Biografie
Kontroverses und Kritisches zum 200. Geburtstag des Historikers und Politikers Johann Gustav Droysen
Wieso eine Biografie über Johann Gustav Droysen? Weil er neben Leopold Ranke einmal zu den bedeutendsten Historikern des 19. Jahrhunderts zählte und seine Studien zum Hellenismus, zur politischen Geschichte Preußens oder zur Geschichtstheorie die Forschung bis heute befruchten? Gewiss nicht. Selbst sein neuester Biograf Wilfried Nippel kommt nach über 400 engbedruckten Seiten zu dem Schluss, dass von der Wirkung seiner Werke nicht mehr viel zu spüren sei. Nach dieser äußerst kritischen Lebensbeschreibung wird sich das wohl auch nicht mehr ändern. Setzt der Althistoriker an der Berliner Humboldt-Universität doch alles daran, Droysen als ebenso raffinierten wie rücksichtlosen Geschichtspolitiker zu entlarven. Und das gelingt ihm dank präziser Quellenstudien und findiger Schlussfolgerungen sehr überzeugend.
Der versierte Wissenschaftshistoriker betrachtet Droysens Wesen und Wirken ganz gezielt unter dem Blickwinkel seines politischen Wollens. Hinter welchem zeitlebens sein Wunsch steckte, Preußen an der Spitze eines geeinten Deutschlands zu sehen. Diesem politischen Ziel fühlte er sich bereits zu Beginn seiner akademischen Karriere verpflichtet. In seiner längst überholten Biografie Alexanders des Großen und der groß angelegte Studie zum Hellenismus zeichnet sich wie in seinen Briefen sein besonderes Interesse an der Frage nach der Macht ab. Die Frage nach einer freiheitlich-demokratischen Verfassung hingegen blieb für Droysen immer ein nachgeordnete. Im Revolutionsjahr 1848 stellte sie sich für ihn dann aber kurzfristig als eine höchst bedrohliche dar. Weshalb er als Vertrauensmann für das von Dänemark "bedrohte" Schleswig-Holstein im Deutschen Bund und kurz darauf als Paulskirchenabgeordneter im Verfassungsausschuss zuallererst die Machtfrage geklärt wissen wollte.
Als geschickter Unterhändler zwischen den Fraktionen setzte er denn auch alle publizistischen und politischen Hebel in Bewegung, um den preußischen König alsbald zum Reichsoberhaupt eines kleindeutschen Reiches unter Ausschluss Österreichs zu küren. Schließlich galt es, die "Freiheitsgeilheit" und den "Verfassungsdusel" der liberalen Republikaner ebenso rasch Paroli zu bieten wie der Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht.
Wie wir wissen, scheiterten die konservativen wie die demokratischen Staatspläne am unheilvollen Streit der Parteien und wiedererwachten Widerstand der Monarchien. Mit der Revolution scheiterte aber auch Droysens Versuch, Preußen an die Spitze des Reichs und sich selbst als "historischen Generalstabschef" an die absolute Spitze der Wissenschaften zu bringen.
Obgleich der enttäuschte Professor fortan die praktische Politik mied, verlor er seine politischen wie persönlichen Ziele nie aus den Augen. Und dieser Ehrgeiz spiegelte sich nicht allein in seinen propagandistischen Studien zur preußischen Geschichte, sondern auch in seiner ganz gezielten Karriereplanung und Publikationsstrategie. Und genau diese deckt Nippel anhand seiner Briefe, Artikel und gezielt lancierten Studien und anderer wissenschaftlicher Unternehmungen auf. Zum Vorschein kommt dabei ein Droysen-Bild, das sich von den zumeist weichgezeichneten radikal abhebt. Und Droysen als einen Politiker und Wissenschaftler zeigt, der seine ganze historische Arbeit mal mit "subtilen", mal mit "unfeinen Mitteln" in den Dienst seiner preußischen Mission stellt und in beiden Rollen am Ende weitgehend scheitert. Um dies zu beweisen, lässt Nippel selbst an seiner bis heuten gelobten "Historik" kaum ein gutes Haar. Sie sei als historische Hermeneutik mehr "andeutend als aufklärend" und aus Humboldts oder Schleiermachers Schriften mindestens ebenso gut herauszulesen.
Stellt sich also nach der Lektüre allein die Frage, wieso Nippel sich die wissenschaftliche Mühe gemacht hat, den fachlich längst "gefallenen" Droysen noch einmal vom selbst errichteten Sockel zu stoßen. Weil er am historischen Exempel vielleicht all jene Kollegen warnen wollte, die mit den "Waffen der Historie" am politischen Tageskampf teilnehmen wollen? Dies wäre mit Blick auf die Medien-Professoren von heute durchaus denkbar. Doch lockte ihn wohl eher das kurzfristige Angebot des Beck-Verlags, zum 200. Geburtstags Droysens - er wurde am 6. Juli 1808 geboren -, eine Biografie auf dem neuesten Forschungsstand vorzulegen. Das ist ihm zweifellos gelungen. Und er wird wohl auch "kontroverse Diskussionen" provozieren. Wahrscheinlich aber nur unter eingefleischten Wissenschaftshistorikern. Den interessierten Laien wird er kaum erreichen. Was nicht allein an der fehlenden Aktualität und Bedeutung Droysens liegt - sondern auch an der äußerst detailverliebten und ermüdenden Schilderung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Auf diese Weise bringt Nippel zwar eine Menge neuer Wahrheiten über den Politiker und Wissenschaftler ans Licht, doch der Mensch Droysen bleibt nach wie vor im Dunkeln.
Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik.
Verlag C.H. Beck, München 2008; 445 S., 24,90 ¤