Essstörungen
Fast vier Prozent aller Frauen bis 35 Jahre leiden an Magersucht oder Bulimie. Für sie geht es nur noch darum, so dünn wie möglich zu sein.
Ob es ein guter Tag wird, entscheidet sich für Jule ein paar Minuten nach dem Aufstehen. Dann steigt die 20-Jährige auf die Waage, zum ersten Mal an diesem Tag. Wenn die ein Ergebnis von unter 50 Kilo anzeigt, ist alles gut. Taucht aber eine Zahl 50plus auf dem Display auf, ist alles gelaufen. "Dann kreisen meine Gedanken nur noch darum, dass ich nichts essen darf, um nicht noch fetter zu werden. Und ich überlege verzweifelt, wie ich wieder abnehmen kann."
Fett. So fühlt sich die Studentin in jeder Minute - und kein Spiegel, kein Beobachter kann ihr dieses Gefühl nehmen, obwohl Jule bei ihrer Größe von knapp 1,76 Meter und einem Gewicht von um die 50 Kilo einen Bodymass-Index (BMI) von etwa 16 hat. Nach der Klassifkiation der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist Jule damit deutlich untergewichtig - Normalgewicht liegt bei einem BMI von 18,5 bis 25. Für Jule spielt diese Definition keine Rolle, denn die Stimme in ihrem Kopf sagt ihr jeden Tag etwas anderes. Diese Stimme hören die meisten der vielen Betroffenen, die unter Essstörungen leiden. Nach Schätzungen von Experten leiden fast vier Prozent aller 15- bis 35-Jährigen unter Magersucht (Anorexia nervosa) oder Bulimie, der Anteil der Frauen unter ihnen ist höher als 95 Prozent. Während Magersüchtige versuchen abzunehmen, indem sie das Essen einstellen, kompensieren Bulimiker die Nahrungsaufnahme, indem sie erbrechen.
Im Laufe ihrer Krankheitsgeschichte wechseln bei vielen Betroffenen anorektische und bulimische Phasen. Auch bei Jule: "Am Anfang habe ich eine Diät gemacht. Dabei habe ich viel abgenommen, in dem ich einfach kaum noch etwas gegessen habe. Es hat mich unglaublich stolz gemacht, den Hunger besiegen zu können und nicht so schwach wie die anderen zu sein, die immer essen mussten. Und die vielen Komplimente, die ich bekommen habe, als ich dünner wurde! Aber irgendwann kamen dann Essanfälle. Dabei stopfte ich alles in mich hinein, was ich finden konnte - ein ganzes Paket Toast, ein Packung Nudeln, literweise Eis. Und das erbrach ich dann wieder, weil ich diese vielen Kalorien in mir nicht ertragen habe."
Jule kennt den Teufelskreis von Fasten und Fressen, sie hat alle möglichen Dinge ausprobiert, um das Gewicht, das ihr so unerträglich scheint, wieder zu reduzieren: exzessiven Sport, Abführmittel, Appetitzügler. Und das sind die harmloseren Begleiterscheinungen der Essstörungen. Während viele Anorektiker an niedrigem Blutdruck, verlangsamtem Herzschlag, Störungen der Elektrolyte und Hormone leiden, haben Bulimiker oft mit zerstörtem Zahnschmelz durch das Erbrechen, Herzrhythmusstörungen oder Entzündungen der Speiseröhre zu kämpfen.
Obwohl die Erkrankung geheilt werden kann, geht sie auch gelegentlich tödlich aus: Etwa zehn Prozent der Magersüchtigen sterben an den Folgen ihrer Krankheit, viele Betroffene brauchen jahrelange therapeutische Betreuung. Eine Studie der Universität Heidelberg spricht sogar von einer Mortalitätsrate von 16,7 Prozent, eine vollständige Heilung wurde nur bei etwas mehr als 50 Prozent der Betroffenen festgestellt.
