Schädlingsbekämpfung
Der unsachgemäße Einsatz von Clothianidin gegen den Maiswurzelbohrer provoziert am Oberrhein eine Katastrophe
Das sei "eine Art GAU", ein "worst case": Derart drastisch beschreibt Elvira Drobinski-Weiß eine bislang einmalige Katastrophe. Das Urteil der SPD-Bundestagsabgeordneten aus der Ortenau mutet nicht übertrieben an: Am Oberrhein sterben Tausende Bienen, Hunderte von Völkern werden ruiniert, junge Königinnen schlüpfen nicht, Drohnen fliegen nicht mehr. Wochenlang rätseln Imker über die Ursachen des unheimlichen Tods in einer Region mit der höchsten Bienendichte in Deutschland. Ohne das "Massensterben", so Ekkehard Hülsmann, "hätten die Imker ein wunderbares Honigjahr erlebt". "Aus Frustration", klagt der Vorsitzende des Badischen Imkerverbands, wollten viele "mit der Bienenhaltung aufhören".
Erst nach Wochen findet die quälende Ungewissheit ein Ende. Schlimme Befürchtungen bestätigen sich: Schuld am Massentod der nützlichen Bestäuber ist ein chemisches Pflanzenschutzmittel namens Clothianidin, das bei der Maissaat offenbar unsachgemäß ausgebracht wurde und deshalb auf Blüten von Obstbäumen und Pflanzen gelangte. Trister Höhepunkt des "Skandals" (Drobinski-Weiß): Schon 200 Imker mussten vergiftete Bienenwaben, die Hülsmann als "tickende Zeitbomben fürs Bienenvolk" klassifiziert, zu Sammelstellen bringen, damit sie in einer Müllverbrennungsanlage vernichtet werden können. Das habe die Imker "auch emotional" belastet, resümiert der Verbandschef. Wann sich die dezimierten Restvölker regenerieren, ist unklar. Schon geht die Sorge um, mangels Blütenbestäubung könne nächstes Jahr am Oberrhein wegen fehlender Bienenmassen die Obsternte gefährdet werden.
Das Drama sorgt vor Ort, bei den Agrarministerien in Stuttgart und Berlin wie beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) für Alarmstimmung. Auch der Agrarausschuss des Bundestags hat sich eingeschaltet. Die zuständigen Stellen hätten in ihren ersten Reaktionen "korrekt gehandelt", meint Peter Bleser, Obmann der Union in dem parlamentarischen Gremium: CSU-Minister Horst Seehofer verbot den Einsatz bestimmter Sämaschinen, das BVL lässt zunächst einmal die Zulassung mehrerer Saatgutbehandlungsmittel ruhen, die Clothianidin enthalten. Mit diesen Sofortmaßnahmen ist die Affäre aber nicht ausgestanden. Das BVL untersucht die Ursachen des Bienentods. Es ist offen, welche Konsequenzen diese Prüfung für die Schädlingsbekämpfung und vor allem für Clothianidin hat. Zudem gibt das Bienensterben der Debatte über biologische Anbaumethoden in der Landwirtschaft Auftrieb. Das Desaster am Oberrhein ist nach bisherigem Erkenntnisstand auf eine "fatale Verkettung" (Drobinski-Weiß) mehrerer Faktoren zurückzuführen Von einer "unglücklichen Verzahnung" spricht Edmund Peter Geisen, FDP-Abgeordneter im Agrarausschuss des Bundestags. Der CDU-Politiker Bleser sieht das Hauptproblem bei der Technik der Saat-Ausbringung, die sich seit der Zulassung von Clothianidin geändert hat.
Das Gift soll den berüchtigten Maiswurzelbohrer bekämpfen, der in den USA Milliardenschäden anrichtet und der mit Flugzeugen nach Europa gelangt, wo er sich zusehends ausbreitet. Clothianidin wird in eine Beize gemischt, mit der Saatgutfirmen die Körner für die Maissaat behandeln und derart gegen den Bösewicht "impfen". Offenbar, so die Vermutung, hat eine Saatgutfirma einer Beize, mit der die am Oberrhein eingesetzten Saatchargen "immun" gemacht wurden, zu wenig Haftmittel beigegeben, sodass sich das Gift während der Aussaat in "Abriebstäuben" (Geisen) gelöst hat.
Nun kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel. Mechanische Sämaschinen drücken die Körner fest in die Erde, weshalb nichts ins Umfeld gelangen kann. Neuere Maschinen arbeiten indes mit Luftdruck, sodass über deren Abluft der verseuchte Abrieb in die Umwelt abdriftet.
