der Alterspräsident des Deutschen Bundestages?
Am Anfang der Sitzung am 18. Oktober 2005 stand eine sehr persönliche, in einem Parlament eher ungewöhnliche Frage: "Ich bin nachweislich am 20. Juli 1932 geboren und darf fragen, ob ein Mitglied des Hauses unter uns ist, das mich an Alter übertrifft?" Mit diesen Worten wandte sich Otto Schily (SPD) vom Rednerpult an die über 600 Abgeordneten, die sich zur konstituierenden Sitzung des 16. Deutschen Bundestages im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes versammelt hatten. Da niemand die Frage bejahte, eröffnete der damals 73-Jährige als ältester Abgeordneter die Sitzung, hielt eine kurze Ansprache und leitete anschließend die Wahl des Bundestagspräsidenten.
Vor Schily hatten bereits 13 Abgeordnete den Altersvorsitz des Parlaments inne, manche über mehrere Legislaturperioden hinweg: Paul Löbe (SPD) war 1949 der erste Alterpräsident des Bundestages, es folgten Marie-Elisabeth Lüders (FDP) und Robert Pferdmenges (CDU/CSU). Spätere Alterspräsidenten waren Ludwig Erhard (CDU/CSU), Herbert Wehner (SPD) und Willy Brandt (SPD).
Die meisten von ihnen waren älter als 70 Jahre, als sie das Amt übernahmen.
Die Aufgaben des Alterspräsidenten sind in Paragraf 1 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) festgelegt. Dort heißt es: "In der ersten Sitzung des Bundestages führt das an Jahren älteste oder, wenn es ablehnt, das nächstälteste Mitglied des Bundestages den Vorsitz, bis der neugewählte Präsident oder einer seiner Stellvertreter das Amt übernimmt." Im folgenden Absatz 3 wird dieser Abgeordnete als "Alterspräsident" bezeichnet. Er kann somit als vorläufiges Leitungsorgan den Parlaments angesehen werden.
Während der ersten Sitzung des neuen Bundestages - spätestens 30 Tage nach seiner Wahl - hat der Alterspräsident insbesondere die Aufgabe, die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter vorzubereiten und durchzuführen. Er darf hierfür auch vorläufige Schriftführer ernennen.
Darüber hinaus haben es sich die bisherigen Alterspräsidenten des Bundestages nicht nehmen lassen, vor dem Plenum eine Eröffnungsrede zu halten.
Die kürzeste Rede hielt zweifellos Konrad Adenauer, der die Abgeordneten 1965 in nur drei Sätzen auf die bevorstehenden "schweren Zeiten" einschwor und seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, die Mitglieder des Hauses würden sich der "Gemeinsamkeit ihrer Verpflichtungen" bewusst sein.
Am 7. September 1949 eröffnete der Sozialdemokrat Paul Löbe die erste Sitzung des neuen, frei gewählten Bundestages in Bonn und erinnerte in seiner von lebhaftem Beifall begleiteten, ausführlichen Rede an die Opfer des Krieges, die unzähligen Heimatvertriebenen und Kriegsgefangenen und die große Unterstützung des Auslands nach 1945. Löbe rief den Abgeordneten die letzte Sitzung des Deutschen Reichstags in der Berliner Krolloper ins Gedächtnis, bei der die Mehrheit des Parlaments dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten und damit der eigenen Entmachtung zugestimmt hatte.
Ein immer wieder kehrendes Thema in den Eröffnungsansprachen der Alterspräsidenten war in den ersten drei Jahrzehnten der jungen Republik auch der Aufruf zur Einheit Deutschlands. Marie-Elisabeth Lüders (FDP) bezeichnete die Wiedervereinigung in ihrer Rede am 15. Oktober 1957 als "unser aller höchstes Ziel". Ludwig Erhard (CDU/CSU) betonte 1972, der "Gedanke von der Einheit des Volkes und unserer Nation" sei "die unverlierbare Grundlage unseres Handelns, die Erfüllung unseres Verfassungsauftrages". Am 29. März 1983 war es Willy Brandt (SPD), der den Abgeordneten den Rat mit in die neue Legislatur gab, weiter daran zu arbeiten, "dass die beiden deutschen Staaten sich nicht unnötig auseinanderentwickeln, sondern ihre Beziehungen zueinander produktiv gestalten."
Für besondere Diskussionen sorgte zu Beginn der 13. Wahlperiode der für die PDS in den Bundestag gewählte Abgeordnete und Schriftsteller Stefan Heym, der -Jahrgang 1913 - klarer Anwärter für das Amt des Alterspräsidenten war. Über ihn waren kurz vor der Bundestagswahl Unterlagen aufgetaucht, die eine Mitarbeit bei der Staatssicherheit der DDR nahe legten.
In seiner Rede am 10. November 1994 ging Heym auf die tagelange Kontroverse nicht ein, appellierte aber an die Abgeordneten , "mit gegenseitiger Toleranz und gegenseitigem Verständnis unsere unterschiedlichen Gedanken in der Zukunft einander anzunähern".
Mit der Konstituierung des Bundestages und der Wahl des Bundestagspräsidenten verliert der Alterspräsident weitgehend seine Funktion. In der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist unter § 8 lediglich festgelegt, dass der Alterspräsident die Sitzungsleitung übernimmt, wenn der Bundestagspräsident und alle seine Stellvertreter gleichzeitig verhindert sind.
Zu einer solchen Situation kam es in der Geschichte des Bundestages bisher nur einmal. An diesem 18. April 1958 war jedoch auch Alterspräsidentin Lüders nicht anwesend, um Präsident Eugen Gerstenmaier (CDU/CSU) abzulösen - sie weilte auf Kur. Gerstenmeier beauftragte daraufhin den Abgeordneten Kurt Pohle (SPD) mit der Sitzungsleitung. Er hatte dem Bundestag seit 1949 angehört und bis dahin noch niemals präsidiert.