Helfen kann bei dieser Krankheit nur eine Therapie. Dabei geht es vor allem darum, die falsche Körperwahrnehmung der Betroffenen aufzulösen. Die meisten von ihnen leiden an einer so genannten Körperschemastörung und sind nicht in der Lage, ihren Körper so zu sehen, wie er wirklich ist. Sie konzentrieren sich auf einzelne Körperteile - Oberschenkel, Bauch oder Hüften -, die ihnen als viel zu dick vorkommen. Selbst extreme Abmagerungen werden dabei nicht mehr wahrgenommen. Auch Jule glaubt nur sich selbst: "Meine Mutter und meine Freunde sagen mir immer wieder, dass ich zu dünn bin - aber ich schaue auf meinen Bauch und sehe, dass er viel zu dick ist."
Verständnis für ihre Situation findet die Studentin im Internet: Dort gibt es zahlreiche Online-Foren, in denen sich meist weibliche Magersüchtige oder Bulimikerinnen finden, um sich über ihre Krankheit auszutauschen. Das kann Hilfe und Fluch gleichermaßen sein. Obwohl viele der Mädchen erleichtert darüber sind, Verständnis für ihre Krankheit gefunden zu haben, die von anderen oft nur mit der Bemerkung kommentiert, sie müssten "einfach mal was essen", erzeugt der Vergleich mit anderen Essgestörten oft erneuten Druck. "Wenn ich dann lese, dass jemand mit meiner Größe noch dünner ist, dann frage ich mich natürlich, wie sie das geschafft hat und will das auch", gibt Jule zu.
Obwohl die Studentin inzwischen auf Druck ihrer Familie eine Therapie begonnen und eingesehen hat, dass sie Hilfe braucht, fällt sie oft zurück in alte Verhaltensweisen. Vor allem dann, wenn irgendetwas nicht klappt. "Wenn ich im Studium bei einer Klausur durchgefallen bin oder bei einer Hausarbeit in Stress gerate, fange ich schnell wieder an zu hungern oder bekomme Fressanfälle." Dem Druck von außen Kontrolle über den eigenen Körper entgegensetzen - das ist bei Essgestörten eine häufige Reaktion. Experten sehen in Magersucht und Bulimie den Versuch der Betroffenen, Fremdbestimmung abzuwehren. Die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme ist das Einzige, was ihnen bleibt, wenn alle anderen Lebensbereiche von außen bestimmt werden. Viele Betroffene haben außerdem das Gefühl, nur "dazuzugehören", wenn sie einem bestimmten Ideal entsprechen. Das kennt auch Jule: "Ich dachte immer, wenn ich wirklich schlank bin, würde auch mein Leben irgendwie besser sein. Das hat sich irgendwann verselbständigt - ich hatte immer das Gefühl, wenn ich jetzt noch zwei Kilo abnehme, dann ist alles gut." Viele Therapeuten konzentrieren sich in ihrer Arbeit auf das soziale Umfeld der Patienten: Nach dem so genannten "psychobiologisch-sozialen Modell" liegen die Ursachen für Magersucht und Co. meist in den Familienstrukturen. In selteneren Fällen gehen die Essstörungen mit anderen Erkrankungen wie Depressionen oder bipolaren Störungen einher.
Weniger Auslöser, aber Verstärker der Krankheit sind auch gesellschaftliche Konstruktionen. In Werbespots oder Filmen sind die erfolgreichen Menschen meist schön - und vor allem schlank. Da wird berichtet, wie weibliche Prominente nach der Geburt ihrer Kinder wieder zur "Idealfigur" gefunden haben oder mit welch radikalen Diäten Schauspielerinnen ihre Körper makellos halten. Wie stark das Ideal "schlank gleich schön" gerade junge Mädchen beeinflusst, hat inzwischen auch die Modewelt erkannt. Bei den jüngsten Modenschauen in Spanien und Frankreich durften nur noch Models auf den Laufsteg, die ein bestimmtes Mindestgewicht aufweisen konnten. Auch der Konzern Unilever kündigte in diesem Jahr an, so genannte Magermodels aus seinen Kampagnen zu verbannen. Jule findet das okay. Doch in der Therapie hat sie gelernt, was es braucht, damit sie wieder gesund leben kann. "Ich muss mich selbst akzeptieren, wie ich bin. Ich muss verinnerlichen, dass ich ein einzigartiger und liebenswerter Mensch bin - ganz egal, wie viel ich wiege."