Spionage
Georg Herbstritt hat eine umfangreiche Studie über Bundesbürger im Dienst der Stasi vorgelegt
Es waren meist banale Gründe, die Menschen zu Zuträgern des scheinbar allmächtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) machten. Politische Überzeugungen gehörten eher selten dazu. Georg Herbstritt untersucht in einer umfangreichen Studie, wie Bundesbürger von der Stasi als Spione angeworben wurden und welche Erfolge sie erzielten - und klärt dabei einige Mythen rund um das MfS auf.
Der 1965 in Baden geborene Historiker Herbstritt arbeitet seit 1999 bei der heutigen Birthler-Behörde als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Die vorliegende Studie ist zugleich seine Dissertation an der Berliner Humboldt-Universität. Sie besticht vor allem durch eine schier unglaubliche Materialfülle: Herbstritt hat neben der SIRA-Datenbank (System der Informations-Recherche der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS) die Urteile in Landesverrats- und Spionageprozessen aus den 1990er-Jahren als Quelle erschlossen. Auf Basis dieses Materials skizziert er eine Vielzahl von Tätergeschichten als "kollektive Biografie".
499 Einzelfälle hat Herbstritt aus den Akten der Staatsanwaltschaften rekonstruiert - die meisten dieser westdeutschen "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) des MfS seien nie zu Haftstrafen verurteilt worden. Überwiegend hätte man ihnen Agententätigkeit oder Landesverrat entweder nicht zweifelsfrei nachweisen können oder aber die Tat sei bereits verjährt gewesen. Schon die Ermittlungen wurden nur aufgenommen, wenn die IM bis 1989 aktiv gewesen seien. Herbstritt verfolgt die Tätergeschichten von diesem Zeitpunkt aus bis in die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erinnert daran, dass im Zuge der Wiedervereinigung lange Zeit umstritten war, ob man die geheimdienstliche Arbeit des MfS in der Bundesrepublik überhaupt bestrafen könne. 1995 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Strafen vor allem gegen Bundesbürger zu verhängen seien, die ihrem Land wissentlich geschadet hätten. Mit DDR-Bürgern sei dagegen milde zu verfahren.
Ergänzend zum staatsanwaltlichen Material zieht der Autor die SIRA-Datenbank heran: Hier wurde ein Großteil der von den IM beschafften Informationen kategorisiert: Zuträger, Gebiet und Bedeutung der Mitteilung wurden nach einem Punktesystem beurteilt. Besonderen Wert besitzt diese Datei deswegen, weil sie die Frage nach der Wichtigkeit der eingegangenen Informationen von grundsätzlich anderer Warte aus beurteilte. Weiterhin macht sich Herbstritt die Arbeit, auch die Erwartungen der Ministeriumsleitung zu untersuchen. Die verschiedenen Blickwinkel auf die Tätigkeit der IM - rückblickend durch die bundesdeutschen Ermittler, zeitgenössisch in den Äußerungen Mielkes und seiner meist nüchternen Datensammler sowie in der Wahrnehmung des Westens - ermöglichen es, diese realistisch einzuschätzen.
Auf die sehr ausführliche Einleitung folgt ein "Kollektivporträt" der West-IM: Überwiegend männlich seien jene Bundesbürger gewesen, die sich von der Staatssicherheit anwerben ließen. Nicht selten warben Ehemänner ihre Frauen für die Agentenarbeit an, der umgekehrte Fall war eher selten. Vor allem in der Hauptverwaltung Aufklärung, also der für Auslandsspionage zuständigen Sektion, die bis 1986 Markus Wolf unterstand, seien Akademiker deutlich bevorzugt worden: Gerade einflussreiche Positionen und damit Zugang zu interessanteren Informationen sei Hochqualifizierten vorbehalten gewesen.
Eine Sonderrolle besaßen die nichtdeutschen West-IM. Sie wurden häufig als "Fliegenfänger" für die Arbeit in der DDR eingesetzt, wo sie Oppositionelle und Systemmüde ausfindig oder Fluchthelfer im Westen dingfest machten.
Im zweiten Teil seiner Studie widmet sich Herbstritt den Methoden der Agentenrekrutierung: Eltern warben ihre halbwüchsigen Kinder, DDR-Verwandte vermittelten West-Besuchern den Kontakt zum MfS, Bundesbürger, die in die DDR übersiedeln wollten, wurden von der Stasi angesprochen. Daneben waren Werber unterwegs, die besonders an Universitäten oder in Diskotheken Ausschau nach geeigneten Kandidaten hielten. Diese waren es auch, die als "Romeos" einsame Sekretärinnen, die aus Liebe Berufsgeheimnisse weitergaben, rekrutierten. Und auch das gab es: Menschen, die aus Geltungssucht, Abenteurertum, Überzeugung oder Geldmangel als "Selbstanbieter" bei der Stasi anklopften.
Was all diese Zuträger leisteten, ob sie es vermochten, die Bundesrepublik zu unterwandern, damit beschäftigt sich der dritte Teil des Bandes. Tatsächlich politikbestimmend, so die Einschätzung des Autors, wirkte sich die Arbeit der Spione nicht aus, das gelte auch für den Rücktritt Willy Brandts und die Flick-Affäre Anfang der 80er-Jahre. Aber: Mit der Rekrutierung einer ganzen Reihe von IM aus den Reihen des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes habe man zumindest in den 80er-Jahren die Spionageabwehr der Bundesrepublik aushebeln können. Zudem seien DDR-Oppositionelle und Fluchthelfer durch sie verraten worden und hätten in der Folge lange Haftstrafen kassiert. Herbstritt beklagt diese "Kollateralschäden", die bis heute fast vollständig ungesühnt blieben.
Herbstritts Studie ist ungeachtet ihres nüchternen Quellenmaterials ungewöhnlich spannend zu lesen. Zudem ist seine Distanz sowohl zu denen, die der Spionage des MfS einen perversen Glamour verleihen wollen oder wollten - allen voran Markus Wolf -, als auch zu denen, die die Macht des MfS dämonisieren, wohltuend.
Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage.
Eine analytische Studie.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007; 459 S., 29,90 ¤