"Die demokratischste Demokratie der Welt"
Vor 90 Jahren, am 31. Juli 1919, nehmen die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung den Entwurf einer Verfassung für das Deutsche Reich an, zwei Wochen später tritt sie in Kraft. Obwohl sie damals als eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt gilt, stehen ihr selbst Befürworter der Republik kritisch gegenüber. In der parlamentarischen Debatte, die der Abstimmung vorausgeht, werden immer wieder ihre strukturellen Mängel und die darin liegenden Gefahren angesprochen – Einsichten, die in der historischen Rückschau fast prophetisch erscheinen.
Es ist ein historischer Moment, als am 31. Juli 1919 gegen 21.30
Uhr der Präsident der Weimarer Nationalversammlung, Konstantin
Fehrenbach (Zentrum), das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Annahme des Verfassungsentwurfs für die junge
deutsche Republik bekanntgibt: "Es wurden abgegeben 338 Stimmen,
davon mit Ja 262, mit Nein 75, enthalten 1. Das Verfassungswerk ist
deshalb angenommen." Die wohl wichtigste und schwierigste Aufgabe
der Nationalversammlung, die Beratung und Verabschiedung einer
Verfassung für das Deutsche Reich nach Krieg, Revolution und
dem Ende der Monarchie, ist damit erfüllt.
"Geburtsurkunde des freien Staatswesens"
Als erster ergreift Ministerpräsident Gustav Bauer (SPD) nach der Verkündung des Abstimmungsergebnisses das Wort: "Meine Damen und Herren! Durch Ihre eben beendete Abstimmung ist die Verfassung der deutschen Republik in Recht und Gültigkeit getreten. Das ist die wahre Geburtsurkunde des freien Staatswesens, das von nun an Form und Träger des deutschen Volkswesens bilden soll."
Und unter Bravorufen und lebhafter Zustimmung der Versammlung
stellt Reichsinnenminister Eduard David (SPD) fest: "Nirgends in
der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in
der neuen deutschen Verfassung. Die deutsche Republik ist fortan
die demokratischste Demokratie der Welt."
Gleichstellung von Mann und Frau
In der Tat ist die Verfassung, die sich das deutsche Volk durch ihre Vertreter an diesem Tag gegeben hat, eine der fortschrittlichsten ihrer Zeit. Zentrale Verfassungsprinzipien sind die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Grundrechte. Erstmals in der deutschen Geschichte sind Frauen und Männer in staatsbürgerlicher und familienrechtlicher Hinsicht gleichgestellt. Das Prinzip des Föderalismus bleibt zwar erhalten, doch werden die Kompetenzen des Reichs deutlich erweitert. Die Macht Preußens wird beschnitten, die von Bismarck eingeführte Sozialgesetzgebung deutlich ausgebaut.
Doch die feierlichen Worte der Regierungsvertreter in der
Nationalversammlung können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das Verfassungswerk, das nach seinem
Geburtsort Weimarer Verfassung genannt wird, in seiner angenommenen
Fassung höchst umstritten ist. Ein wirklich
überwältigendes Bekenntnis der Volksvertretung zu den
neuen verfassungsrechtlichen Grundlagen des deutschen Staates ist
das Ergebnis der Abstimmung nicht - zumal mehr als 80 Abgeordnete
erst gar nicht dazu erschienen sind, darunter auch etliche der
sozialdemokratischen Fraktion.
"Kein Werk aus einem Guss"
Die generell ablehnende Haltung des rechten Lagers gegenüber der Verfassung, die die republikanische Grundordnung des Deutschen Reichs festschreibt, hat Clemens von Delbrück bereits in der ersten Lesung des Verfassungsentwurfs am 28. Februar 1919 zum Ausdruck gebracht: "Ich glaube", so der Abgeordnete der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), "man kann von dem neuen Entwurf sagen, dass er der Entwurf eines Gesetzes zur allmählichen Auflösung des Deutschen Reiches ist."
Umgekehrt geht vielen Linken der Verfassungsentwurf, der weitgehend
aus der Feder des Staatsrechtlers und Reichsinnenministers der
ersten Regierung der Weimarer Republik, Hugo Preuß (Deutsche
Demokratische Partei) stammt, nicht weit genug. "Was wir vor allem
bedauern", so der SPD-Abgeordnete Richard Fischer, "ist, dass er
nicht ein Werk aus einem Guss ist, dass die hohen Anforderungen und
Hoffnungen, die das Volk in dieser großen Zeit nach seinem
erhabenen Werke der Zertrümmerung des alten Obrigkeitsstaates
mit Recht hegen durfte, nicht erfüllt worden sind."
Strukturelle Fehler der Verfassung
Heftige Kritik übt Fischer unter anderem an den weitreichenden Befugnissen, die der Verfassungsentwurf für den Reichspräsidenten vorsieht - ein Amt, das zur Zeit der Verfassungsberatungen sein Parteifreund Friedrich Ebert ausübt. "War die frühere Reichsverfassung auf den Leib des Kanzlers Bismarck zugeschnitten -- die jetzige Verfassung soll nicht auf den Reichspräsidenten Ebert zugeschnitten sein", so Fischer. "Wir müssen mit der Tatsache rechnen, dass eines Tages ein anderer Mann aus einer anderen Partei, vielleicht sogar aus einer reaktionären, staatsstreichlüsternen Partei an dieser Stelle stehen wird."
In der Tat ist die Machtfülle des Reichspräsidenten von
Historikern später als ein gravierendes Manko der Weimarer
Verfassung bezeichnet worden. "Er konnte den Reichstag fast
beliebig (‚nur einmal aus dem gleichen Anlass’)
auflösen (Artikel 25) - ein Recht, das in den USA undenkbar
ist. Jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz, mit dem er nicht
einverstanden war, durfte er einem Volksentscheid
überantworten (Artikel 73) - eine nie praktizierte Regelung,
die gleichwohl den Parlamentarismus ständig bedrohte", wie der
Historiker Reinhard Sturm analysiert.
Wegweisend für das Grundgesetz
Auch andere Elemente der Weimarer Verfassung werden in der historischen Rückschau kritisch gesehen. So hätten die zahlreichen Möglichkeiten, per Volksbegehren oder Volksentscheid Gesetze zu beschließen oder zu ändern, die Kompetenz des Parlaments zusätzlich in Frage gestellt. Auch habe eine dem heutigen Bundesverfassungsgericht vergleichbare Institution als Hüterin der Verfassungsgrundsätze gefehlt.
Trotz dieser Mängel kommt der Weimarer Verfassung große
Bedeutung für die deutsche Geschichte zu. Ihre
Errungenschaften wie ihre Fehler weisen den Müttern und
Vätern des Grundgesetzes den Weg bei der Ausarbeitung einer
Verfassung, die alle Voraussetzungen für eine
funktionsfähige parlamentarische Demokratie erfüllt.
Weitere Informationen
- Erste
Sitzung der Weimarer Nationalversammlung
- Die Verfassung der
Weimarer Republik
-
Text der Verfassung der Weimarer Republik vom 11.
August 1919
-
Vergleich ausgewählter Bestimmungen aus den Verfassungen von
1849, 1871, 1919, 1949
- Vor neunzig
Jahren: Die Novemberrevolution von 1918
- Die Parteien der
Weimarer Republik
- Wahlen in der Weimarer
Republik
- Reichstagswahlergebnisse
und Mandate in der Weimarer Republik