Zudem wehte zur fraglichen Zeit am Oberrhein starker Wind. Laut BVL ist Clothianidin für Honigbienen "sehr toxisch". Doch hätten "praxisnahe Versuche zur Wirkung der Saatgutbehandlung" keine negativen Folgen für Bienen gezeitigt. An diesem Punkt hakt der FDP-Politiker Geisen kritisch ein: "In Labors werden viele Wirkstoffe umfassend durchgetestet, doch die Anwendungspraxis muss gründlicher geprüft werden." Bleibe das Clothianidin im Boden, entstünden ja keine Probleme. Mit Spannung werden nun die näheren Untersuchungen des BVL erwartet.
Wird es bei Konsequenzen für den praktischen Einsatz von Clothianidin bleiben, etwa für die Mischung von Beizen und für die Technik von Sämaschinen? Die Bayer CropScience AG, die unter anderem Beizmittel produziert, will zwecks Verhinderung einer fehlerhaften Anwendung zusammen mit Saatgutfirmen ein "Zertifizierungssystem etablieren" und mit Herstellern von Mais-Sämaschinen nach Lösungen suchen, die eine Verwehung von Abriebstäuben unterbinden. Der Teilkonzern der Bayer AG erwirtschaftet weltweit einen Jahresumsatz von 5,8 Milliarden Euro.
Oder wird Clothianidin vielleicht generell aus dem Verkehr gezogen? Über die Zulassung solcher Wirkstoffe befindet die EU, wie Jochen Heimberg erläutert. Nationale Behörden entschieden hingegen, so der BVL-Sprecher, auf welche Weise solche Substanzen etwa in Saatgutbehandlungsmitteln praktisch eingesetzt werden dürfen, von denen die Behörde vorerst mehrere untersagt hat. Ob sie wieder erlaubt werden, muss als offen gelten. Der Adressat für ein Verbot von Clothianidin selbst wäre also Brüssel. Drobinski-Weiß plädiert für eine Verschärfung der Zulassungsverfahren für chemische Pflanzenschutzmittel auf EU-Ebene, der Bundestag solle die Regierung auffordern, in diesem Sinne in Brüssel aktiv zu werden.
Derweil steht in Baden-Württemberg Agrarminister Peter Hauk, der Verständnis für die "dramatische Situation vieler Imker" äußert, in der Kritik. Während einer Landtagsdebatte wirft der SPD-Abgeordnete Christoph Beyer dem CDU-Politiker vor, trotz früher Warnzeichen in manchen Regionen am Oberrhein den Einsatz von Clothianidin bei der Maissaat vorgeschrieben zu haben. Der Grünen-Parlamentarier Bernd Murschel kritisiert das BVL wegen der Zulassung von Clothianidin für die Saatgutbehandlung, obwohl die Behörde den Stoff als "sehr toxisch" für Bienen einstufe. Immerhin können Imker offenbar mit Entschädigung rechnen. Nach Medienberichten sollen sich Landesregierung und chemische Industrie geeinigt haben, dass Letztere auf freiwilliger Basis Gelder bereitstellt, obwohl die Verantwortung für das Bienensterben bei Saatgutfirmen wegen unsachgemäßer Beizung der Maiskörner liege. Bayer CropScience hatte dies schon frühzeitig angekündigt. Drobinski-Weiß und Geisen nehmen den Bienentod zum Anlass, für natürliche Methoden bei der Schädlingsbekämpfung zu werben. Die SPD-Abgeordnete: "Wir müssen weg von Monokulturen." Der FDP-Parlamentarier: "Der beste Pflanzenschutz ist die richtige Fruchtfolge." Geisen weist darauf hin, dass der langjährige Anbau etwa von Mais oder Raps den Befall durch spezifische Schädlinge fördere. In der Schweiz darf Mais nicht mehr zwei Jahre hintereinander auf dem gleichen Acker gepflanzt werden, was dem Maiswurzelbohrer die Basis entzieht. Drobinski-Weiß: "Wir sollten bei den Landwirten Überzeugungsarbeit leisten." Der Badische Bauernverband fürchtet durch einen Wechsel in der Fruchtfolge wirtschaftliche Einbußen, da Getreide weniger einbringe. An einer Front immerhin gibt es Entwarnung: Es existierten keine Hinweise auf Gefährdungen von Menschen durch Clothianidin, so BVL-Sprecher Heimberg. Auch in Honigproben vom Oberrhein wurden keine Rückstände des Beizmittels gefunden.