Soziales Gleichgewicht bewahren,
gerade im Interesse der jungen Generation: Carsten Schneider und
Inge Zeller auf einem Kinderspielplatz im Berliner Tiergarten
© Thomas Köhler/photothek.net
Streitgespräch: Inge Zeller und
Carsten Schneider
Was bedeutet es heute in Deutschland,
arm zu sein, und wie lässt sich die soziale Schieflage
bekämpfen? Wo treffen sich politische Rezepte und
persönliche Erfahrungen? BLICKPUNKT BUNDESTAG hat zwei
unterschiedlich Betroffene zum Streitgespräch gebeten: Inge
Zeller (49), eine Diplombetriebswirtin, die seit drei Jahren
arbeitslos ist und von Hartz-IV-Leistungen leben muss, und den
SPD-Bundestagsabgeordneten Carsten Schneider (34), der
haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion ist und bei seinen
Wählern im Wort steht, endlich den gewaltigen Schuldenberg des
Staates abzubauen.
Blickpunkt Bundestag: Frau
Zeller, können Sie uns kurz Ihre Situation beschreiben?
Inge Zeller: Ich bin 49 Jahre alt,
studierte Betriebswirtin und habe eine Tochter. Seit 2004 bin ich
erwerbslos. Trotz aller Bewerbungen habe ich keine neue
Arbeitsstelle gefunden. Ich arbeite inzwischen aktiv im
ver.di-Erwerbslosenausschuss mit. Seit 2005 lebe ich von der
Grundsicherung.
Blickpunkt: Was heißt
das konkret?
Zeller: Das heißt, dass ich
351 Euro monatlich zur Verfügung habe. Davon gehen ab Strom,
Telefon, Versicherung, wenn man sie hat, dann die Ausgaben für
Verkehr. Zum Leben bleiben mir 175 Euro. Eigentlich soll ich davon
nach Meinung der Bundesregierung noch 16 Prozent ansparen, um
defekte Geräte wie etwa eine kaputte Waschmaschine ersetzen zu
können.
Blickpunkt: Könnten Sie
von 351 Euro im Monat leben, Herr Schneider?
Carsten Schneider: Ich weiß es
nicht. Die Antwort ist wirklich schwer. Sicher: Ich habe
früher als Azubi wirklich nicht im Luxus gelebt. Aber heute?
Das wäre sicherlich schwierig. Das ist keine Situation, die
ich mir wünschen möchte.
Blickpunkt: Frau Zeller,
empfinden Sie sich als arm?
Zeller: In einem reichen Land wie
Deutschland will kein Mensch zugeben, dass er arm ist. Ich stehe
dazu. Ja, ich empfinde mich als relativ arm, so wie auch die 15
Millionen anderen Deutschen es sind, die weniger als 60 Prozent des
mittleren Einkommens, so wird Armut ja offiziell definiert, zum
Leben haben.
Blickpunkt: Ist für Sie,
Herr Schneider, Frau Zellers Lage selbst bedingt oder stimmt etwas
mit unserem Arbeits- und Sozialwesen nicht?
Schneider: Ich kann das schwer
beurteilen, dafür müsste ich die persönliche Lage
von Frau Zeller genau kennen. Aber klar ist: Wir haben noch immer
zu wenig Arbeitsplätze und die Zahl der Arbeitslosen ist zu
hoch. Aber es gibt seit einigen Jahren eine Trendumkehr auf dem
Arbeitsmarkt, gerade bei denen, die kurzzeitarbeitslos sind. Leider
gibt es bei den Langzeitarbeitslosen kaum Bewegung.
Blickpunkt: Armut wird mit
statistischen Größen definiert. Was ist für Sie
Armut?
Schneider: Das ist vor allem eine
Frage der Lebensperspektive. Wenn Sie als Student von 600 Euro
BAföG leben müssen, im Gegensatz zum Empfänger von
Arbeitslosengeld II aber noch die Miete zu zahlen haben, haben sie
etwa gleich wenig Geld. Ein Student fühlt sich dabei aber
nicht arm, weil er eine positive Lebensperspektive hat. Diese
Perspektive fehlt dem ALG-II-Empfänger. Er fühlt sich
ausgegrenzt.
Zeller: Das stimmt. Je länger
man arbeitslos ist, desto mehr verliert man seine Hoffnungen.
Zumal, wenn man in meinem Alter ist. Viele Arbeitgeber stellen
keine Leute über 40 Jahre mehr ein. Leider haben Sie, Herr
Schneider, bei Ihrer positiven Trendwende etwas vergessen zu sagen:
Die spielt sich fast ausschließlich im Niedriglohnbereich und
in der Leiharbeit ab, wo man sozial kaum abgesichert ist.
Schneider: Hier muss ich
widersprechen. Es gibt einen großen Zuwachs auch an
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Und die
Gewerkschaften haben erstmals wieder für ordentliche
Lohnabschlüsse gesorgt.
Zeller: Das sehe ich ganz anders.
Die Politik ist gefordert und muss nun endlich dafür sorgen,
dass ein Mindestlohn eingeführt wird, so wie in den meisten
europäischen Ländern.
Blickpunkt: Was empfinden Sie
als das Deprimierendste an Ihrer Lage, Frau Zeller?
Zeller: Man braucht viel Kraft zum
Leben. Ich hole sie mir, indem ich sehr aktiv bin. Aber es bleibt
die ständige Unterversorgung in den verschiedenen Bereichen,
wie Wohnen, Gesundheit, Bildung, Arbeit und so weiter. Die Angst,
dass Armut ersichtlich wird. Oder dass man krank wird. Wenn ich
für neun Tage ins Krankenhaus käme, müsste ich von
meinen 175 Euro 90 Euro Eigenanteil zahlen. Das wird wirklich
schwierig und ist eigentlich unzumutbar.
Blickpunkt: Wissen das die
Politiker?
Schneider: Natürlich. Die 90
Euro Eigenanteil sind ja auch die maximale Obergrenze. Die CDU
wollte eine höhere Grenze, das hat die SPD verhindern
können. Die 90 Euro mögen schmerzlich sein, aber ich
erinnere an die amerikanischen Verhältnisse, wo 40 Millionen
Menschen ohne jede Krankenversicherung sind. Wichtig ist, dass wir
unser Gesundheitssystem auf die alternde Gesellschaft
vorbereiten.
Zeller: Ich lebe aber in Deutschland
und nicht in den USA! Und: Auch in Deutschland zieht sich der Staat
aus seiner sozialen Verantwortung zurück — siehe 351
Euro Grundsicherung. Amerika soll kein Vorbild für unsere
Politiker sein.
Carsten Schneider (SPD)
© Thomas Köhler/photothek.net
Schneider: Ist es auch nicht. Es hat
bei uns Verschiebungen, aber keine Kürzungen gegeben. Von
jedem eingenommenen Steuer-Euro werden 70 Prozent für den
Sozialstaat ausgegeben.
Blickpunkt: Ist Frau Zeller
eine typische Armutsbetroffene? Gemeinhin gelten Menschen mit
keiner oder schlechter Ausbildung als besonders
armutsgefährdet. Beides ist Frau Zeller nicht.
Schneider: Richtig. Es stimmt ja
leider, dass ältere Arbeitnehmer schlechtere Chancen haben.
Der Trend in vielen Unternehmen führte in den vergangenen
Jahren zu einer radikalen Verjüngung. Ältere wurden
entweder in den Vorruhestand geschickt oder sonst wie
verabschiedet. Das war falsch und teilweise rächt sich das
heute bereits. In vielen Unternehmen fehlen inzwischen Erfahrung
und soziale Kompetenz. Erfreulicherweise erkennen dies immer mehr
Betriebe.
Blickpunkt: Wenn Sie
überlegen, warum Sie trotz ihrer guten Ausbildung und
Berufserfahrung arbeitslos sind — was läuft aus Ihrer
Sicht da falsch, Frau Zeller?
„Das Problem der Arbeitslosigkeit löst sich nicht, indem
der Staat die Leute einstellt.”
Carsten Schneider
Zeller: Weil der Staat in jede
Richtung spart und dadurch massiv Arbeitsplätze abbaut. Allein
in Berlin sind in den letzten Jahren 450.000 Arbeitsplätze
verloren gegangen. In der Bildung wird eingespart, bei den
Kindergärten, beim Grünflächenamt, bei der Kultur
— überall. Hier spart der Staat. Erwerbslose müssen
dann diese Aufgabe als 1-Euro-Jobs verrichten.
Schneider: Es ist richtig, dass es
im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren einen
Abbauprozess gegeben hat, der auch notwendig war. Aber auf die
Kindergärten trifft das nun gar nicht zu, Frau Zeller. Hier
wie auch in anderen sozialen Bereichen gibt es wieder mehr
Beschäftigung. Und ich muss Ihnen auch sagen: Wie leben nicht
mehr im Sozialismus. Das Problem der Arbeitslosigkeit löst
sich nicht, indem der Staat die Leute einstellt.
Zeller: Aber man kann
Investitionsprogramme auflegen und dadurch gut bezahlte
Arbeitsplätze schaffen. Man kann längere Arbeitszeiten
verhindern, Mindestlöhne einführen.
Schneider: Bei den
Mindestlöhnen bin ich ganz auf Ihrer Seite.
Blickpunkt: Frau Zeller,
glauben Sie noch an das, was Politiker sagen? Glauben Sie an die
Selbstheilungskräfte einer sozialen Marktwirtschaft?
Zeller: Politiker reden viel, setzen
aber wenig um. An die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft glaube
ich weiterhin.
Blickpunkt: Wenn soziale
Gerechtigkeit nicht mehr in der Masse der Bevölkerung
empfunden wird, welche Konsequenzen, welche Sprengkraft für
unsere Gesellschaft hat das?
Schneider: Die immer
größer werdende Spreizung der Einkommen — oben
immer mehr, unten weniger und in der Mitte ein großer Druck
— das kann nicht gut gehen. Aber: Man kann der Politik sicher
einiges vorwerfen, dennoch gibt es auch die Eigenverantwortung der
Menschen. Viele von ihnen erwarten, dass man für sie etwas
tut, aber sie sind selbst nicht mehr bereit, dafür auch zu
kämpfen und sich etwa in den Gewerkschaften zu
organisieren.
Zeller: Es stimmt: Es gibt eine
Entpolitisierung der Bevölkerung. Es ist ein viel zu kleiner
Kreis, der kämpft und aktiv ist. Das bedauere ich sehr.
Blickpunkt: Und was erwarten
Sie von der Politik?
Inge Zeller
© Thomas Köhler/photothek.net
Zeller: Dass der rigide Sparkurs
aufgegeben wird, dass die Gesetze des Sozialgesetzbuches II, wie
von der Gewerkschaft gefordert, abgeändert werden und dass die
Politik einsieht, dass sie endlich investieren muss.
Schneider: Das wurde nun schon 30
Jahre lang ausprobiert und hat doch nicht funktioniert. Die Folge
waren immer höhere Staatsschulden. Heute geben wir im Jahr
allein 42 Milliarden Euro für Zinsen aus, das ist mehr als der
Verkehrs-, Familien- und Bildungsetat zusammen ausmachen. Also ist
das zu kurzfristig gedacht. Ein Strohfeuer hilft uns nicht weiter.
Wir müssen — auch und gerade im Interesse der
jüngeren Generation — am strikten Kurs der
Haushaltssanierung festhalten.
Blickpunkt: Nicht nur die
Armen und Arbeitslosen klagen über ihre Lage, auch die
Mittelschicht sorgt sich zunehmend vor einem sozialen Abstieg.
Bricht der Politik das Vertrauen der Bürger weg?
Schneider: Das Vertrauen der
Bürger in die Demokratie und ihre Institutionen nimmt in der
Tat ab. Die Angst vor dem Abstieg hat verheerende Wirkungen,
politische wie ökonomische. Deshalb müssen wir die
Stabilität der Volkswirtschaft und das Vertrauen der
Bürger wieder zurückgewinnen. Gerade deshalb ist es so
wichtig, bei den Staatsfinanzen solide zu sein, Einnahmen und
Ausgaben aufeinander abzustimmen.
Zeller: O.K., aber die soziale
Gerechtigkeit darf dabei nicht unter die Räder kommen. Es ist
doch keine Frage, das Geld ist vorhanden, um höhere
Sozialleistungen zu bezahlen und kinderreiche Familien besser zu
unterstützen.
Blickpunkt: Kann man gegen
eine gefühlte Ungerechtigkeit von Millionen von Menschen auf
Dauer Politik machen?
Schneider: Zumindest ist es
schwierig. Als ungerecht wird empfunden, wenn oben Manager
unverschämte Gehälter undAbfindungen kassieren und unten
Zehntausende Beschäftigte rausgeschmissen werden. Die Politik
ist hier aber nur beschränkt handlungsfähig. Die SPD
schlägt vor, durch die Begrenzung steuerlicher
Abzugsfähigkeit solche Auswüchse zu begrenzen. Und mit
Hilfe von Mindestlöhnen wollen wir Untergrenzen einziehen und
für eine anständige Entlohnung sorgen. Aber richtig ist
eben auch, dass dauerhaft Preise und Löhne nicht von der
Politik, sondern vom Markt bestimmt werden. Um die Chancen vieler
Menschen zu verbessern, müssen wir vor allem in Bildung und
Ausbildung investieren.
„Den Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, darf doch nicht
vom Geldbeutel abhängen.”
Inge Zeller
Zeller: Das ist sicherlich richtig.
In diesem Zusammenhang finde ich es zynisch, dass in der
Regelleistung für Bildung null Cent vorgesehen sind. Den
Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, ihnen eine sportliche oder
musische Erziehung zu ermöglichen, darf doch nicht vom
Geldbeutel abhängen. Ein Kind muss sich ausprobieren
dürfen. Auch das gehört zur Bildung dazu. Und es darf
nicht sein, dass nur gut situierte Eltern ihren Kindern
Nachhilfeunterricht geben können.
Blickpunkt: Frau Zeller, Sie
werden bald 50 Jahre. Was wünschen Sie sich?
Zeller: Ein Leben in gerechterem
Umfeld ohne Ausgrenzung und mit einer Zukunft für meine
Tochter und mich.
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Interview: Sönke Petersen
Erschienen am 13. August 2008
Zur Person:
Carsten Schneider, Jahrgang 1976,
ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2005 ist der
gelernte Bankkaufmann aus Erfurt haushaltspolitischer Sprecher der
SPD-Fraktion und Obmann im Haushaltsausschuss.
E-Mail:
carsten.schneider@bundestag.de
Website:
www.carsten-schneider.de
Inge Zeller, Jahrgang 1958, ist gelernte
Diplombetriebswirtin, seit drei Jahren arbeitslos und lebt von
Hartz-IV-Leistungen. Die Berlinerin engagiert sich im
Erwerbslosenausschuss der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft
(ver.di) und im Netzwerk gegen Armut und Ausgrenzung.
http://erwerbslose.berlin.verdi.de