ÜBERGEWICHT
Die Deutschen sind zu dick. Die Ernährungsgewohnheiten passen nicht mehr zum modernen Lebensstil. Welche Vorstellungen vom kollektiven Abspecken hat die Politik?
Fit statt fett." Die Bundesregierung will mit einem Aktionsplan für gesündere Ernährung und mehr Bewegung sorgen. Bundesverbraucherminister Horst Seehofer (CSU) wirbt für ein Umdenken in Familien, Schulen und Kantinen. Grund: Die Deutschen werden immer dicker. Mehr als 65 Prozent der Männer und rund 55 Prozent der Frauen bringen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zu viele Pfunde auf die Waage. Vor allem bei Kindern macht sich Übergewicht immer öfter bemerkbar: 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind zu dick, ergab die Kinder- und Jugend-Gesundheitsstudie (KiGGS) im Auftrag der Bundesregierung.
"Es kommt auf den richtigen Gebrauch der Lebensmittel an", sagt Seehofer. Mehr Aufklärung ist seine Devise. Das Essen etwa in Schulen und Kindergärten soll gesünder werden, Kinder und Erwachsene sollen besser über Ernährung Bescheid wissen und die Kennzeichnung von Lebensmitteln soll verständlicher werden. Außerdem ist mehr Fitness angesagt. Mit der Kampagne "Gesunde Ernährung und mehr Bewegung in der Schule" soll der Trend zum Übergewicht bis 2020 umgekehrt werden.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) empfiehlt weniger Zucker, mehr Vollkorn, Obst und Gemüse, alles in Maßen sowie mehr Bewegung. Ihr Ministerium will in den kommenden drei Jahren 15 Millionen Euro für Aktionen gegen Übergewicht bereitstellen. Damit soll auch das Gesundheitssystem entlastet werden. Mehr als 70 Milliarden Euro pro Jahr kostet in Deutschland die Behandlung von Krankheiten, die auch durch Fehlernährung und Übergewicht ausgelöst werden wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes.
Warum nehmen die Deutschen immer mehr zu? "Unsere Lebensbedingungen haben sich verändert, unsere Ernährung hat sich jedoch nicht angepasst", sagt Professor Peter Stehle, Präsident der DGE und Ernährungswissenschaflter aus Bonn. "Wir werden überall mit Essensangeboten überhäuft." Außerdem gebe es vermehrt Lebensmittel, die eine hohe Energiedichte haben wie frittierte Speisen. "Das Problem wird dann immer größer, wenn wir immer weniger körperlich aktiv sind." Die eine "goldene Regel" gibt es aus seiner Sicht aber nicht.
Das Verbraucherministerium gab den Ganztagsschulen daher Qualitätsstandards von Experten an die Hand. Frisches Obst und Gemüse, Vollkornbrot und Vollkornnudeln sollen auf dem Essensplan stehen. Pommes frites und Kroketten soll es nur einmal pro Woche geben, Süßigkeiten gar nicht. Der Parlamentarische Verbraucherstaatssekretär Gerd Müller (CSU) hält darüber hinaus ein eigenes Schulfach Ernährung für nötig, eine Forderung der früheren Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen).
Die hält Seehofers Aktionsplan für wenig neu und wenig wirksam. "Da, wo er intervenieren könnte, tut er es nicht", sagt Künast. Seehofers Vorgängerin hat in ihrer Amtstzeit bereits Aktionen gegen Übergewicht vor allem von Kindern gestartet. Sie rief 2004 die "Plattform Ernährung und Bewegung" mit ins Leben, bei der sich Politik, Wirtschaft, Ärzte und Krankenkassen um ein geändertes Ernährungsverhalten bereits bei Kleinkindern bemühen. Alle sind sich einig, dass schon bei Kindern angesetzt werden muss. Umstritten ist, wie. Die KiGGS-Studie ergab, dass das Risiko für Übergewicht vor allem bei Kindern aus sozial benachteiligten Schichten oder mit ausländischem familiärem Hintergrund sowie bei Kindern mit übergewichtigen Eltern am größten ist.
Künast fordert ein Werbeverbot für Süßigkeiten in Schulen und im Fernsehen sowie kostenloses Schul- essen. Die Verbraucherorganisation "Foodwatch" hält Ernährung auch für eine Frage des Einkommens: "Es ist bekannt, dass Menschen mit geringem Einkommen zu wenig Obst, Gemüse, Milch und Milchprodukte zu sich nehmen." Die Organisation wirft der Nahrungsmittelindustrie vor, den Zucker- und Fettgehalt von Kinder-Lebensmitteln zu verschleiern. Foodwatch fordert wie Künast eine "Ampel-Kennzeichnung" von Lebensmitteln, die in Großbritannien bereits freiwillige Praxis ist. "Rot heißt selten essen, gelb nicht so oft, grün immer", sagt Künast. Seehofer lehnt dies als zu vereinfacht ab, weil dann ein roter Punkt auch auf Nahrungsmitteln erscheine, die in Maßen nötig seien. Er strebt mit der Wirtschaft eine einfache Kennzeichnung der wichtigsten Nährstoffwerte an.
DGE-Präsident Stehle ist skeptisch, wie viel die Politik ausrichten kann. "Die Frage ist, ob das ausreicht, Änderungen zu erreichen." Ein Weg sind für ihn Qualitätsstandards wie für die Schulernährung. Allerdings sind Schulen Ländersache. In vielen Bundesländern gibt es bereits Initiativen. So bestehen in Baden-Württemberg seit zehn Jahren Ernährungszentren mit Experten.
Der Kampf gegen das Übergewicht muss nach Ansicht von Seehofer mit allen gesellschaftlichen Kräften immer wieder neu geführt werden. "Man muss ständig etwas tun." Bei aller Forderung nach gesunder Ernährung dürfe es aber auch mal Ausnahmen geben: "Eine bayerische Schweinshaxe zwischendurch ist durchaus auch mal für das persönliche Wohlbefinden 'was Positives", so der Minister.