Nach der parlamentarischen Sommerpause haben die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages im September 2001 ihre Arbeit im
Paul-Löbe-Haus aufgenommen. In diesem Neubau, gestaltet von
dem Münchner Architekten Stephan Braunfels, sind die
Sitzungssäle der parlamentarischen Ausschüsse und die
Arbeitsräume von deren Sekretariaten sowie das Besucherzentrum
mit seinen Seminarräumen untergebracht. Das
Paul-Löbe-Haus fügt sich linear in das sogenannte "Band
des Bundes" ein und vollzieht mit dem sich anschließenden
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus den "Spreesprung", durch diese
architektonische Geste die Wiedervereinigung Berlins
symbolisierend.
Von der Ostfassade des Gebäudes an dieser Stelle des
"Spreesprungs" werden zwei je 10 Meter hohe Neonlichtskulpturen
weithin über die Spree leuchten. Dieses Projekt des Leipziger
Künstlers Neo Rauch hatte in einem Kunstwettbewerb, den der
Kunstbeirat des Deutschen Bundestages ausgeschrieben hatte, dessen
Zustimmung gefunden. Neo Rauchs Leuchtskulpturen sind Teil eines
ambitionierten Kunst-am-Bau-Programms, das für alle drei
Parlamentsbauten im Spreebogenbereich entwickelt wurde. Als
Kunstsachverständige standen dem Kunstbeirat für das
Paul-Löbe-Haus und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus Prof.
Dr. Klaus Werner aus Leipzig und Prof. Dr. Armin Zweite aus
Düsseldorf zur Seite.
Die zwei Leuchtskulpturen sind auf jeweils einer Außenwand
angebracht, so einander gegenübergestellt, doch durch eine
Glaswand getrennt. Sie stellen einen Mann auf einer Leiter in
leicht variierter Haltung dar. So vertraut und realistisch die
beiden Figuren wirken, so geheimnisvoll bleibt ihr Tun: Die eine
scheint, fast wie ein Gärtner, nach einer, allerdings nicht
sichtbaren Baumfrucht zu greifen. Die andere wiederum winkt
offenkundig Personen, die ebenfalls unsichtbar bleiben, freundlich
zu. Es sind Figuren aus einer Geschichte, die nur sie alleine
kennen und deren Geheimnis sie nicht enthüllen.
Geschickt hat es der Maler Neo Rauch vermocht, die Stimmung
seiner Gemälde, die von einer vergleichbaren geheimnisvollen
Aura erfüllt sind, in das ungewöhnliche Medium einer
monumentalen Leuchtskulptur zu übertragen. Der Betrachter wird
in den Bann eines Geheimnisses gezogen, ihm eröffnen sich
Anspielungen auf eine Hortikultur wie auf die Kultur des
demokratischen Gemeinwesens, auf die Gesten eines Redners oder
eines Menschen, der nach hohen Zielen greift. Aber auch ohne ihr
Geheimnis preiszugeben, werden die Männer auf der Leiter die
Spaziergänger entlang der Spree in Zukunft von der Fassade des
Paul-Löbe-Hauses herab freundlich über den Fluß hin
grüßen und im Parlamentsviertel willkommen
heißen.
Die Werke Rauchs charakterisiert eine komplexe Bildsprache. Die Motive seiner Gemälde erscheinen wie eine unwirkliche Mischung aus ehemaliger DDR-Werbung und amerikanischen Comicstrips. Die Pop-Art der 60er ebenso wie die Gebrauchsgrafik der 50er Jahre liegen nahe. Die Bilder Rauchs wirken bekannt und überraschend zugleich. Die realistischen Elemente erscheinen beinahe greifbar, in ihrer Kombination entziehen sie sich jedoch jeder Eindeutigkeit. Neo Rauch wurde 1960 in Leipzig geboren. An der dortigen Hochschule für Grafik und Design schloss er 1990 sein Studium als Meisterschüler Bernhard Heisigs ab. Bis heute lebt der Künstler in seiner Heimatstadt. Sein Atelier liegt in einer ehemaligen Spinnerei. Rauch konzentriert sich auf die Malerei und zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern Deutschlands.
Text: Andreas Kaernbach,
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages