Der deutsche Sozialstaat wirkt. Das ist auch die Kernaussage des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung. Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte, aber auch das Wohngeld sowie familienpolitische Leistungen wie das Kindergeld, der Kinderzuschlag oder das frühere Erziehungsgeld haben die Armutsrisikoquote im Jahr 2005 nach EU-SILC von 26 Prozent auf 13 Prozent halbiert.
Richtig ist, dass die Einkommensverteilung ungerechter geworden ist. Dabei stieg nicht nur das Risiko der Einkommensarmut insgesamt, sondern auch bei den Erwerbstätigen. Aber: Der Sozialstaat in Deutschland funktioniert. Durch Transferzahlungen und das Steuerrecht konnte die Ungleichheit bei den Markteinkommen korrigiert werden. In Europa konnte das Armutsrisiko neben den skandinavischen Staaten in Deutschland am stärksten reduziert werden.
In den letzten zehn Jahren sind fünf Millionen Bürger aus der Mittelschicht in die armutsgefährdete Schicht abgerutscht. Es ist falsch, wenn bei explodierenden Preisen nur dar ber geredet wird, dass die Hartz-IV-Sätze steigen müssen — aber niemand daran denkt, was das für ganz normal arbeitende Familien bedeutet. Und was nutzt ein Brutto-Mindestlohn, wenn der Staat durch Steuern und Abgaben netto davon immer weniger übrig lässt?
Es läuft falsch. Nach den im Anhang versteckten, sachlich
korrekten Angaben des 3. Armutsberichts stieg die Armutsquote von
1998 bis 2005 von zwölf Prozent auf 18 Prozent. Einkommen und
Vermögen werden immer ungerechter verteilt. Dies ist das
Resultat eines durch neoliberale Politik entfesselten Kapitalismus
und eines seit Jahren betriebenen Sozialabbaus, der seinen
vorläufigen Höhepunkt in der Agenda 2010 und Hartz IV
gefunden hat.
Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich schreitet ungehindert voran. Nicht nur die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Auch die Mittelschicht bricht weg. Immer mehr Menschen sind trotz Arbeit arm: Ein Drittel der Beschäftigten liegt unter der Niedriglohnschwelle. Von Armut besonders betroffen sind Kinder, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Arme Kinder haben weniger Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss.
Der Schlüssel zur Armutsvermeidung ist die Stärkung von Teilhabechancen durch mehr Bildung und Beschäftigung. Der nach wie vor enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen generell und von denen mit Migrationshintergrund im Besonderen ist eine nationale Herausforderung, der wir uns stellen.
Existenzsichernde Erwerbsarbeit ist der Schlüssel, um das Armutsrisiko zu minimieren. Um sicherzustellen, dass bei Vollzeitbeschäftigung der Lebensunterhalt aus eigener Kraft finanziert werden kann, ist ein gesetzlicher Mindestlohn notwendig. Um den Zugang zur Erwerbsarbeit zu ermöglichen, müssen gleiche Chancen für alle durch eine qualifizierte Kinderbetreuung und ein gerechtes Bildungssystem gegeben sein.
Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Das Risiko, arm zu werden, ist dann am größten, wenn die Bildungschancen schlecht sind. Deshalb muss Bildung wieder ein Bürgerrecht werden. Und: Die Mittelschicht darf nicht immer weiter belastet werden, sie muss endlich entlastet werden, denn sie erarbeitet, was andere so gerne verteilen möchten. Deshalb braucht Deutschland ein niedriges, einfaches und gerechtes Steuersystem.
Wir wollen die Ungerechtigkeit produzierenden gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Dazu bedarf es einer anderen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Stichworte hierzu sind: gerechte Steuerpolitik, aktive Beschäftigungsförderung, gesetzlicher Mindestlohn, Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung bei Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie Ablösung von Hartz IV durch eine armutsfeste Grundsicherung.
Für einen fairen Wettbewerb und gegen Lohndumping brauchen wir Mindestlöhne für alle. Damit mehr vom Brutto übrig bleibt, müssen die Sozialabgaben im Niedriglohnbereich reduziert werden. Hartz IV muss auf ein existenzsicherndes Niveau angehoben und an den Preisindex angepasst werden. Ein erweiterter Kinderzuschlag, bedarfsgerechte Hartz-IV-Leistungen und gezielte Förderung in Schule und Kindergarten verbessern die Chancen von armen Kindern.
Erschienen am 13. August 2008