge beschwichtigen. Als 1985 der Glykolskandal publik wurde, reagierten die getäuschten Konsumenten viel gelassener. Sie griffen zu ihrer stärksten Waffe, dem Kaufverzicht. Österreichische Winzer hatten damals im großen Stil Wein mit Frostschutzmittel "aufgewertet". Auch deutsche Winzer waren in den Schwindel verwickelt. Letztlich zeigte die betrügerische Panscherei aber positive Folgen: Schärfere Weingesetze wurden verabschiedet, und die Konsumenten entwickelten ein höheres Qualitätsbewusstsein.
Vom nächsten großen Aufreger spricht heute auch schon keiner mehr. Dabei ist es nur wenige Jahre her, dass die Rinderseuche BSE die Gemüter der ganzen Nation erregte. Offenbar hatte verbotenes Tiermehl im Futter die Kühe krank gemacht. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Rinderwahn steigerte sich damals fast zur Hysterie, als man auch auf Brühwürfel und Gummibärchen verzichtete. Die strengen Schutzmaßnahmen gelten übrigens bis heute. So darf jedes geschlachtete Rind über 30 Monate erst dann verarbeitet werden, wenn ein BSE-Test Entwarnung gegeben hat. Teile wie Hirn, Wirbelsäule oder Darm müssen in jedem Fall sofort entsorgt werden. Alles andere vom Rind wird heute wieder ganz unbesorgt verspeist, obwohl jedes Jahr einige neue BSE-Fälle bei Rindern festgestellt werden.
2005 begann dann die Serie der dreisten Fleischbetrügereien, die bis heute anhalten. Die öffentliche Empörung war anfangs groß, ebenso der Aktionismus des damals neuen Verbraucherministers Horst Seehofer. Er brachte ein Sofortprogramm auf den Weg und wollte jedes einzelne Kühlhaus auf den Kopf stellen lassen. Im politischen Alltag ging es dann nicht ganz so schneidig voran. Damals wie heute genügten ein paar neue Etiketten, um altes Fleisch frisch oder minderwertiges hochwertig zu machen. Gerade mit dem so genannten K-3-Material lässt sich bislang fast ungehindert illegaler Profit machen. Diese genießbaren, aber für den menschlichen Verzehr ungeeigneten Schlachtabfälle wandern daher nicht nur in Hunde- oder Katzenfutter, sondern auf manchen Fleischspieß. Der Konsument hat keine Chance, das Ekelfleisch im gut gewürzten Döner zu schmecken, ebenso wenig wie längst abgelaufenes Tiefkühlfleisch in einer scharfen Gulaschsuppe.
Und was ist mit der amtlichen Lebensmittelkontrolle? Die tut nach eigenen Angaben ihr Bestes, doch im Kampf gegen den organisierten Betrug steht sie auf verlorenem Posten. Das beginnt damit, dass die Zahl der Kontrolleure sich nach der Einwohnerzahl ihres Landkreises bemisst, nicht nach Menge oder Größe der dort angesiedelten Betriebe. Der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure beklagt eine chronische Unterbesetzung und mangelndes Engagement der örtlichen Behörden, ausreichend in die Lebensmittelüberwachung zu investieren. Lebensmittelkontrolle ist in Deutschland Ländersache, verwaltet von den Landkreisen. Es gibt daher keine einheitlichen Standards dafür, wie, wo, wann und wie oft eine Frittenbude, ein Supermarkt oder eine Fleischfabrik geprüft werden. Während effektive Kontrolle heute im Prinzip europaweit organisiert werden müsste, beharren die Bundesländer auf Eigenständigkeit. Da prallen dann nicht nur die Forderungen nach mehr und besseren Lebensmittelkontrollen der Vebraucherorganisationen ab. Auch der für Verbraucherschutz zuständige Bundesminister beißt auf Granit. Der Wunsch nach speziellen Ermittlungsbehörden für Lebensmittelskandale bleibt dadurch bis dato ebenso auf der Strecke wie die Forderung nach einheitlicher Ausbildung und Ausstattung der deutschen Kontrolleure.
Durch den jüngsten Fleischskandal im Sommer 2007 ist allerdings wieder Bewegung in die Angelegenheit gekommen. Die Verbraucherminister von Bund und Ländern einigten sich flugs auf einige Maßnahmen. So sollen die bislang auf 20.000 Euro begrenzten Bußgelder für den Handel mit ungenießbarem Fleisch auf 50.000 Euro erhöht werden. Wer verdächtige Ware angeboten bekommt, soll dazu verpflichtet werden, das zu melden. Und das berüchtigte K-3-Fleisch soll nun mit Lebensmittelfarbe markiert werden. Das klingt gut, hat aber einen Haken: Die von der EU erteilte Genehmigung gilt nur für Schlachtabfälle, die aus Deutschland stammen und auch hier bleiben. Ob daraus auch eine europaweite Regel wird, ist sehr fraglich. Einen Schritt zu mehr Aufklärung geht auch das neue Verbraucherinformationsgesetz, das der Öffentlichkeit einen Auskunftsanspruch über Kontrollergebnisse zugesteht. Wie das in der Praxis aussehen soll? Man wird sehen. Von Informationen wie in England oder Dänemark sind deutsche Verbraucher meilenweit entfernt. Dort werden die Namen von Herstellern und Vermarktern veröffentlicht, wenn ein Verstoß gegen das Lebensmittelrecht vorliegt.
Das Rennen zwischen Kontrolle und Fleischmafia hierzulande wirkt wie die Geschichte von Hase und Igel, wobei der Verbraucherschutz dem Betrug stets hinterherläuft und nur gelegentlich einen Punktsieg landet, wenn mal wieder ein Kühlhaus leergeräumt wird und ein Fleischhändler seinen Betrieb dicht machen muss.
Ganz unschuldig an der gegenwärtigen Situation ist auch der Verbraucher nicht, der sich hierzulande sehr an niedrige Lebensmittelpreise gewöhnt hat. Der Kunde wolle keinen qualitativen Mehrwert, für ihn sei der Preis das alles bestimmende Kriterium, heißt es in der Fleischindustrie. Tatsächlich scheint das Konsumentenverhalten dieser Annahme recht zu geben. Der Verbraucher hat sich bei jedem Lebensmittelskandal nur kurz geschüttelt und dann wieder zum billigsten Angebot gegriffen. Damit leistet er dem Betrug mit minderwertiger Ware in gewisser Weise Vorschub. Andererseits darf man in Zeiten von Hartz IV nicht vergessen, dass sich viele Menschen Fleisch nur zum Dumpingpreis leisten können. Und das ist ein besonders trauriger Aspekt der aktuellen Lebensmittelskandale.